"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ängste, Perspektiven -

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Kürzlich sah ich in der «heute-Show» des ZDF einen Ausschnitt aus einer Pegida-Demonstration, ich glaube gar, es war ein Teil einer Rede von Bachmann, jedenfalls sagte der Herr Redner, und er weinte fast dabei: «Der Afghane, der bei uns Asyl sucht, der hat ja immer noch seine Heimat Afgha­nistan. Der Syrer, der zu uns flüchtet, hat ja immer noch sein Syrien. Aber wir Deutsche, wenn wir unsere Heimat verlieren, dann haben wir gar nichts mehr!»
Audio
09:52 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.10.2015 / 10:13

Dateizugriffe: 946

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 20.10.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und er meinte damit natür­lich: Wenn die deutsche Heimat der deutschen Deutschen durch die Zuwanderer aufgeweicht, ver­formt, untergraben und zerstört wird, dann haben die deutschen Deutschen gar nichts mehr.

Aus neutraler Sicht wirkt so was ungefähr gleich strunzdumm wie das ganze Gebrunze des Führers und Anstreichers von Deutschland vor achtzig Jahren, und wir erinnern uns auch in der Schweiz, dass das Gebrunze strunzdumm oder noch dümmer gewesen sein mag, es reichte doch aus, um die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung 12 Jahre lang bei der Stange zu halten und sie in einen Krieg zu schicken, welcher den Heimat-Begriff auf der ganzen Welt ganz im Sinne von Lutz Bachmann auf die Probe stellte, während für die jüdischen Menschen eine Alternative mit dem Namen Aus­rot­tung und Massenvernichtung bereit gehalten wurde.

Nun ist Lutz Bachmann kein Führer und Anstreicher, sondern nur ein normaler rechter oder meinet­wegen rechtsextremer Nationalist, und bei den Pegida-Demonstranten im Elbtal und anderswo han­delt es sich in der großen Mehrheit nicht um Nationalsozialisten, welche einen Weltkrieg anzetteln und, in Ermangelung von Jüdinnen und Juden, irgend eine andere kleinere oder größere Minderheit ausrotten wollen. Der Nationalsozialismus ist ein Teil der Geschichte, der unrettbar untergegangen ist, zusammen mit den wirtschaftlichen und sozialen und politischen Verhältnissen nach dem Ers­ten Weltkrieg; wer hier ernsthaft aktive Folgelinien zieht in die Gegenwart, der sollte sich in ärzt­liche Behandlung begeben. Die Fremdenfeindlichkeit, der Nationalismus und ganz offensichtlich die Furcht davor, irgendwelche nicht besonders klar umrissene Teile und Möglichkeiten seiner Existenz zu verlieren, welche dann unter dem Generalbegriff «Heimat» zusammengefasst werden, das ist aktuell und sollte nicht unter dem Gesichtspunkt von Neofaschismus betrachtet werden.

Es ist eine Tatsache, dass sich eine ganze Wolke von diffusen Befürchtungen rund um einen Be­wusst­seins­zustand mit dem Namen Heimat gebildet hat oder vielleicht genau anders rum. Ausgerechnet an der Schwelle zur vollautomatischen Versorgung der Gesellschaft mit sämtlichen Gütern, ja schon jenseits dieser Schwelle werden die Menschen von atavistischen Ängsten geschüttelt. Ganz neu sind sie ja nicht, diese Alpträume; im Osten Deutschland musste man sich in den letzten 25 Jahren nacheinander zuerst vor dem Westen fürchten – die Westdeutschen kommen! –, dann vor den Polen – die Polen kommen! –, dann beziehungsweise immer wieder vor den Russen – der Russe kommt! –, dann vor den Jugoslawen, vor den Schwarzen und jetzt eben vor den Syrerinnen und Afghanen. Man hat den Eindruck, dass man sich im Elbtal unterdessen fühlt wie unter einem Staudamm, der zu bersten droht. Zu all dem gesellen sich noch weitere, weniger deutliche Befürchtungen, vor allem der ökonomischen Art beziehungsweise aus dem Bereich der kapitalistischen Lebensgestaltung: Wo sind, wo bleiben jene Arbeitsplätze, welche der Region mittel- und langfristig das Überleben sichern? – Wirklich: Auf einer bestimmten Bewusstseins­ebene japsen ansehnliche Bevölkerungsteile nach Luft wie Nichtschwimmer, die man gerade von der Mole gestoßen hat.

Nun sind solche Befürchtungen nicht völlig unverständlich, sie zeigen zunächst, dass man tat­säch­lich etwas zu verlieren hat, und zwar die breite Masse der Bevölkerung, und positiv ausgedrückt kann man auch sagen, dass die breite Masse der Bevölkerung einen gewissen Lebensstandard hat, auf den sie nicht mehr verzichten möchte. Das ist ja auch in Ordnung; absurd erscheint die Angst trotzdem, weil die wirtschaftlichen Grundlagen keinerlei Anlass dazu bieten. Weder Deutschland noch die EU noch Europa oder überhaupt die Welt wird untergehen oder auch nur Einbußen beim Lebensstandard hinnehmen müssen wegen der Flüchtlinge, auch wenn nochmals so viele kommen wie jetzt schon. Eine Bedrohung der kulturellen Identität Deutschlands entsteht daraus dann vielleicht doch, aber höchstens insofern, als gewisse Bevölkerungsgruppen im deutschen Deutsch­land plötzlich meinen, ihre eigene kulturelle Identität sei eben die deutsche. Davor möchte ich nun doch eindringlich warnen. In jeder Gesellschaft bilden sich gewisse Regeln des Zusammenlebens und im Umgang miteinander aus, abgesehen von den Institutionen, die man sich so modern und natürlich weltoffen wie möglich erhoffen möchte; aber die Verhaltensformen oder eben die Gesamtheit dieser Kulturgüter unterliegt immer und per Definition einem stetigen Wandel, sodass man recht eigentlich sagen kann: Undeutsch ist nur, wer darauf beharrt, deutsch zu sein. Zur Erinnerung: Es gibt keine deutschen Grundwerte; es gibt nur allgemein menschliche Grundwerte, und darauf aufgesetzt mögen dann ein paar deutsche Eigenarten wie Grummeln, Rollmöpse oder Sauerkohl als typisch deutsch erscheinen, aber im Grunde genommen sind sie es ebenso wenig wie Pizza und Schaschlik.

Immerhin ist bei alledem bekannt, dass es in der Geschichte immer wieder Phasen gegeben hat, in welchen sich die Menschen nicht so sehr von ihren Ängsten leiten ließen als vielmehr von ihren Hoffnungen und Perspektiven. Und davon habt ihr, geschätzte Hörerinnen und Hörer, ebenso viele wie alle anderen Menschen auf der ganzen runden Welt. Ihr solltet euch, ebenso wie die anderen Länder Europas, von der Flüchtlingsfrage nicht paralysieren lassen. Die Zehntausenden von Hilfe Suchenden zeigen uns zum einen deutlich auf, wie privilegiert wir im Vergleich zu anderen Län­dern und Weltregionen sind; zum anderen muss man ihre Integration und Versorgung selbst­ver­ständlich an die Hand nehmen und so gut und schnell wie möglich erledigen. Drittens wissen alle, dass die Europäische Union nicht alle BewohnerInnen Afrikas aufnehmen kann, auch wenn dies aus ihrer Sicht die einfachste und somit auch ökonomisch rationalste Form darstellt, um einen Platz an der Sonne zu gewinnen. Aber es geht einfach nicht. Da wir nun aber einmal in der nötigen Deutlichkeit gesehen haben, dass der Druck auf die entwickelten Länder massive Ausmaße annimmt, wenn man in den Herkunftsländern nichts ändert, kann die Einsicht nur lauten, dass wir in Zukunft viel mehr tun müssen, um die katastrophalen Strukturen, die Korruption, die mittelalterlichen Zustände in Afrika zu beseitigen. Ich fürchte, dass Europa den Mut zu einem neuen Kolonialismus aufbringen muss; und insofern sind sogar alle Vorwürfe an die Adresse von postkolonialen Ländern wie Frankreich und von postkolonialen Unternehmen wie Vincent Bolloré zu relativieren: Die tun wenigstens etwas, die sind wenigstens noch um produktive Optionen bemüht in den ehemaligen Kolonien, im Gegensatz zu den unterdessen seit 50 Jahren unabhängigen Nationen, in welchen die Eliten keinerlei moralischen Grundsätzen folgen, sondern nur dem Gesetz der eigenen Taschen und der Clan-Wirtschaft, wie sie in Sizilien unter dem Namen Mafia bekannt geworden ist.

Die europäische Union oder ihre Mitgliedstaaten haben verschiedene Möglichkeiten, um ihre Handels- und Zusammenarbeitspolitik mit den Ländern Afrikas an massive Auflagen zu knüpfen, die sich auch kontrollieren lassen. Mit den Auflagen verbunden muss aber auch eine massive Anstrengung sein, die Infrastrukturen auf sämtlichen Ebenen zu verbessern, also bei den Verkehrswegen ebenso wie bei den Institutionen. Nur wenn dies innerhalb von vernünftiger Zeit gelingt, nimmt der Druck auf die Länder im Norden ab. Das Ziel ergibt sich ganz von selber: Alle Menschen auf der ganzen Welt müssen ungehinderten, wo nicht sogar ungebremsten Zugang zu den Früchten des Wachstums haben. Das ist die logische, unausweichliche Folgerung, wenn man etwas gegen die Migration unternehmen will. Über Deutschtümelei dagegen kann man vor diesem Hintergrund nur lachen.

Ich weise bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass solche massiven Anstrengungen durchaus nicht den kleinen Wohlstand der Durchschnittsbürgerinnen und -bürger beeinträchtigen müssen. Sie bieten im Gegenteil genau das, was man in letzter Zeit immer wieder gewaltig vermisst hat, nämlich die erwähnten Optionen und Perspektiven. Wenn die entwickelten Länder im Ernst damit beginnen, die massive Entwicklung der Dritten Welt zu ihrem Gegenstand zu machen, und zwar auf jeder Ebene, dann profitieren auch die entwickelten Ländern davon wie Anton, zum Beispiel durch die Bereitstellung von all dem Know-how, das bei uns ganz selbstverständlich ist. An solchen Anstrengungen können alle teilhaben. Auf der anderen Seite winken aber auch neue Einsichten, eine Erweiterung der Pupillen, sozusagen, durch die Kontakte mit fremden Menschen und Kulturen, wenn diese Kontakte nicht unter dem Druck von Krieg und wirtschaftlicher Not hergestellt werden, sondern im Rahmen einer globalen Entwicklungskampagne, an welcher sich eben alle Menschen im reichen Norden so kräftig wie möglich beteiligen sollen.

Bis es soweit ist, müssen wir uns allerdings fragen, ob die diffusen Existenzängste in ihrer nationa­listischen Erscheinungsform ein politisches Problem über die pure Dummheit hinaus bilden können, ob also tatsächlich der nationalistische Rost innerhalb von kürzerer Zeit auch an die Substanz der ganzen Gesellschaft gehen wird. Im Moment weist alles darauf hin. Anderseits ist eine vollständige Renaissance des Nationalstaates kaum denkbar. Drittens bleibt die ideologische Verharkung in die Konstrukte und Institutionen des Nationalstaates ein Rätsel. Wofür wurde die europäische Wirt­schafts- und Währungsunion jetzt nochmals gegründet? – All dies und auch die Herleitung verschiedener anderer Dinge bis hin zu den grundlegenden Fragen der Menschheit scheinen im Moment auf eigenartige Weise in Vergessenheit zu geraten. Müssen wir wirklich wieder ganz von vorn beginnen?

Kommentare
23.10.2015 / 09:38 Dieter, Radio Unerhört Marburg (RUM)
am 23.10. in der Frühschicht zum Wochenende gesendet
Vielen Dank!