"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Fragen der Öffentlichen Meinung -

ID 73829
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
In diesen Tagen ist die Sicht etwas getrübt, nicht nur in der neutralen Schweiz, sondern insgesamt. Man weiß grad nicht so recht, worüber man spotten soll, und zwar durchaus nicht deswegen, weil es im Moment schwer fällt zu lachen – das wäre eher ein Argument für ein paar bissige Kommentare...


Audio
10:33 min, 9887 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.11.2015 / 14:53

Dateizugriffe: 21

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.11.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aber der Punkt ist der, dass sich in den letzten Wochen die Gewichte verschoben haben, und sol­chen Verlagerungen begegnet man vorzugsweise nicht mit Pointen, welche sich aus einem etablier­ten System von Werten und Beurteilungen ergeben, sondern mit dem Versuch, die Ver­schie­bungen mindestens als das zu erkennen, was sie sind. Da sind zunächst die Terror­drohungen der Jihadisten, welche uns ja keineswegs etwa den Islam schmackhaft machen wollen; vielmehr bilden die Atten­tate so etwas wie ein Kaisermanöver für die Sicherheitskräfte im Westen, welche nun fast voll­stän­dig freie Hand erhalten; all die Auseinandersetzungen über Geheimdienste, Abhörskandale und ähnliche Themen haben im Moment jegliche Bedeutung verloren, die Breit­band-Überwachung erscheint mit dem Auftritt der Islamisten als eine der natürlichen Existenzbedingungen des modernen Staates. Wenn man sich vergegenwärtigt, was diese Mörderknaben sonst noch alles anstellen könnten beziehungsweise was sie bisher noch gar nicht getan haben, dann kann es einem erst recht schwindlig werden, denn die Existenzbedingung der modernen Gesellschaft ist viel umfassender anfällig als mit den Mitteln des Sprengstoffes und der Gewehrkugeln. Sollte der Islamische Staat mal ein paar richtig potente Informatiker rekrutieren, dann würden wir nicht mehr von 150 Toten in Paris sprechen, sondern dann wären wir in den Bereich der Systemrisiken vorgestoßen. Auf dieser Ebene steht das Funktionieren der Infrastruktur, der Verteilung, der Produktion, kurz, alles zur Disposition. Man ist versucht, von Rückfall-Szenarien zu sprechen, also von Maßnahmen, welche es erlauben, bei einem Ausfall der wichtigen Informatik- und Informationskanäle ein paralleles, rudimentäres Netz mit lebensnotwendigen Funktionen in Betrieb zu nehmen, von der Kommunikation bis zur Versorgung mit einwandfreien Lebensmitteln und Getränken. Von Angriffen auf diesen Typ an Infrastrukturen war bisher noch wenig die Rede, um keine Panik aufkommen zu lassen, aber von der Geisteshaltung der Anschläger lässt sich bisher nicht ableiten, dass sie von so etwas Abstand nehmen täten, auch wenn sie zufällig die Mittel dafür in der Hand hätten.

Von da her gesehen sind Bombendrohungen zwar misslich und schrecklich, aber die Auswirkungen tatsächlicher Attentate halten sich in engen Grenzen und betreffen, abgesehen von den Opfern, in erster Linie die Stimmungs­lage der Öffentlichkeit. Das ist auch eine Macht, zumal in demo­kra­ti­schen Systemen, auch wenn es sich nur um Schauspiele von Demokratien handelt, beziehungsweise: Gerade weil es sich um Schauspiele von Demokratien handelt, ist die Stimmung im Publikum so wichtig für die nächsten Vorstellungen und für die Programmierung insgesamt. Aber die Macht der Öffentlichkeit ist gegenwärtig vor allem eine umfassende Ohnmacht; die öffentliche Meinung hat nicht ein einziges Instrument zur Hand, um konkret zu reagieren oder um nur schon eine konkrete Reaktion auf die verdeckten Attentate zu fordern. Und das ist ein interessantes Merkmal: nicht so sehr das Ohnmachtgefühl der Einzelnen gegenüber den Amokläufern, das wohl am ehesten darin seine Form findet, dass man sich am liebsten selber eine Kalaschnikow erwerben täte, eine für alle Fälle, sozusagen, was sowieso ziemlicher Quatsch ist; aber eben, nicht das ist das Interessante, sondern dass wir sonst das Gefühl haben, wir hätten höchstpersönlich alles im Griff, und das ist das Neue an der aktuellen Situation: Zum ersten Mal seit langer Zeit sind wir dieses Gefühls verlustig gegangen. Und so tut die öffentliche Meinung das, was sie ohnehin am besten kann, sie lässt sich aufschäumen zu einer recht ansehnlichen Größe, die vorderhand mehr oder weniger jede beliebige Gestalt annehmen kann, je nachdem, wie man sie polarisieren und leiten kann, wobei die Gesetze der Formgebung der öffentlichen Meinung in solchen heißen Zeiten sicher nicht dem entsprechen, was man normalerweise an den Fachhochschulen über Kommunikation und so weiter lehrt und lernt.

Hier greift der zweite Faktor, welcher gegenwärtig erneut weniger unsere Realitäten als unsere Vor­stel­lun­gen davon zum Wanken bringt: die Flüchtlingswelle oder der Flüchtlingsstrom, die ansonsten mindestens im Moment mit den islamistischen Attentätern praktisch keine Parallelen aufweist, einmal abgesehen vom Epizentrum Syrien. Die Flüchtlingswelle richtet sich allerdings nicht gegen die bestehenden Infrastrukturen, ganz im Gegenteil, sie baut fest darauf, dass diese Infrastrukturen Bestand haben und auch unter Belastung funktionieren, und in der Praxis ist nicht einzusehen, weshalb dies nicht der Fall sein sollte, trotz all dem Politiktheater, das drum rum ver­an­stal­tet wird. Ein Verteilschlüssel und eine halbwegs vernünftige Aufteilung auf größere Zentren zum einen, kleinräumigere Zuweisungen für kleine Einheiten zum anderen sowie der Einsatz, sagen wir mal trotz allen Vorbehalten: von einigen Microsoft-Office-Programmen zur Registrierung bzw. Ab­klä­rung der Asylanträge, das lässt sich tatsächlich ohne weiteres schaffen, hier hat Eure Frau Bundeskanzlerin vollständig recht. In Kombination mit Verhandlungen auf EU-Ebene über einen Meta-Verteilschlüssel und mit der Türkei bezüglich der Erstaufnahme der anhaltenden Ströme von Kriegs­flüchtlingen, inklusive der dazu gehörigen Finanzmittel, sowie mit der Schaffung einer anständigen und ordentlichen Anti-IS-Allianz an­stel­le der bisherigen Anti-Assad-Allianz werden sich auch die Ursachen der aktuellen Flüchtlings-Epi­demie relativ schnell beheben lassen; ich gebe dem Islamischen Staat keine sechs Monate vom Datum der Gründung dieser Allianz an. Die Aufräumarbeiten und die politischen Nachbeben in der Region werden sich dann noch etwas hinziehen, aber die Gegenbewegung der Menschen zurück in ihre Heimat setzt dann sehr schnell ein, und zu diesem Zeitpunkt werden sich einige Menschen gerne daran erinnern, dass sie weder dem bayrischen Ministerpräsidenten noch der Allianz für Deutsch­land nachgekrochen sind, und ein paar werden sich schämen, dass sie’s doch getan haben, und die meisten werden sich gar nicht dran erinnern, dass sie sich eine Zeitlang in echte Natio­na­lis­ten und Rassisten verwandelt haben. Das ist so eine Eigenart des modernen Menschen, und auch das ist eine interessante Erkenntnis.

Das sind die Aussichten, aber bis diese zu Einsichten werden, dauert es noch ein paar Tage, und vorderhand steht die Öffentlichkeit unter dem Eindruck, es brächen gleich zwei Grundpfeiler des gesellschaftlichen Zusammenlebens ein, als sei jenes «Wir», unter dem wir bereit sind, die Wider­sprüche unserer eigenen Gesellschaftsformation zu akzeptieren, mit einemmal fadenscheinig geworden. Die allgemeine Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, an welche wir uns auch bei unseren Verteilkämpfen doch gewohnt haben, kann offensichtlich nicht mehr garantiert werden, und die Flüchtlinge scheinen die knappen Finanzmittel, um welche es bei den Verteilkämpfen geht, derart zu strapazieren, dass alles den Bach runter geht, und der Ruf beziehungsweise die Kritik ist jetzt schon absehbar, dass es wiederum die Armen und Schwachen sein werden, welche die gesamte Rechnung zu bezahlen haben. Aus neutraler Sicht kann ich an dieser Stelle Entwarnung geben: Von den Ressourcen her stellen die MigrantInnen für die europäische Staatenwelt und für die be­ste­henden Transfersysteme keine Bedrohung dar, auch wenn sich der eine oder andere Staat für ein Mal um ein Prozent der laufenden Rechnung stärker verschulden müsste – da haben diese Staaten ja schon ausreichend Erfahrung damit gesammelt, und nicht immer zugunsten der ärmeren und schwächeren Bevölkerungsteile, sodass es nichts als gerecht wäre, wenn auch diese einmal an der Reihe wären. Das ist also nicht das Problem, sondern hier liegt sogar die einmalige Chance, dass man in außerordentlichen Zeiten auch außerordentliche Lösungen finden muss und kann, eben: dass man den ärmeren und schwä­che­ren Mitgliedern der Gesellschaft stärker unter die Arme greift als bisher und dass man auch die offen vorliegenden Ergebnisse der Sozialforschung stärker in die Sozialarbeit einbaut. – Ich spreche hier nicht von den Flüchtlingen; für sie bestehen aus logischen und praktischen Gründen eigene Systeme, nicht nur zur Registrierung, sondern auch für die Unter­brin­gung und anschließend für die Verpflegung und im Fall der Genehmigung der Asylgesuche für die Integration in die Gesellschaft.

Soweit erscheint die Sache einigermaßen klar, aber der Volkskörper bildet sich dazu unter dem Einfluss der starken neuen Phänomene natürlich eine ganz eigene Volksmeinung. Und hier bitte ich um etwas Nachsicht. Eine derart massive Erschütterung führt zunächst ganz natürlich zu Un­si­cher­heit, und in solchen Phasen greift man zurück auf das, was an Reaktionsmöglichkeiten halt gerade bereit liegt, und da haben wir im Moment eher den Nationalismus, wenn’s hoch kommt sogar die völkischen NationalistInnen, während eine linke Position noch nicht so richtig formuliert ist, ebenso wenig eine sozialdemokratische oder eine bürgerliche, mindestens jenseits gewisser Grundsätze gemäß der Verfassung, was im Moment nicht besonders hilfreich ist – allerdings auch nicht unterschätzt werden sollte. Solche Verfassungen sind manchmal ganz interessant. Aber eben, sie wirken nicht immer spektakulär und direkt auf die öffentliche Meinung, welche gewisse Panik­at­tac­ken durchaus aufsaugt. Das heißt aber nicht, dass die Bevölkerung insgesamt sich in ein rechts­ex­tremes Pack zu verwandeln droht oder dass wir gar am Vorabend der Machtergreifung der Neonazis stünden. Ich bin überzeugt, dass die Gesellschaft in Deutschland wie in anderen Ländern Europas diese Belastungsprobe bestehen wird und dass die Institutionen in der Lage sein werden, normale Lösungen zu entwickeln. Die weiteren Entwicklungen des Schaumgebildes öffentliche Meinung hängen dann aber stark davon ab, wie weit die bestehenden politischen Kräfte in der Lage sein werden, Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten anzubieten und die Lage neu zu bewerten.

Dazu wird dann auch noch der andere Aspekt gehörten, nämlich die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nicht-Inhalt, welchen die islamistischen Ballermänner im Internet präsentieren und mit dem sie offenbar durchaus Erfolg haben bei gewissen hoffnungsvollen Jugendlichen aus der zweiten Generation von Einwanderern aus arabischen oder moslemischen Staaten. An der Oberfläche bietet der Isis ja in erster Linie ein reines Pimmel-Programm an, Vergewaltigungen von Ungläubigen Huren, Verhüllung bzw. Sackhüpfen von Frauen und so weiter und so fort. Unten aber befindet sich eine Schicht, welche aus echter Verheißung besteht, aus einem Idealismus und einer Vorfreude, welche so mächtig ist, dass zahlreiche Jungs und auch Mädels dafür mit Selbstverständlichkeit und Begeisterung in den Tod gehen. Darüber müssen wir dann doch noch etwas eingehender diskutieren.


Kommentare
25.11.2015 / 08:49 RDL, Radio Dreyeckland, Freiburg
gesendet im MoRa
vielen Dank!