"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Tausend Jahre alt werden

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Die Römer spinnen, sagt Obelix, und damit hat er wohl Recht, aber es gibt auch noch ein paar andere Vögel, die im Kopf nicht richtig ticken, oder vielmehr: die in der Öffentlichkeit dergleichen tun, als würden sie nicht richtig ticken, zum Beispiel Donald Trump mit seiner Wahl-Show; ich kann mir nicht vorstellen, dass der tatsächlich alles glaubt, was er selber erzählt, sonst müsste er ja immer alles und gleichzeitig das Gegenteil von allem glauben, da er eben alles und das Gegenteil von allem in bunter Mischung erzählt, bis auf den einen Punkt, dass er, weil er ein Milliardär ist, tatsächlich unabhängig ist von den Milliarden anderer Milliardäre, da hat er wohl recht, sofern er tatsächlich ein Milliardär ist.
Audio
10:38 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.02.2016 / 13:32

Dateizugriffe: 594

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.02.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aus Gründen der aktiven Nostalgie habe ich zusätzlich zu meinem bestehenden Zeitungs­abonne­ment noch ein Probeabonnement der Neuen Zürcher Zeitung gelöst; schließlich muss man die Blätter noch lesen, solange es sie überhaupt noch gibt in der gedruckten Form, und, meiner Treu, ich habe mich schon vor Jahren daran gewohnt, dass in einer Zeitung jeden Morgen zwischen, sagen wir mal 7.40 Uhr und 8.10 Uhr die ganze Welt einen kleinen Auftritt hat auf meinem Küchentisch, eben von Donald Trump über Obelix bis hin zu den jüngsten Perspektiven der Wissenschaft, ich finde das fabulos, auch deshalb, weil es zusammen gehalten wird durch die Zeitungsbünde, während in absehbarer Zukunft und in der nurmehr digitalen Form das Interesse der LeserInnen sich nur noch auf die News-Seiten erstrecken wird, die anderen Informationen, die in der aktuellen Form sozusagen als Goodies anfallen, bleiben dann im Internet stecken.

Na gut, so schlimm wird’s wohl nicht werden, vermutlich haben schon die aktuellen Zeitungs­lese­rin­nen nicht jedem Wirtschafts- und Wissenschaftsbericht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wie den People-Seiten, aber sei’s drum, ich habe, wie gesagt, in vorauseilender Nostalgie nochmals die NZZ getestet, und neben der Feststellung, dass es sich hier tatsächlich um eine der nach wie vor am breitesten aufgestellten Zeitungen handelt, erschreckt mich auch die Tatsache, dass es sich bei der politischen Redaktion um die nach wie vor behämmertste Clique von vermeintlich ordoliberalen Menschen mit einem vermeintlich ordoliberalen Brett vor dem Kopf handelt. Die haben sich zum Beispiel in den letzten Tagen zur Gewohnheit gemacht, den Mitbewerber um die demokratische Präsidentschaftskandidatur in den Vereinigten Staaten, Bernie Sanders, auf die gleiche Stufe zu stellen wie Donald Trump. Solch eine Form der ideologischen Verblendung trifft man sonst nur bei Menschen innerhalb der republikanischen Partei oder bei der Tea Party. Bernie Sanders ist nichts anderes als ein gestandener Sozialdemokrat, vielleicht etwas linker als Angela Merkel, aber ansonsten fest und zuverlässig auf dem Boden der Realitäten und ein echter Anhänger der vernünftigen Argumentation, und die NZZ-Politredaktion vermag dies einfach nicht wahr­zu­nehmen, weil sich Sanders für eine höhere Besteuerung der Reichen einsetzt. Das ist ziemlich spektakulär zu einem Zeitpunkt, da die neuesten Zahlen zur globalen Vermögenskonzentration gar keine andere Alternative als gründliche Steuererhöhungen für die reichen und reichsten Säcke erlauben. Aber diese Feststellung übersteigt nun mal den Horizont beziehungsweise das ideologische Credo dieser ansonsten wie gesagt durchaus breit aufgestellten Zeitung. Ich muss das Abonnement wieder kündigen, ich kriege von solchen absichtlichen Dummheiten immer Kopfweh, und ein Aspirin bringt mir die Zeitungsverträgerin am Morgen noch nicht vorbei.

Immerhin ist es mit Sanders so eine Sache. Ich frage mich, welcher Schalk den Zeitgeist geritten hat, dass er im englischsprachigen Raum zwei alte Kobolde in die Führungsriege der sozialdemokratischen Parteien gespült hat, in den Vereinigten Staaten ausgerechnet den einzigen bekennenden Sozialisten Bernie Sanders und in Großbritannien Jeremy Corbin, der seit bald einem halben Jahr versucht, die Labor-Partei vom Blair-Kurs abzubringen, ohne den Blair-Flügel gänzlich zu verlieren. Dass dieses Unterfangen nicht unter einem guten Stern steht, braucht wohl keine weiteren Erklärungen, es sei denn, dass die Engländerinnen und Engländer irgendwann mal doch noch vom Furor gepackt werden und die auf ihren Rebekkah-Brooke-Ross reitenden Vertreter der Murdoch-Familie und ihrer Parteien ins Meer scheuchen, aber danach sieht es im Moment überhaupt nicht aus. Also bleibt die Frage, was gerade junge Menschen in diesen alten Kämpfern sehen; ich fürchte, der doch erhebliche Zulauf gründet in erster Linie darauf, dass es der politischen Linken einfach nicht glücken will, ihre Grundsätze im Bereich Gerechtigkeit, Gleichstellung und so weiter in eine moderne Form zu bringen, sodass am Schluss halt eben nicht nur das Alte, sondern sogar das Uralte übrig bleibt, wo man noch Reste des Ur-Authentischen vermutet. Kann gut sein, dass im Moment Karl Marx die größeren Chancen hätte, britischer Premierminister zu werden, als Corbyn und sowieso als die Miliband-Brothers, deren Bruderzwist, abgesehen von allem anderen, tatsächlich eher unter der Rubrik People als unter der Rubrik Politik abzuhaken ist.

Ich habe nichts gegen weißhaarige und aufrichtige Männer, abgesehen davon, dass die Kinowelt ja nur so strotzt von ihnen, aber ich möchte doch ein bisschen mehr Programmneuheiten sehen; so etwas könnte man ja auch als alter aufrichtiger Mann vertreten, ohne dass ich hier und jetzt konkreter zu werden brauche. Schon Stéphane Hessel hatte mit seinem Aufruf zur Empörung sicher das Argument seines hohen Alters hinter sich, aber ich finde es auch relativ kennzeichnend, dass diese ganze Empörungswelle mit Occupy Wall Street und was noch allem sehr schnell und wirkungslos verpufft ist, um einer neuen Empörungswelle Platz zu machen, welche ebenfalls keine neuen Argumente bringt, dafür aber nur noch aus dem Bauch heraus agiert beziehungsweise politisches Kalkül aus den Verwerfungen der Volksseele zu schlagen versucht.

Wie auch immer: Letzthin habe ich von einem Wissenschaftler gehört, der behauptet hat, man sei medizinisch bald einmal so weit, dass die Menschen ein durchschnittliches Lebensalter von weit über hundert, ja sogar gegen tausend Jahre erreichen könnten. Ich erinnere mich nicht mehr ganz präzise an den Bericht, gehe aber davon aus, dass unterstellt war, dass die Leute während dieser mehrfachen Lebenszeit auch auf einen funktionierenden Bewegungs- und Denkapparat zurückgreifen können, dass also die Medizin auch in punkto Muskulatur, Knochenbau und Organe verschiedene Optionen in petto hat. Seither mache ich mir einen Spaß daraus, hin und wieder meine Mitmenschen zu befragen, was sie von so etwas halten. Möchtest du eintausend Jahre lang leben? – Einmal abgesehen davon, dass sie dann ja BewohnerInnen eines tausendjährigen Reiches wären oder dass sich die Weltbevölkerung dann innerhalb von hundert Jahren verdreifachen würde, ganz abgesehen davon also erschrecken meine Mitmenschen jeweils zutiefst und sagen unisono: Nein, ich möchte nicht 1000 Jahre alt werden.

Vielleicht kenne ich die falschen Leute und bewege mich in den falschen Gesellschaftsschichten, ich bin sicher, dass sich Donald Trump nichts sehnlicher wünscht, als tausend Jahre lang immer derselbe Donald Trump zu sein mit immer derselben Milliarde, auch Donatella Versace sieht so aus, als würde sie nicht nur gerne 1000 Jahre lang leben, sondern hätte bereits 900 davon auf dem Buckel, aber insgesamt sind jene Menschen, die ich kenne, absolut davon überzeugt, dass eine normale Lebensspanne ihr Gutes hat, nicht zuletzt deshalb, weil man davon ausgeht, dass das Individuum irgendwann an eine Grenze stößt, von wo an es nicht mehr substanziell viel Neues lernen und erleben kann. Und dann vor allem die Vorstellung, dass man gut tausend Jahre lang am gleichen Arbeitsplatz die gleiche Arbeit verrichten sollte oder tausend Jahre lang im gleichen Deutschland immer die gleichen Sehenswürdigkeiten besichtigen!

Und hier entpuppt sich der Vorschlag des Wissenschaftlers als ziemlich radikal, weniger auf der Ebene der Realität als vielmehr auf der Ebene der Vorstellung. Was müsste ich denn tun, damit das Leben tatsächlich tausend Jahre lang erträglich wäre? – Und sobald ich mir diese Frage stelle, bin ich schon bei der viel näher liegenden: Was sollte ich denn tun, damit das Leben auch nur schon während meiner jetzigen Lebensspanne erträglich und sogar vollständig ausgefüllt und sinnvoll ist? – Das ist natürlich besonders trickreich von den Wissenschaften, dass sie uns unter Vorspiegelung irgendwelcher Fortschritte plötzlich auf uns selber zurückwerfen. Man könnte sagen, das ist gemein, aber im Grunde genommen ist es eine der Kernaufgaben der Wissenschaft, wenn man bisher auch eher an die Philosophie oder an die Theologie gedacht hat in solchen Sachen, aber weshalb soll sich nicht die Medizin auch mal dran machen.

Der Herr Arzt oder Mediziner hat sich zwar nicht geäußert zu dieser Frage, aber ich habe den Verdacht, dass es hier dann plötzlich auch wieder um so etwas wie ein politisches Programm geht. Was soll der Mensch mit seinem Menschenleben denn anstellen, einmal vorausgesetzt, er würde die tatsächliche Souveränität darüber erreichen? Und diese Voraussetzung erscheint heute zunehmend erfüllt. Da können all die panischen Versuche, uns von dieser Tatsache abzulenken mit dem lauten Gebrüll über Flüchtlinge und Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum, überhaupt nichts dran ändern.

Nicht die Flüchtlinge und nicht der Islamistische Terror oder meinetwegen auch der evangelikale Furor sind die tatsächlichen Probleme unserer Zeit, sondern eben genau diese Frage: Was mache ich mit diesem verdammten Leben, mit dieser Zeitspanne von sechzig Jahren, mit diesem Zeitfeld, das sich mir nach Abschluss meiner Bubi- oder Mädität eröffnet?

Die Antworten auf diese Frage werden vielfältig ausfallen, vermutlich, weil es ja auch unter den Menschen unterdessen nicht mehr einfach nur gerade zwei Klassen gibt. Eines aber steht auf jeden Fall fest, nämlich amüsieren wird man sich auf jeden Fall müssen. Und damit uns das Gelächter nicht ausgeht, hat uns eine höhere Gewalt Figuren wie den Trump Donald erschaffen. Dass diesem absolut moralfreien, quasi Bigamisten und Spekulanten und Wirrkopf in einem unergründlichen Ausmaß ausgerechnet die Sympathien der radikalen Evangelikalen zuschwirren, das ist ein Spaß, den man im Ernst nicht erfinden kann, es ist, pardong, als würden die Jüdinnen und Juden massenweise für Adolf Hitler schwärmen. Das ist derart sinnfrei, dass allein die Kandidatur von Donald Trump zeigt, dass es sich durchaus lohnt, noch ein paar Jährchen auf der Erde zu verbringen, um zuzuschauen, was dieses Politiktheater noch alles für Schwänke hervorbringt.

Gleichzeitig sollte es einen nicht davon abhalten zu überlegen, auf welche Art und Weise das moderne Individuum seine Kräfte und Potenziale nutzen könnte, um die Gesellschaft kreativ weiter zu entwickeln. Irgendwie müssen wir nämlich einfach raus aus all diesen Mustern und Mechanismen des Industrialismus. Im Moment ist es grad etwas schwierig, sich mit solchen Themen zu beschäftigen, da uns die Islamisten aller Länder mit allen Kräften dazu bewegen wollen, uns eher mit der Vergangenheit als mit der Zukunft zu beschäftigen, aber es hieß ja schon in der DDR-Nationalhymne: Und es muss uns doch gelingen.