"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Hass -

ID 75033
 
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Der Nahe Osten ist gegenwärtig so etwas wie ein riesiger Kochtopf, in dem alle welt- und regionalpolitischen Akteure herum stochern, mit Ausnahme von China. Besonders hervor tun sich die beiden alten Rivalen Iran und Saudiarabien, direkt und über ihre Alliierten in der Region. Nicht so hundertprozentig klar ist die Position der Türkei. Die Ambitionen, vielleicht weniger des Landes als eher des Staatschefs, sind klar: Die Türkei strebt eine Stellung auf Augenhöhe mit den Rivalen aus Teheran und Riad an. Ganz einfach ist das nicht, da man selber nicht über nennenswerte Erdöl­reserven verfügt, und das bleibt der zentrale Faktor im ganzen Spiel; das Erdöl wird nicht über Jahre hinweg auf den aktuell tiefen Niveaus gehandelt werden, Niveaus, welche jeder Vernunft spotten, als hätte es all die Debatten über den Peak Oil nie gegeben beziehungsweise als wäre das Problem mit dem kurzfristigen Überangebot für die nächsten zehntausend Jahre vom Tisch.
Audio
10:18 min, 19 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 09.02.2016 / 13:21

Dateizugriffe: 647

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 09.02.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nein, so ist es nicht, und das wissen auch die Akteure in der Region; hier liegt nach wie vor eine zentrale Triebkraft für die Entwicklung der Kräfteverhältnisse.

Die Türkei bleibt außen vor; die direkte Importlinie von Erdöl führt dummerweise direkt ins tiefe Kurdistan, und damit besteht immer wieder die Gefahr von Abmachungen zwischen den Erdöllieferanten im kurdischen Teil des Iraks und den Kurden in der Türkei, welche der Herr Obervorsitzende Pascha Erdogan mit sämtlichen Tricks und Kniffs auszuschalten versucht. Auch Russland spielt eigentlich eine gewisse Rolle bei der Energieversorgung der Türkei, mindestens in absehbarer Zukunft, und somit präsentiert sich die Lage für eine echte Expansion ziemlich verzwickt. Das Einzige, was den türkischen Einfluss im Moment vermehrt, ist ein Anhalten des Bürgerkriegs in Syrien und zum Teil auch im Irak mit den daraus folgenden Unsicherheiten; vielleicht marschiert General Erdogan demnächst aus humanitären Gründen in den Norden von Syrien ein, wobei dies seit dem offiziellen Eingreifen der Russen in ebendiesem Norden nicht mehr so besonders einfach und empfehlenswert erscheint. Zwar weiß Erdogan, dass die Kraft des Faktischen stärker ist als Verträge und Abkommen; aber gegen die russischen Militärs lassen sich nicht so leicht vollendete Tatsachen schaffen, und sobald sich eine militärische Intervention in die Länge zieht, muss er sich von der Nato zurückpfeifen lassen. Keine einfache Sache.

Immerhin kann man auf anderen Ebenen Nutzen ziehen aus der verworrenen Situation, nämlich gegenüber der Europäischen Union, wo die Flüchtlinge beziehungsweise die Flüchtlingsfrage zum Faustpfand sui generis geworden ist, und dass der Erdogan mit diesem Pfund wuchert, das kann ihm niemand wirklich zum Vorwurf machen. Immerhin geht er mit all den Flüchtlingen selber auch gewisse Risiken ein, vor allem in Kleinasien und in Istanbul, wo die Kapazitäten ebenso erschöpft sind wie in Deutschland, bloß sind dort die Verarbeitungssysteme etwas anders als nördlich der Alpen.

Die Türkei steckt also sozusagen in ihrem eigen Strudel, und es erscheint auch aus Sicht von Pascha Erdogan nicht plausibel, wie man den Status des Landes nachhaltig verbessern könnte, einmal abgesehen vom eigenen Pascha-Dasein. Ansonsten aber präsentiert sich die Lage verworren wie selten, weil man ja strikt genommen immer noch den Palästina-Konflikt beziehungsweise die Rolle von Israel dazu rechnen müsste, welches man in diesem Zusammenhang als so etwas wie einen stabil festgezurrten Flugzeugträger der US-Amerikaner betrachten kann, dessen Generalkapitän schmollend und trötzelnd auf seinem Posten herum stampft, weil ihm das Oberkommando verboten hat, Bomben zu verschießen. Aber da spielt natürlich auch einiges an Show und Öffentlichkeits­arbeit mit.

Kurz: Die Region steht in Flammen, niemand hat eine Ahnung, wie man die verschiedenen Feuer löschen sollte, und vor allem hat niemand eine Ahnung, wer hier letztlich gegen wen kämpft. Um Religion geht es, wenn schon, nur in der Auseinandersetzung zwischen Teheran und Riad. Der Islamische Staat hat mit Religion nichts zu tun und hatte es noch nie. Er wird je länger, desto mehr zum Kristallisationspunkt und zur politischen und ideologischen Ausdrucksform des reinen Hasses. Ich korrigiere beziehungsweise relativiere mich sogleich: Ob es überhaupt eine ideologische, also eine ideengeschichtliche Form des reinen Hasses gibt, ist alles andere als erwiesen, und auch politisch gesehen gilt der Hass eher als Instrument denn als Inhalt von Machtverhältnissen und Machtstreben. Wenn aber in diesem Kriegskessel die Interessenlagen schon fast bis zur Unkenntlichkeit zusammen gebombt werden, dann bleibt als Substrat nun mal der Hass zurück. Und diesen Hass finden wir ja auch in unseren Gesellschaften wieder, vom Ingrimm gegenüber Behörden und Institutionen in den französischen Vorstädten bis hin zu den Tiraden in den Social Media und auf den Straßen vor allem Ostdeutschlands, die ebenfalls vor allem gegen die Behörden und Institutionen zielen, einmal abgesehen von der Lügenpresse. Es scheint sich dabei, also beim Hass, um eine recht aktuelle Erscheinung zu handeln.

In den westlichen Ländern lässt sich die Quelle leicht ermitteln: Es ist die begriffslose Wut des Individuums gegen die Nebenwirkungen der Zivilisation, in unserem Fall des sozialdemokratischen Sozialkompromisses. Die klassischen sozialen Polarkappen sind geschmolzen, die Demokratie ist enttarnt als Schauspiel einer solchen, die Einsicht, dass das Individuum die Welt nie mehr verändern können wird, hat sich absolut festgesetzt und wird durch die Tatsache, dass wir alle in Zukunft nachhaltig überwacht und indirekt somit auch gesteuert werden, nochmals verstärkt. Das ist alles sehr frustrierend angesichts des großen Verkaufsargumentes der freien Marktwirtschaft, wonach das Individuum und seine Wünsche im Zentrum des Glücksstrebens stünden. Nichts da – das Individuum ist radikal entmachtet und auf die Dimension einer bedeutungslosen Ameise im Milliardengekrabbel reduziert worden. Da sich bisher kein Bewusstsein ausgebildet hat, welches an die Stelle der geschmolzenen sozialen Pole treten könnte, greift man zurück auf die alten Konzepte, weil diese Ladenhüter halt noch irgendwo in der Auslage herum liegen, Nationalismus und meinetwegen auch Rechtsextremismus und in einigen exotischen Fällen auch linker Extremismus. Insgesamt aber ergibt sich nur eine Farbe, nämlich Schwarz, und zwar nicht das Schwarz des Anarchismus, sondern das Schwarz des Hasses.

Positiv dabei ist, dass die Sturzflut an Ressentiment und eben Hass eine Mehrheit der normalen Menschen daran erinnert, was ihre Qualitäten letztlich ausmacht, nämlich ihr trotzdem nach wie vor einmaliger Denkapparat sowie die verschiedenen Betriebs- und Anwendungsprogramme, welche die Menschheit in den letzten paar tausend Jahren dafür entwickelt und darauf hochgeladen hat. Vielleicht kann man so etwas wie Menschenrechte-Bürgerwehren entwickeln, welche nächtens durch die Quartiere streifen und den hartgesottenen Idioten mit einer so genannten Vernunft-Klatsche den Hintern versohlen. Für ganz üble Fälle könnte man ein paar Exemplare der Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant zu Papier Maché verarbeiten und daraus eben die Klatschen formen, für die meisten Idioten reichen aber vermutlich schon ein paar Streiche mit den Grundrechten, im Stil von: Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich, und nicht nur vor dem Gesetz, sondern in der Substanz, bis auf jene Unterschiede, die wir nach Möglichkeit loben und preisen wollen, die sich aber nicht auf gesellschaftliche Privilegien erstrecken sollen. Und so weiter.

Ein wesentliches Vernunftmittel ist, war und wird bleiben der Verweis auf gewisse wirtschaftliche Parameter, also neben der Weiterentwicklung der produktiven Grundlagen vor allem die Verteilung von Vermögen und Einkommen in der Gesellschaft. Hier darf man, Sozialdemokratie hin, Sozialdemokratie her, durchaus wieder mal gegen die Reichen und die Reichsten, die Privilegierten und die Privilegiertesten zu wäffeln beginnen. Allerdings sollte man dabei immer im Auge behalten, dass eine der wichtigsten Errungenschaften der letzten hundert Jahre ja justament nicht die Ausbildung einer noch nie dagewesenen Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen war, sondern die Entstehung einer Mittelklasse, welche zum ersten Mal in der Geschichte tatsächlich auch über beträchtliche eigene Einkommen und Vermögen verfügt. Genau dies ist übrigens eine der zentralen, rein empirischen Erkenntnisse in Thomas Pikettys Bestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert». Und nicht nur dies: Auch die Ausbildung eines eigentlichen Sozialstaates, womit wir natürlich wieder beim Thema Sozialdemokratie sind, aber eben, die Ausbildung eines eigentlichen Sozialstaates gehört ebenfalls zu den Wundern und Phänomenen des modernen Kapitalismus. Beide sind auf jene Eigentümlichkeit zurückzuführen, dass der Kapitalismus mit Massenproduktion und Automation und dem ganzen Sermon, den ihr schon längstens kennt, auf Absatzmärkte angewiesen ist, und diese findet er vorderhand nun mal nicht auf dem Mars, sondern auf der Erde, und das heißt, dass der Kapitalismus seine Objekte oder Subjekte aus reinen ProletarierInnen verwandeln muss in KonsumentInnen, sonst geht das ganze Spiel nicht auf. Das ist die eine Seite, und die andere Seite ist jene, dass die Selbstbewusstwerdung der Masse in einem nicht immer ganz einheitlichen Prozess, welcher neben dem Kommunismus und dem Sozialismus und der Sozialdemokratie auch unschöne Dinge wie den Nationalsozialismus produziert hat, dass diese Selbstwerdung also trotz allem einen wesentlichen Anteil hatte an der Veränderung der Menschen aus armen, geschichts- und identitätslosen Schluckern in jene Konsumentinnen und Konsumenten, welche sie heute sind. Die Ausbildung einer einigermaßen begüterten Schicht von Konsumentinnen und Konsumenten beziehungsweise den erstmals so auftretenden Mittelstand weist Piketty in seinem Werk mit aller Wucht der Empirie nach.

Dass in all diesem relativen und relativ breiten Wohlstand ein neues Unbehagen entstehen kann und tatsächlich entsteht, wird niemanden wundern, der einmal etwas von materialistischer Dialektik gehört hat. Jetzt haben wir mal so richtig den Salat, und wenn der Vorhang auch noch nicht zu ist, ganz im Gegenteil, so sind doch wenigstens alle Fragen offen.

Kommentare
09.02.2016 / 18:03 Jürgen, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gesendet in Sonar am 9.2.2016
Danke!