"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Globolin

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This is the time of miracles and wonders, heißt es in einem Schlager aus den siebziger oder achtziger Jahren, sein Titel ist mir entfallen, aber wenn ich in das Gewirr von Stimmen, Meinungen, Ana­ly­sen und sonst welchen Äußerungen zur Lage der Welt, Europas und darin Germaniens hinein höre, dann habe ich oft den Eindruck, hier ereigne sich gerade irgend ein wundertätiges Mirakel, vor wel­chem die Gemeinschaft der Christinnen und anderer Eingeborenen komplett belämmert herum blökt. Während man sowas von einfachen Menschen, die sich ihre Kohlroulade nicht durch irgend­welche Schlagzeilen der Bild-Zeitung verätzen lassen, unbedingt hinnehmen muss, wo man es nicht sogar von ihnen erwartet als proto- und auch sonst typische Subjekte der Demokratie, ist man doch etwas verblüfft über die Heerscharen an Schrott-Latour-Klonen, welche uns der Weltgeist nun auf­tischt.
Audio
11:43 min, 21 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 16.02.2016 / 16:24

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Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache:
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 16.02.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich greife einen heraus, einen Amerikaner namens Robert Kaplan, der vom Magazin «Foreign Policy» im Jahr 2011 zu einem der 100 Topdenker der Welt erklärt wurde und der nun dem­ent­sprechend oft seine Topgedanken in bezahlten Artikeln rund um die Welt absetzt. Seine außenpolitische Weisheit zum nunmehr, sagen wir mal dreißigjährigen Krieg im Nahen Osten, wenn man nämlich den Krieg zwischen dem Irak und dem Iran mit rechnet, ist eine relativ kos­ten­güns­tige Weisheit, indem sie nämlich einerseits den Vorwurf gegenüber den Europäern beinhaltet, sie hätten sich dank dem Schutz der US-Amerikaner aus den großen Konflikten heraus gehalten, und zum anderen reiht sie sich in die Bramarbasiererei über die russische Seele ein, einfach negativ, indem die Zerrissenheit dieses Landes ein gewaltiges Potenzial an Anarchismus, am Verschwinden einer intakten staatlichen Ordnung enthalte, und daneben sieht er solche anarchistischen Tendenzen sowieso auch in Europa heran wachsen mit den zentripetalen Kräften in Großbritannien, Polen, Ungarn und anderswo sowie vor allem den Flüchtlingsströmen, gegen welche die USA nun nicht mehr ihre schützende Hand erheben würden. Anarchie – das ist sowieso ein Lieblingsthema von Kaplan, er hat schon vor 20 Jahren prophezeit, dass die Welt wegen so trauriger Entwicklungen wie dem Bevölkerungswachstum zwangsläufig ins Chaos stürzen werde. Als sein eigener Chaos-Theoretiker muss er nun natürlich geradewegs hoffen, dass sich seine damalige Hypothese endlich bewahrheitet, sonst hätte er ja gar nicht recht gehabt.

Es gibt aber auch Leute, sogar in den Vereinigten Staaten, welche sich etwas vernünftiger mit Russ­land auseinandersetzen; die sprechen dann in der Regel von relativ klar erkennbaren Kräften und Linien, zum Beispiel von der Machtpolitik einer ehemaligen Supermacht gegen außen, welche ge­mäß ihrer eigenen Logik versucht, zu retten, was zu retten ist, was sie zwangsläufig in Konflikt führt mit jener anderen Supermacht, die sich als Hegemonialmacht versteht und geriert und ver­sucht, ihren Hegemonialstatus mit allen Mitteln zu halten, unabhängig von der Hautfarbe und der Partei­zugehörigkeit des jeweiligen Präsidenten oder der Präsidentin. Oder dann von den gegen­sätz­lichen Tendenzen innerhalb des Landes, wobei ich mir hier erlaube, einen Bogen um die russische Seele zu machen, welche auf irgend eine Art und Weise bestimmt auch eine Rolle spielt, aber ganz sicher eine weniger wichtige als die Hauptfrage, ob und wie man das Land modernisieren kann im Rahmen einer nach wie vor instabilen Interessengeometrie. Und wenn es hier seinerseits einen Grund­konflikt gibt, so liegt er im Moment wohl weniger zwischen der russischen Seele und der Mo­der­nit­ät oder auch zwischen der Ost- und der West-Orientierung des Landes, wie man dies hin und wieder behauptet. Der Osten Russlands ist durch die doppelte Ausrichtung nach Moskau zum einen, nach China und dem Pazifik zum anderen vielleicht fortschrittlicher als gewisse westliche Teile, wenn auch auf eine eigene Art. Die grössten Schwierigkeiten liegen aber vor allem in den süd­lichen Gegenden im Kaukasus und in den ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan und so weiter. Schließlich haben wir das Zentrum, wo eben die Geometrie der Macht vielleicht nicht immer direkt ausgebildet wird, wo sie sich aber am stärksten ausdrückt und wo mit den Militär­kom­man­dozentralen natürlich auch ein bestimmender Machtfaktor angesiedelt ist. Eine gewisse Zeit lang hatte man den Eindruck, dass sich mit dem Bad Cop Putin und dem Good Cop Medwedew eine gewisse Stabilität eingerichtet hätte, was für das Land selber in dieser Epoche vermutlich Priorität hat vor schönen Dingen wie Demokratie, Gerechtigkeit und all dieser modernen Luxus­waren mehr. Jetzt ist diese Stabilität aber tüchtig unter Druck geraten, in erster Linie wegen der wirtschaftlichen Einbußen bei den Haupeinnahmen im Energiebereich und dann wegen der Sanktionen; und ihr wisst, dass ich die Arbeitshypothese, wonach der Westen in beiden Fällen die Hände im Spiel hat, nach wie vor nicht widerlegt sehe. Diese Arbeitshypothese besagt, dass die EU mit ihrer Ukraine-Politik beziehungsweise mit ihren eindeutig gegen die russischen Interessen ge­rich­teten Angeboten einen wesentlichen Beitrag geleistet hat zum Ausbruch des Krieges im Osten der Ukraine. Dass sie dabei an das Vorgehen in Georgien erinnert, als vor allem die Amerikaner die antirussischen Kräfte unterstützten, ist sowieso klar, wobei ich nicht weiß, ob und wie stark die Amis bereits 2003 ihre Hände beim Sturz von Präsident Schewardnadse im Spiel hatten im Rahmen einer dieser Revolutionen, die immer friedlich und gut sind, sobald der Ami die Hände im Spiel hat, während sie immer schlecht und blutig sind, wenn es sich um die Gegenseite handelt. Jedenfalls betrieb der Erdöl-Hampelmann Buschjockel damals eine eindeutig antirussische Politik, und dass sein damaliger geor­gi­scher Hampelmann Saakaschwili jetzt auf der anderen Seite des Schwarz­meers vom Ukrainer Poroschenko zum Stadt- oder Regionalpräsidenten berufen wurde, spricht ja auch eine eindeutige Sprache.

Im Rahmen meiner Arbeitshypothese kann man sogar den Einbruch des Erdölpreises vor allem als gezielten Angriff auf die russische Wirtschaft interpretieren, denn wenn sich ein Markt derart irrational verhält wie der Erdölmarkt in den letzten Monaten, dann steckt in der Regel mehr als bloße Börsenspekulation dahinter, da sind mit Garantie zu allererst geopolitische Interessen im Spiel.

So gesehen, handelt es sich um einen klassischen Destabilisierungsversuch, der dann logischerweise eine Verschärfung der autoritären Tendenzen im Land auslöst, sofern das überhaupt noch möglich ist; tatsächlich erübrigt sich eine Diskussion über die Demokratie in Russland vollständig, und all die Bemerkungen zu gesteuerten Medien, zu Unwahrheiten und Propaganda treffen vermutlich zu weit über fünfzig Prozent zu. Aber darum geht es auch nicht in dieser Phase.

Auch die vernünftigeren US-Kommentatoren anerkennen in der Regel, dass für Russland gegen­wär­tig andere Maßstäbe anzulegen sind als jene der lupenreinen Demokratie. Das Eingreifen zugunsten von Bashar al Assad in Syrien gilt in erster Linie der Sicherung der letzten russischen Einflusszone am Mittelmeer, was ebenfalls ein Bestandteil meiner Arbeitshypothese ist, den ich hier schon lange ausbreite, beziehungsweise umgekehrt gelesen oder gesprochen: Die US-Amerikaner witterten im arabischen Frühling eine Gelegenheit, den Russen aus der Region zu bugsieren, indem sie für Syrien wieder so eine Revolution anzuzetteln, wie man sie in der Ukraine oder in Georgien erlebt hatte, immer nach dem gleichen Muster: Gewählter Präsident wird gestürzt durch eine friedlich farbige Revolution – US-freundliche Regierung an der Macht. Allerdings haben sie sich mit ihrer Unterstützung in Syrien insofern geschnitten, als «die Opposition» gegen al Assad in der gewünsch­ten Form gar nie existierte; es gibt sie bis heute nicht, die Jungs sind nach wie vor mächtig zer­strit­ten, und ein schöner Teil dieser Prachtsopposition und Prachtsdemokraten, welche gegen den ge­wähl­ten Präsidenten, laut westlicher Lesart aber trotzdem Diktator al Assad kämpfen, haben keiner­lei Berührungsängste gegenüber dem islamischen Staat und Al Kaida.

Neu ist für uns in Europa nun tatsächlich, dass wir in der Form der Flüchtlingsfrage auch einmal die Konsequenzen der US-amerikanischen Hegemonialpolitik zu spüren bekommen, nachdem wir auf eine gewisse Art und Weise tatsächlich davon profitiert haben und gleichzeitig immer ein gutes Gewissen hatten, höchstens hie und da getrübt von ein paar französischen Interventionen in Afrika, aber dort sind die europäischen und auch die US-amerikanischen KommentatorInnen dann wieder jederzeit bereit, mildernde Umstände anzuerkennen und einzuräumen, dass der ganze Demokratie-Shizzle, ja sogar der anti­kolo­nia­lis­ti­sche Diskurs unter den obwaltenden Umständen halt sekundär sei.

Die Flüchtlingsfrage nun mischt bei uns etwas ganz anderes auf als die Fragen nach den geo­po­li­ti­schen Triebkräften. Sie konfrontiert uns mit dem großen Problem, dass unsere Ansätze zur mo­der­nen Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft, die ich an dieser Stelle immer sozial­demo­kra­tisch nenne, die man aber wegen ihrer dort zugespitzten Form auch als das skandinavische oder nor­di­sche Gesellschaftsmodell bezeichnen könnte, dass diese Ansätze also letztlich von weltregional statischen Entwicklungen ausgehen, und diese Statik ist durch die massenweise Verbreitung von Mobiltelefonen schlicht in die Luft gesprengt worden. Ob wir es wollen oder nicht, alle Menschen auf der ganzen Erde können jetzt jederzeit zusehen, wie es sich in den reichen Gesellschaften lebt, egal, ob die LateinamerikanerInnen auf Nordamerika gucken oder die AfrikanerInnen auf Europa. Wir können Mauern bauen, so hoch, wie wir nur wollen – darf ich mir in diesem Zusammenhang übrigens wieder mal den Verweis auf mein Projekt erlauben, im Norden Erfurts eine Mauer zu errichten? –, wir können also Mauern bauen, aber gegen diese Migrationskräfte sind wir machtlos, soviel hat man unterdessen wohl allgemein eingesehen. Wir können bloß versuchen, diese Kräfte einigermaßen vernünftig zu kanalisieren. Die Grundsätze sind dabei einfach: Mengen­steuerung und Integration in Europa, wobei ich mit Mengensteuerung nicht Obergrenzen meine, sondern ver­mut­lich in etwa das, was Eure Frau Bundeskanzlerin seit geraumer Zeit versucht; und dann ist die an­de­re Seite selbstverständlich die wirtschaftliche und soziale Ent­wicklung in den Ursprungsländern und auch in den Gegenden dazwischen. In den Gegenden dazwischen heißt für mich und in Bezug auf Europa vor allem Nordafrika, wie ich hier ebenfalls schon seit Jahren ausführe, auch wenn dies allenfalls die Spannungen in Osteuropa erhöht, darüber kann man ja durchaus auch sprechen und versuchen, die dort herrschenden nationalen Scheuklappen auch insofern zu überwinden, als vielleicht auch mal Rumäninnen und Bulgarinnen Zugang zu gewissen Projekten in Algerien und Ägypten erhalten. Nicht nur für Toyota ist nichts unmöglich. – Und selbstverständlich meine ich mit den Gegenden dazwischen auch Griechenland. Wie man diesem Land auf die Beine helfen will, indem man es aushungert und auch noch die letzten sozialen Infrastrukturen zertrümmert, das hat mir bisher noch niemand zu erklären vermocht. Da muss etwas anderes her, und zwar wenn möglich nicht einfach eine neue Etappe der Korruption.

Für den Alltagsdiskurs hilft das nicht allzu viel. In Deutschland wird das Eintreffen der Flüchtlings­welle spontan als Angriff auf die bekannten, mehr oder weniger funktionierenden Mechanismen im Alltagsleben empfunden. Wo feste, längst nicht mehr reflektierte Werte plötzlich erschüttert und gelockert werden, kann es nicht erstaunen, dass unter anderem auch unterdrückte Verhaltens- und Denkmuster aus den Frühzeiten der Menschheit, aus der Barbarei, aber auch mittelalterliche Formen, wie man sie in den verstocktesten arabischen Gesellschaften findet, und am Schluss die historisch am nächsten liegenden Atavismen, die offenbar in der deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhanden sind, nämlich die rassistischen und nationalistischen Brunz- und Scheißgurgeleien bis hin zu Forderungen nach KZs und Schießbefehlen an die Oberfläche dringen. Die Aufgabe ist es in dieser Situation, die Destabilisierung in eine vernünftige Form zu bringen und eine rationale Debatte zu führen darüber, wie man am Schluss die ganze Welt zu Frieden und Wohlstand führt und nicht nur Deutschland zu seinem friedlichen Wohlstand auf der Grundlage von Hartz IV für die Schwächsten. Und ich möchte nicht unterlassen, an dieser Stelle zu versichern: Das ist alles völlig problemlos möglich, wenn man es einfach vernünftig und ohne viel Gebrüll anpackt.