"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren

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Thomas Piketty zeigt im zweiten Teil seines Buchs «Das Kapital im 21. Jahrhundert» auf, wie im Lauf der letzten 100 Jahre neben der Mittelklasse auch der Sozialstaat entstanden ist mit dem Anstieg der Staatsquote von ungefähr 10 Prozent auf fast 50 Prozent.
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09:30 min, 22 MB, mp3
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Upload vom 23.02.2016 / 19:17

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 23.02.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das wichtigste Element dabei war die Sozialversicherung, und Piketty diskutiert dabei auch die Perspektiven der wichtigsten Finanzierungssysteme, nämlich des Umlageverfahrens, bei dem die Renten der Sozialversicherung direkt durch die Ausschüttung der Beiträge der Lohnabhängigen finanziert werden, und zum anderen des Kapitaldeckungsverfahrens, bei welchem die Lohnabhängigen während ihrem Arbeitsleben ein Kapitalkonto speisen, von welchem dann nach der Pensionierung die Renten generiert werden. Das Hauptproblem erscheint heute die Zunahme der Lebenserwartung, welche bedeutet, dass im Umlageverfahren immer weniger Lohnabhängige immer mehr RentenbezügerInnen finanzieren müssen. Beim Kapitaldeckungsverfahren verlagert sich das Problem so, dass immer mehr Rentenjahre durch das aufgehäufte Pensionskapital gedeckt werden müssen. In beiden Fällen kommen die Systeme in Schieflage, solange man die Ausfinanzierung rein statisch berechnet. Nun trägt die statische Kalkulation natürlich den grundlegenden Änderungen keine Rechnung, zum Beispiel aktuell die Nullzinsen im Fall des Kapitaldeckungsverfahrens, aber auch die innere Entwertung der Konsumgüter durch die weiterhin zunehmende Automatisierung, welche eigentlich zu einem Rückgang von Löhnen und Preisen führen müsste, was aber bisher noch nie der Fall war. Einen wesentlichen dynamischen Faktor stellt sodann die Verlagerung der Erwerbsstruktur dar von den klassischen Bereichen der Schwer- und Leichtindustrie hin zu Dienstleistungen, Software- und IT-Berufen und den in steter Erneuerung befindlichen neuen Anwendungen mehr oder weniger auf allen Stufen der Gesellschaft, vom simplen Produkt bis hin zur Kommunikation. Aussagen, welche sich nicht auf die Vergangenheit beziehen, sind von da her immer mit Vorsicht zu genießen.

Einen Aspekt habe ich bei der Ausbildung der Mittelklasse mit einem markant höheren Anteil an den gesamtgesellschaftlichen Einkommen und Vermögen als hundert Jahre zuvor immer wieder speziell gefunden. Nämlich fand mindestens die Vermögensbildung in den Ländern des ehemaligen Ostblocks mehr oder weniger von Gesetz her gar nicht statt oder war sogar verboten. Abgesehen von den wirtschaftlichen Erschütterungen, die aus der Angleichung der unterschiedlichen Niveaus an Qualität, Produktivität und so weiter zwischen Ost und West nach 1990 entstanden sind, besteht hier ein großes zusätzliches Defizit, das man in Deutschland zwischen den neuen und den alten Bundesländern beobachten kann und für ganz Europa eben zwischen den Kernländern im Westen und den ehemaligen Satellitenstaaten. Ich habe bisher noch nie gehört, dass auf dieser Ebene irgendwelche Programme von Seiten der EU lanciert wurden, das heißt, Programme, welche ganz direkt die Bildung von Privatvermögen bei den normalen Haushalten im ehemaligen Ostblock stimulieren würden.

Nicht dass ich das für unbedingt notwendig halten würde; wenn die Löhne und Sozial­ver­siche­rungen stabil sind, lässt sich ein anständiger durchschnittlicher Lebensstandard auch ohne nennenswerte Privatvermögen sichern und garantieren. Bloß ist die Vermögensverteilung halt schon auch ein Indikator für die sozialen Verhältnisse und für die Machtverteilung. Gerade wenn man sich vergegenwärtigt, wie die private Vermögensbildung beim Zerfall der Sowjetunion im Zentrum, nämlich in Russland stattfand, kann man sich ungefähr eine Vorstellung davon machen, worum es dabei geht.

Um auf die Pensionskassen zurückzukommen, also auf das Kapitaldeckungs-Verfahren: Mindestens in der Schweiz beruht die Altersvorsorge seit mehreren Jahren offiziell auf den beiden Säulen des Kapitaldeckungsverfahrens mit den Pensionskassen sowie des Umlageverfahrens bei der AHV, unserer wichtigsten Altersversicherung. Eine nicht unwesentliche Kritik am Kapitaldeckungsverfahren ist jene, dass sie die Ungleichheiten, welche im normalen Alltag des Erwerbslebens sowohl innerhalb der Lohnskalen als auch zwischen jenen, die arbeiten, und jenen, welche nicht arbeiten, bestehen, ganz ausgeprägt verstärkt. Menschen, welche nur wenig verdienen, also etwas mehr als 20'000 Franken im Jahr, haben zum Vornherein gar keine Chance, ein eigenes Kapitalkonto aufzubauen, mindestens nicht im Rahmen der betrieblichen Vorsorge; vom privaten Sparen spreche ich hier nicht, das ist sowieso ein anderes Kapitel. Aber die betriebliche Vorsorge müsste gerade hier dringend angepasst werden, wenn man sich nicht dazu durchringen kann, die normale Rente der AHV massiv zu erhöhen. Falls dies nicht möglich ist, müsste man so etwas wie eine obligatorische Minimal-Kapitalbildung für alle BewohnerInnen einführen, welche halt zur Not durch den Staat oder solidarisch durch einen Beitrag der anderen Arbeitnehmenden finanziert wird. Andernfalls bleibt die Kluft zwischen anständig gestellten Menschen im Mittelstand und den verarmten Habenichtsen im Alter gleich groß oder wird noch verstärkt durch die Ungerechtigkeit bei der Ausgestaltung der beiden Rentensysteme.

Aber wie gesagt: Solche Probleme lassen sich auch auf andere Art lösen als durch eine Reform der Pensionskassen. Sollte man aber auch in Zukunft auf diese Kapitaldeckung setzen als ein wesentliches Element der Altersvorsorge, dann wären Anpassungen in diesem Sinne unerlässlich, und zwar unabhängig davon, ob man für die Grundsicherung jetzt dann endlich mal das bedingungslose Grundeinkommen einführt oder ob man den aktuellen, wenig befriedigenden Zustand beibehält.

Immerhin finde ich es wirklich lustig, dass gerade die empirischen Zahlenreihen von Piketty, welche die Schwankungen bzw. in letzter Zeit wieder die Zunahme der absoluten Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft belegen, halt auch die Ausbildung der erwähnten Mittelklasse belegen, wenn dafür auch, wie man sagen könnte, zwei Weltkriege notwendig waren. In der Tat beginnen sich die Werte bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen erst während dem Ersten Weltkrieg und dann ganz ausgeprägt während dem Zweiten Weltkrieg einigermaßen so einzupendeln, wie man das im Westen von den 60-er Jahren an kennen gelernt hat. Die Gegenbewegung in Richtung einer erneuten Ungleichheit setzte ungefähr mit der Machtergreifung der Neokonservativen in den Vereinigten Staaten in den USA ein; aber man kann davon ausgehen, dass es sich hier nicht einfach um eine politische Verschwörung handelte, sondern dass hier auch zum Ausdruck kommt, dass sozusagen ein erstes Mal der vollkommene Reifegrad einer industriellen Produktionsstufe erreicht wurde, ein Gleichgewicht zwischen den produzierten Gütern auf der einen Seite und der Kaufkraft der Konsumenten; von diesem Zeitpunkt an begannen andere Faktoren ein zunehmendes Gewicht zu spielen, namentlich die Entwicklungs- und Schwellenländer und in diesem Zusammenhang die Energiepreise, aber auch die Ausbildung der neuen Finanzindustrie, welche vermutlich eben ein Ausdruck des erwähnten Reifegrades der industriellen Produktionsstufe war. Die bisherigen Mechanismen waren ausgeschöpft und erlaubten keine Ausdehnung mehr, sodass der Sektor als Ganzes sich eigene Gesetze und Instrumente zu erfinden begann.

Heute sind wir gespannt darauf, ob der Finanzsektor in der Lage sein wird, nochmals eine solche Innovationskraft an den Tag zu legen; denn auf diesem Gebiet befinden wir uns erneut in einer Phase, in welcher alle bekannten Instrumente erschöpft sind; nach den Geschäftsbanken sind auch die Notenbanken, also die Nationalstaaten mit ihrem Latein beziehungsweise mit ihren Banknoten am Ende. Und ob die neuen digitalen Währungen und Transaktionsmechanismen wirklich neue Geschäftsmodelle schaffen oder erlauben und wenn ja, in welchem Umfange, darüber streiten sich die Experten.

Immerhin sind es am Schluss ja nicht die Experten, sondern es ist der Markt, welcher darüber entscheidet, ob neue Systeme und Mechanismen Bestand haben oder nicht, und diese Testphase ist im Moment für ganz unterschiedliche Erfindungen gerade am Laufen. Wir sind gespannt; vielleicht stellen sie sich uns schon in wenigen Jahren dar als Produkte, von denen wir meinen, wir hätten sie ja schon immer gekannt und genutzt.

Davon abgesehen nimmt der Vorwahlkampf in den USA jetzt so richtig Fahrt auf, und fürwahr, der Trumpdonald liegt noch immer im Rennen, was mich maßlos erstaunt, denn das müssen doch auch die Republikaner wissen, dass ein solcher Maulheld auch im Zeitalter von Facebook und Twitter und anderen schönen Multiplikationskanälen nicht zu gebrauchen ist. Ich zitiere diese Kanäle aus dem Grund, weil es im Moment offenbar gerade Mode ist, diese Medien zu nutzen, um all das, was einem die liebe Mutti und der gestrenge Vati an Mores ins Unterbewusstsein und auf den Hinterteil geprügelt haben, dann doch wieder komplett fahren zu lassen und die übelsten Ressentiments halb im Scherz und halb im Ernst und zu allem anderen hinzu noch als vermeintlich eigene Meinung in die Netze zu jagen. In diese Situation passt der Trump natürlich ausgezeichnet hinein, aber ein derartiger Kulturpessimist bin ich noch nie gewesen und werde ich nie sein, dass ich im Ernst daran glaube, dass ein ambulanter Scheißehaufen mit einem offen deklarierten Scheißehaufen-Programm zum Präsidenten einer demokratischen Nation gewählt wird. Das wäre ein derart eklatanter zivilisatorischer Rückfall, dass man einen vollkommen neuen theoretischen Apparat ersinnen müsste, um so etwas rein begrifflich überhaupt noch auszuhalten. Und da ich manchmal doch eher denkfaul bin, mag ich mich im Moment einfach nicht mit neuen theoretischen Apparaten herum schlagen. Mir reichen im Moment schon die Zahlenreihen von Thomas Piketty.