Ein Genozid, seine armenisch-türkische und auch deutsche Geschichte

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Der Bundestag will eine Resolution mit dem Titel: „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“ beschließen und riskiert damit den Zorn Ankaras. Was ist geschehen? Muss man überhaupt über die Geschichte abstimmen? Was Deutschland betrifft, so geht es auch um die Anerkennung eines Verbrechens, an dem Deutschland in mancher Hinsicht beteiligt war. Doch wer war wie beteiligt? Gibt es etwa eine Linie, die vom Völkermord an den Armeniern zum Holocaust führt? Fragen und Analysen und ein überraschendes Ergebnis.
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09:57 min, 9321 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.06.2016 / 13:01

Dateizugriffe: 79

Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Religion
Serie: Focus Europa Einzelbeitrag
Entstehung

AutorInnen: Jan Keetman
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 02.06.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Geschichte ist eine Möglichkeit für die Gegenwart zu lernen, aber häufiger wird sie für das Gegenteil verwandt, für die Rechtfertigung der Gegenwart. Eine offene Diskussion über die sogenannte Armenierfrage, schien eine kurze Zeit auch in der Türkei möglich, doch das scheint nun wieder vorbei zu sein. In der Zeit nach dem Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 haben sich viele Türkinnen und Türken persönlich für den Völkermord an der armenischen Minderheit im 1. Weltkrieg im Internet entschuldigt. Die offizielle Türkei reagiert aber weiter nur mit Entrüstung auf die historischen Vorwürfe gegen ihren Vorgängerstaat.

Das viele Türken den Völkermord an den Armeniern leugnen, ist kein Wunder. In der Schule haben sie gelernt, dass nicht die Armenier massakriert wurden, sondern Türkinnen und Türken von armenischen Banden umgebracht wurden. Armenische Racheakte hat es gegeben und hie und da wehrten sich auch armenische Gruppen. Doch diese Vorfälle ändern nichts daran, dass die Regierung der Mehrheit über eine Minderheit hergefallen ist. Wobei die Kriegssituation wohl mehr Gelegenheit als Ursache für dieses Vorgehen war. In einem Buch über die Opfer des 1. Weltkrieges, das der türkische Generalstab 1928 herausgegeben hat, wird die Zahl von 800 000 Toten für die armenische Minderheit genannt.

Das ist eher ein Minimum. Die Osmanische Regierung ging davon aus, dass die armenische Minderheit 1915 zwischen 1,2 Mio. und 1,7 Mio. Personen umfasste. Von denen, die nicht starben, waren viele Kinder, die in muslimische Familien übernommen wurden. Diese Familien durften zugleich den Besitz der Eltern übernehmen, wofür es ein eigenes Gesetz gab. Für die Mädchen bedeutete das in der Regel auch Zwangsheirat. Im Jahr 1916 wurde ein weiteres Gesetz erlassen, das Strafermittlungen gegen Beamte von der Einwilligung eines Vorgesetzten abhängig macht und bis heute gültig ist. Die plötzliche Deportation fast der gesamten armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches durch die syrische Wüste nach der Stadt Deir ez-Zor machte ohnehin nur Sinn, wenn man vom Tod dieser Menschen ausging.

Dabei hätte man in der Türkei auch Grund wenigstens auf diejenigen in der osmanischen Verwaltung stolz zu sein, die sich den gegen die armenische Minderheit gerichteten Befehlen widersetzten und dafür zum Teil mit dem Leben in jedem Fall aber mit ihrer Stellung bezahlt haben.

Doch nun zur deutschen Seite.

Das Osmanische Reich gehörte im 1. Weltkrieg zu den wenigen Verbündeten Deutschlands. Trotzdem hat der deutsche Botschafter Hans von Wangenheim mehrfach wegen des Schicksals der Armenier bei der jungtürkischen osmanischen Regierung protestiert. Gleichzeitig wurden Berichte über Massaker an der armenischen Minderheit in Deutschland zensiert. Wangenheim starb 1915. Sein Nachfolger Paul Graf Wolff Metternich zur Gracht protestierte noch massiver und drohte mit der Veröffentlichung seiner Informationen. Darauf wurde er von der Berliner Zentrale auf Wunsch der türkischen Seite abberufen.

Die Botschafter reagierten in einer Lage mit widerstreitenden Interessen. Das Osmanische Reich hätte vielleicht einen Separatfrieden mit den Alliierten aushandeln können. Die oft angenommene Abhängigkeit der Osmanen von dem ökonomisch stärkeren Deutschen Reich, war angesichts der Kriegslage bedeutungslos.

Andererseits belasteten die Berichte über den Völkermord auch Deutschland. Vor diesem Hintergrund sind die diplomatischen Proteste wohl zu sehen. Wolff Metternich war ohnehin ein Diplomat, der eher auf Ausgleich setzte. Immerhin protestierten Wangenheim und Metternich wenigstens, während der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau den ganzen Krieg über schwieg. Als die USA in den Krieg eintraten, erklärten sie dem Osmanischen Reich nicht auch den Krieg. Erst später schrieb Morgenthau ein Buch, in dem er sich als vehementen Verfechter der Sache der Armenier darstellt.

Viele Deutsche waren während des Krieges im Osmanischen Reich in einflussreichen Positionen, als Diplomaten, als Eisenbahner und nicht zuletzt auch als Offiziere in der Osmanischen Armee. Daraus hat sich die These ergeben, die Teilnahme der Deutschen am Völkermord an den Armeniern sei eine Art Vorstufe zum Holocaust gewesen.

Natürlich wusste auch Hitler vom Völkermord an der armenischen Minderheit. Die Sache war in den 20-ger Jahren kein Geheimnis, auch wenn es den Begriff Völkermord noch nicht gab. Dass die Alliierten ihre Ankündigung, die Verantwortlichen zur Rechenschafft zu ziehen, nach ein paar Jahren wieder vergessen hatten, registrierte Hitler ebenfalls. Insofern gehört der Genozid an der armenischen Minderheit sehr wohl in die Vorgeschichte des Holocaust. Doch von der oft behaupteten personellen Kontinuität kann keine Rede sein.

Ein scheinbar einleuchtendes Beispiel für einen Deutschen im Osmanischen Reich, der sich später dem Nationalsozialismus anschloss ist Max Erwin von Scheubner-Richter. Der Baltendeutsche beteiligte sich am Kapp-Putsch und lernte im Oktober 1920 Hitler kennen. Er wurde dessen außenpolitischer Berater und vermittelte Hitler betuchte Unterstützer, wie den „Stahlbaron“ Fritz Thyssen und die emigrierte russische Großfürstin Viktoria Fedorowna, die ihre Juwelen zu gunsten der NSDAP versetzte. Bei Hitlers Bierhallenputsch führte Scheubner-Richter neben Hitler, Göring und Ludendorff den Marsch zur Feldherrnhalle an. Dabei wurde er von der bayerischen Polizei erschossen. Er starb an Hitlers Arm.

Im Ersten Weltkrieg war Scheubner-Richter Vizekonsul in Erzurum. Er schrieb 15 interne Berichte über die Lage der Armenier an den deutschen Botschafter in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. In allen Berichten kritisiert er das Vorgehen gegen die Armenier und Armenierinnen. Mehrfach dringt er auf ein diplomatisches Eingreifen zu Gunsten der Armenier. Ihm Antwortet der deutsche Botschafter von Wangenheim, dass die türkische Regierung nicht mit sich reden lasse auch Ausnahmen von der Deportation würden nicht gemacht. Schließlich organisiert Scheubner-Richter wenigstens Lebensmittelspenden für Armenierinnen und Armenier, die an Erzurum vorbeigetrieben werden.

Gegenüber von Wangenheim argumentiert Scheubner-Richter mehrfach damit, dass die Deportation der armenischen Bevölkerung militärisch sinnlos, ja wegen des ökonomischen Schadens sogar kontraproduktiv sei. Doch sein persönlicher Einsatz für die armenische Minderheit geht weit über solche Erwägungen hinaus.


Es gab sehr wohl Deutsche, die einen Schulterschluss mit der jungtürkischen Regierung suchten und denen das Schicksal der armenischen Minderheit herzlich egal war. Zu nennen ist da der Publizist und Herausgeber mehrerer Zeitungen Ernst Jäckh. Jäckh stand während des 1. Weltkrieges zeitweise der deutsch-türkischen Vereinigung vor. Zugleich war er auch im Auswärtigen Amt tätig. Jäckh propagierte zusammen mit dem Archäologen Max von Oppenheim zu Beginn des Krieges eine Djihadisierung des Islam. Die Osmanische Regierung griff die Anregung Jäckhs und deutscher Orientalisten auf und rief alle Muslime zum heiligen Krieg gegen die Entente-Mächte, England, Frankreich und Russland auf. Bis dahin war der inflationäre Gebrauch des Begriffs „heiliger Krieg“ nicht üblich gewesen.

Auch für den türkischen Nationalismus hatte Jäckh volles Verständnis. Man müsse „türkischer als der Türke“ sein, wie Jäckh sich ausdrückte. Dabei war Jäckh sehr wohl davon unterrichtet, was vorging. Von einer Unterredung mit dem führenden Politiker der Jungtürken Talaat Pascha berichtete er laut den Akten des Auswärtigen Amtes:

„Talaat freilich machte keinen Hehl daraus, dass er die Vernichtung des armenischen Volkes als eine politische Erleichterung begrüße.“

Ein Gesinnungsgenosse von Jäckh war der Marine-Attaché Hans Humann. Einige der schlimmsten Zitate zum Völkermord an den Armeniern von Hans Humann sind nur durch den amerikanischen Botschafter Morgenthau überliefert. Es gibt gute Gründe, an Morgenthaus Zuverlässigkeit zu zweifeln. Doch seine Haltung brachte Humann auch in einem Brief an einen Landsmann, den deutschen Vizekonsul von Mosul, Walter Holstein zum Ausdruck. Holstein war empört über das Vorgehen gegen die armenische Minderheit. Am 10. Juni 1915 berichtete er Humann, 614 Armenier, die aus Diyarbakir verbannt worden seien, seien unterwegs sämtlich ermordet worden. Humann antwortete fünf Tage später:

„Die Armenier wurden jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart aber nützlich.“

Nach dem Krieg machte der Unternehmer Hugo Stinnes Humann zum Verlagsleiter der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ). In der DAZ rechtfertigte Humann weiter die Tötung der Armenier im 1. Weltkrieg.

Der Monarchist Humann hätte sicher auch das Zeug zu einem Nazi gehabt. Eine direkte Verbindung zur NSDAP hatte er aber nicht. Er starb 1933.

Ganz und gar nicht zum Nazi wurde hingegen Ernst Jäckh. In Weimar setzte er sich für eine demokratische, weltoffene Republik ein. Nach der Machtübernahme der Nazis emigrierte er nach Großbritannien und später in die USA.

Bei näherem Hinsehen gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Haltung der Deutschen im Osmanischen Reich zum Völkermord an den Armeniern und ihrem späteren Verhältnis zum Nationalsozialismus. Im Grunde ist das noch schockierender als die These von der Kontinuität auf deutscher Seite.




Kommentare
03.06.2016 / 20:00 AL, coloRadio, Dresden
wurde
heute gesendet. Danke.