Wahlboykott im Kosovo? – Kosovska Mitrovica wenige Tage vor den Parlamentswahlen (fuer zip-FM)

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Anmoderation (nicht enthalten):

Am kommenden Wochenende (23.10.) wird im internationalen Protektorat Kosovo ein neues Übergangsparlament gewählt. Dieser Vorgang wäre nichts Außergewöhnliches, wenn es nicht vor einem halben Jahr eine Gewaltwelle gegen die nicht-albanische Bevölkerung unter den Augen von UN und NATO gegeben hätte. Zudem sollen im nächsten Jahr die Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina über die heikle Statusfrage begonnen werden. Somit wird am kommenden Samstag weniger das Ergebnis der Wahl interessieren, als die Frage, ob die serbische Minderheit an den Wahlen teilnehmen wird. Ein Boykott wäre ein Rückschlag für die internationale Gemeinschaft. Dementsprechend groß war in den vergangenen Wochen der Druck auf Belgrad und die Kosovo-Serben. Stefan Tenner hat sich dazu in der im Norden Kosovos gelegenen Stadt Kosovska Mitrovica umgehört.
Audio
07:44 min, 3622 kB, mp3
mp3, 64 kbit/s, Stereo (22050 kHz)
Upload vom 20.10.2004 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: interaudio.org
Entstehung

AutorInnen: Stefan Tenner
Radio: corax, Halle im www
Produktionsdatum: 20.10.2004
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Beitragstext:

„Sorgen sie für eine faire Wahl!“ lauten seit Wochen die Spots für die Parlamentswahlen im Kosovo. „Achten sie auf die Wählerlisten, ob dort auch alles mit rechten Dingen zugeht“, rät die Wahlkommission. Hinter dieser gut gemeinten Aufklärungskampagne im serbisch-sprachigen lokalen Fernsehen in der Stadt Kosovska Mitrovica steckt natürlich auch die klare Botschaft wählen zu gehen. Denn dies ist unter den gegenwärtigen Bedingungen alles andere als gesichert.

O-Ton1: Es ist für uns nicht sicher, ob wir viel beeinflussen können über die Dinge die passieren werden. Ich denke die meisten Serben werden nicht zu den Wahlen gehen. Wenn wir teilnehmen belegen wir damit, dass wir Teil dieser Gesellschaft sind. Aber Serben sind gegen ein unabhängiges Kosovo und wir glauben nicht, dass wir unseren Platz in dieser Gesellschaft in einem unabhängigen Kosovo finden werden. Wenn jemand einen Staat mit Gewalt machen will, wollen wir zeigen, dass wir dagegen sind. Das ist unsere Möglichkeit zu zeigen, was wir fühlen und denken. Es müssen also erst viele Dinge gelöst werden, bevor wir daran teilnehmen.

Sagt Sascha Gvozdic aus dem serbischen Norden von Kosovska Mitrovica. Er ist einer der wenigen Aktiven hier, die in der Vergangenheit der ethnischen Teilung der Stadt mit zivilgesellschaftlichen Aktionen etwas entgegensetzt haben. Seit der Gewaltwelle im März gegen die nichtalbanische Bevölkerung ist er sehr pessimistisch, denn grundlegende Menschenrechte werden seit Jahren missachtet. Was wären die wichtigsten zu lösenden Probleme?

O-Ton2: Als erstes wäre es natürlich die Sicherheit, für alle Menschen, die hier in Kosovo leben. Das sich jeder überall frei bewegen kann. Das ist der erste Schritt. Das nächste ist, dass es allen die das wollen ermöglicht werden muss, in ihre Häuser und auf ihr Land zurück zu kehren. Es muss die Möglichkeit geben eine gute Bildung zu haben in der eigenen Sprache und die Möglichkeit arbeiten zu können. Das sind die wichtigsten Vorraussetzungen, damit wir hier bleiben können. Wenn das geregelt ist, können wir über den Rest diskutieren.

Kosovska Mitrovica ist erst seit 5 Jahren eine ethnisch geteilte Stadt die seit dem Sommer 1999 auch zu einem Zufluchtsort für viele Flüchtlinge geworden ist. Mit dem Abzug der serbischen Sicherheitskräfte und dem Einzug von UN und NATO kamen auch tausende serbische Flüchtlinge aus dem Süden hierher. Sie flohen in den mehrheitlich serbisch bewohnten Norden des Kosovos oder nach Zentralserbien, die serbische Provinz Vojvodina oder Montenegro. Bis zu 200.000 Serben und Roma warten derzeit auf Rückkehr. Eineinhalb Millionen geflohene oder vertriebene Albaner konnten hingegen damals innerhalb weniger Monate wieder zurückehren. Die gewalttätigen Ereignisse vor einem halben Jahr, führten nun zu einer erneuten Fluchtwelle der nichtalbanischen Bevölkerung.

O-Ton3: Es war ein humanitäres Desaster. Die Leute verließen ihre Häuser, lediglich mit dem was sie anhatten. Hatten sie Hosen oder Schuhe, dann hatten sie nur das und nichts weiter. Die Mehrzahl kam hier nach Mitrovica ohne Dokumente. Sie wohnen seitdem in Gemeinschaftsunterkünften. Das bedeutet konkret im städtischen Gymnasium. Das sind einige hundert die dort unter schlechten Bedingungen leben müssen. Es gibt kein Bad, keine Wasserversorgung. Die einzige Wasserquelle ist die Schultoilette. Es gibt dort keine Möglichkeit Wäsche zu waschen oder zu Kochen.


Berichtet Tatjana Jaksic vom Vertriebenen-Informationszentrum aus Mitrovica, einer internationalen Organisation die die Flüchtlingszahlen und wichtige Informationen von den Vertriebenen erfasst. Niemand sei damals auf die Massen vorbereitet gewesen und bislang sei an eine Rückkehr nicht zu denken, sagt Tatjana sichtlich erregt. Der Aufbau der zerstörten Wohnhäuser hat die Regierung in Pristina bis Ende des Jahres versprochen, doch Tatjana die in Mitrovica geboren und aufgewachsen ist bleibt gegenüber solchen Aussagen skeptisch.


O-Ton4: Wir leben hier im Moment, von heute auf morgen. Es gibt keine Pläne für die Zukunft. Die meisten Serben werden versuchen Land oder ein Haus in Serbien zu kaufen, im Falle, dass die Märzunruhen sich wiederholen. Selbst wenn die Serben den Wunsch haben in ihren Häusern weiter zu leben, denn es ist auch unser Land und wir wollen nicht gehen. Aber wir haben Angst dass wir dazu gedrängt werden gehen zu müssen.

Somit sieht Tatjana wenige Gründe, der Politik die in Pristina gemacht wird, zu vertrauen. Sie halte sich aus der Politik heraus. Ob sie aber zu den Parlamentswahlen am kommenden Wochenende gehen wird, beantwortet sie nur indirekt.

O-Ton5: Als normaler Bürger habe ich die Möglichkeit, meinen eigenen Willen ausdrücken. Ich bin gegen Repräsentanten, jeglicher Nationen, wenn ihnen kein Freiraum zum arbeiten gewährt wird und sie kein Ergebnis erreichen. Ich sehe kein Ergebnis der serbischen Abgeordneten im Kosovo-Parlament. Selbst wenn wir den stellvertretenden Platz im Parlament hatten. Ich sehe keine Chance für diese Leute, einen Einfluß auf die strategische Gestaltung des Kosovos zu haben. Wenn es dazu kein Ergebnis gibt, was ist dann der Sinn?

Auch auf der anderen Seite des Flusses Ibar, der die Stadt ethnisch und geographisch teilt, ist die Teilnahme der Serben an den Wahlen ein Thema. Wenn auch ein zweitrangiges. Im südlichen, ausschließlich albanisch bewohnten Mitrovica, direkt an der von französischen KFOR-Soldaten bewachten zentralen Brücke und die in den letzten Jahren zum traurigen Symbol der Stadt geworden ist, hat die albanische Organisation CBM ihren Sitz. Deren multiethnischen Projekte liegen seit dem März faktisch auf Eis. Leiterin Valdete Idrizi.

O-Ton6: Ich weiß nicht, was ich von den Wahlen erwarten soll. Ich hoffe nur, dass die Serben wählen gehen werden. Denn es geht um die Unterstützung von uns allen. Es ist nicht für deren Unterstützung. Aber ich bin nicht sehr optimistisch, dass eine große Anzahl von Serben hingehen wird. Aber letztlich doch mehr als vergangenes Mal. Ich denke, es kann nicht schlimmeres geben, als das was getan wurde. Ich hoffe, dass die Politiker, von all diesen Fehlern gelernt haben. Und das es nicht zur selben Situation kommt. Und Ich. Ich habe mich noch nicht entschieden, wem ich die Stimme geben werde.

Abgesehen von der schwierigen Situation im Kosovo hat der internationale Druck des Westens auf Belgrad und die Kosovo-Serben hat in den vergangenen Wochen das monatelange relativ ruhige innenpolitische Klima in Serbien grundlegend verschärft. Die sich gegenüberstehenden Positionen der serbischen Regierung und des pro-westlichen serbischen Präsidenten Boris Tadic der sich für eine Wahlbeteiligung ausgesprochen hatte, erinnert an die Politik die nach dem Sturz der Regierung unter Milosevic einsetzte und im vergangenen Jahr in vorzeitigen Parlamentswahlen endete. Der Misstrauensantrag der fraktionsstärksten und gleichzeitig oppositionellen Radikalen Partei gegen Tadic, könnte im Falle eines Referendums nun den Sturz der amtierenden serbischen Regierung unter Premier Kostunica bedeuten. Ein erneuter Auftrieb der rechten Nationalisten scheint damit bevorzustehen. Noch einmal Sascha Gvozdic zur Politik des Westens.


O-Ton7: Ich denke das das kein guter Weg ist, zu versuchen Einfluss auf die serbische Gesellschaft auszuüben. Wir hatten viele Probleme in den letzten fünf Jahren, nun zu drängen, wäre nicht sehr sinnvoll. Wenn man nur über die Anzahl der Kosovo-Serben außerhalb Kosovos denkt und denen die hier sind. Wir haben kaum Einfluß auf Entscheidungen wohin sich diese Gesellschaft entwickeln wird. Also warum? Warum sollten wir dann einige wenige Serben im Parlament haben damit man hinterher sagen kann, das die Serben alle Pläne akzeptieren würden. Es gibt nicht genug Gründe an dieser Wahl teilzunehmen.