"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Neue Systeme Denken

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Er ist wieder da!, vielmehr: Er ist immer noch da!, oder auch: Er war gar nicht weg! ...
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11:21 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.11.2016 / 11:32

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.11.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... und damit meine ich dieses Wesen jenseits jeglicher kultureller oder anthropologischer Vorstellung, das sich in Menschenform des Amtes des US-amerikanischen Präsidenten bemächtigt hat und das ich jetzt einfach gerne für die nächsten vier Jahre ausblenden möchte und auch ausblenden werde, nachdem ich noch folgende Feststellungen getroffen habe: Es kommt überhaupt nicht drauf an, welche Figu­ren dieses Ding in sein Kabinett beruft, es kommt nicht drauf an, ob es seine Ableger, welche es als Familie bezeichnet, als Berater oder Minister oder Suppenköche im Weißen Haus beschäftigt, es kommt nicht darauf an, was er rauslässt, wichtig ist nur, was er dann letztlich tut, und damit will ich mich hin und wieder beschäftigen, aber ansonsten bleibt mir vom Leib mit ihm, und auch er selber soll mir vom Leib bleiben, nämlich verschwinden von den Titelseiten und aus den Schlag­zeilen. Ich bitte alle Journalistinnen und Journalisten und alle Verlegerinnen und Verleger, nichts von dem Ernst zu nehmen, was direkt von ihm und rund um ihn produziert wird, und gar etwa empört oder eben einfach überhaupt zu reagieren darauf – das ist alles Bullshit. Dieses Dingsbums muss sich in die Präsidentschaftscharge erst noch eingewöhnen, es hat selber noch keinen blassen Schimmer von so etwas wie einer Politik. Lasst den einfach seine Verlautbarungen verlautbaren und schaut daneben einfach auf das, was sich sonst ereignet. Sehr schön würde mir zum Beispiel eine transpazifische Freihandelszone gefallen, welche alle Staaten mit Ausnahme der Vereinigten umfassen täte und wie sie die Chinesen nicht ohne Sinn für Humor vorgeschlagen haben. Ansonsten aber – Schwamm drüber, bevor es überhaupt losgelegt hat. Mein Charakterkostüm ist zu dünn für einen weiteren Berlusconi, und ich spreche hier allein von der Dauerpräsenz in den Medien. Gammelfleisch zu Gammelfleisch, Extraterrestrier zu Extraterrestrier und so weiter.

Wir haben uns noch andere Dinge zu überlegen. Die Wut der Verlierer der Automatisierung und Globalisierung zum Beispiel, welche in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa für das Auf­kommen reaktionärer, nationalistischer und mancherorts neofaschistischer Tendenzen verant­wort­lich gemacht wird. Zahlreiche Kommentatoren rügen die politische Linke dafür, dass es ihr nicht gelungen ist, diese Verliererinnen der Globalisierung für ihr linkes Projekt zu mobilisieren, dass die Linke stattdessen viel stärker auf den Mittelstand, auf Akademikerinnen und Lehrerinnen und the­ma­tisch auf die Umwelt gesetzt hätte anstelle der Arbeitsplätze. Diese Kritik muss man gelten lassen. Das Problem liegt aber darin, dass die Linke gar kein politisches Projekt mehr hat. «Die Linke», das ist in der Substanz nicht der wachstumskritische oder antiimperialistische oder links­extreme Flügel, sondern das ist die Sozialdemokratie, und die Sozialdemokratie hat sich schlicht und einfach durchgesetzt. Wir leben seit, sagen wir mal fünfzig Jahren unter sozialdemokratischen Bedingungen. Der angebliche Siegeszug des Neoliberalismus seit den 1980-er Jahren mit Dere­gu­lie­rung und Privatisierung öffentlicher Güter und so weiter und so fort wurde vom sozial­demo­kra­ti­schen System ganz einfach aufgesaugt. Selbstverständlich gibt es verschiedene unglückliche Übun­gen und Erfahrungen, zum Beispiel die Deutsche Bahn, welche demnächst wieder verstaatlicht werden muss, damit sie ihr Schienennetz imstand halten und neue Fahrzeuge erwerben kann, aber grundsätzlich hat der Sozialstaat alles andere als abgedankt. Und deshalb gilt: Für Sozialde­mo­kra­ten gibt es unter den Bedingungen der Sozialdemokratie kein Projekt, das über die Sozialdemokratie hinausgeht.

Bloß hört die Geschichte nicht auf mit dem Erreichen der sozialdemokratischen Gesellschaft. Die Automatisierung, Globalisierung, internationale Arbeitsteilung haben die gesamte Welt von der Struktur her auf den Kopf gestellt, und zwar in erster Linie in der Frage, aufgrund welcher Kriterien denn der allgemeine Reichtum an Gütern zu verteilen sei, wenn es keine produktiven Arbeiten mehr gibt. Früher galt das ökonomische Einmaleins, wonach der Ertrag der Produktion in bestimmten Verhältnissen aufzuteilen sei zwischen Arbeit und Kapital. Heute ist gar keine Arbeit mehr vorhanden. Zudem haben die Produkte wegen der Automatisierung praktisch nur noch Wert aus dem Transport und aus dem Verkauf, wobei der Internet-Handel diese Wertschöpfung am Schluss auf den reinen Transport schrumpfen lässt. Im Prinzip. Solange man also die Kaufkraft nach den Regeln des industriellen Kapitalismus verteilt, während aber die Strukturen des industriellen Kapitalismus gar nicht mehr existieren, entstehen Probleme, für welche das ökonomische Einmaleins keine Zahlen mehr hat, und da sich das ideologische und das politische Einmaleins seit den Zeiten des industriellen Kapitalismus am ökonomischen Einmaleins richten, entstehen die Probleme an der gesamten Front. Das große Einmaleins ist außer Kraft gesetzt.

Umgekehrt lehrt uns die Erfahrung, dass das System deswegen nicht zusammengebrochen ist oder mindestens noch nicht. Wenn die Aussichten mit den reaktionären Nationalistinnen und Nationalisten tatsächlich so düster sind, wie es manchmal den Anschein hat, dann würde der Zusammenbruch von dieser Seite her drohen in einem hilflosen Ausschlagen, einem Zucken des Volkskörpers, welcher ansonsten kein Bewusstsein mehr hat und nicht mehr weiß, was er tut. Mit einem fortschrittlichen oder eben linken Ansatz ist nicht zu rechnen, wie erwähnt, weil die sozialdemokratische Linke ihren Zenith erreicht hat.

Die für mich wahrscheinlichste Entwicklung ist jene, dass sich das System irgendwie weiter entwickeln wird auf der Basis eines mehr oder weniger pragmatischen Gewurschtels. Auf dieses Wursteln wird dann ein ökonomisches Einmaleins aufgesetzt, welches wiederum als Grundlage des ideologischen und politischen Einmaleins dient, weil wir halt im Moment nichts anderes kennen. Wenn dies der Fall ist, dann wird sich der reaktionäre und nationalistische Fervor bei Gelegenheit wieder einmal legen, insbesondere dann, wenn es gelingt, die Existenz nicht der Mehrheit, sondern der Gesamtheit der Menschen in der Gesamtgesellschaft einigermaßen zu sichern. Dass ich hier nicht zuletzt an ein bedingungsloses Grundeinkommen denke, versteht sich von selber, und in diesem Kontext wird auch ersichtlich, dass das bedingungslose Grundeinkommen zwar eine gute und notwendige Sache ist, dass es aber keineswegs die Probleme löst, die sich aus der Spannung zwischen der vollautomatisierten globalisierten Produktion zum einen, dem Mangel an Verteilsystemen wegen des Wegfalls des Verteilmechanismus Lohnarbeit ergeben. Hier muss angesetzt und nachgedacht werden.

Bisher hat sich das System als so flexibel erwiesen, dass es andere, früher nannte man sie Umweg-Tätigkeiten erfunden hat, welche es als Lohnarbeit instauriert hat und ausgibt, während sie in Tat und Wahrheit reinen Nonsense darstellen, also immer gemäß dem alten ökonomischen Einmaleins. Die Administration, Marketing, PR und Werbung und Beratung und so weiter und so fort sind strikt gesehen reine Ausschuss-Tätigkeiten, welche in einem idealen Markt auf ein Hundertstel ihrer aktuellen Ausmaße reduziert werden können. Aber selbstverständlich besteht hier eine Möglichkeit, Geld unter die Leute zu verbringen. Der Schein wird gewahrt, wir können weiterhin so tun, als würden wir unter den Bedingungen der industriellen Wertschöpfung mit unzähligen bezahlten Arbeitsplätzen leben. Ich weiß gar nicht, ob ich das hier schon erwähnt habe, aber seit ungefähr einem Jahr zählt man zum Beispiel in der Schweiz zum ersten Mal in der ganzen Geschichte dieses Landes über 5 Millionen Erwerbstätige. In einem Zeitalter der kompletten Automation ist so etwas komplett absurd. Aber das System funktioniert. Eventuell erweist sich diese künstliche Beschäftigungstherapie für eine ganze Gesellschaft als beständig, so wie es auch möglich ist, dass eines Tages die Kapitalmarktblasen zu einer tragfähigen Grundlage für die Welt des Geldes werden, dass also keine Finanzmarktkrisen mehr eintreten wie jene vor bald zehn Jahren.

Aber vielleicht ist dies auch nicht der Fall, man weiß es schlicht nicht. Jedenfalls hätte man heute theoretisch die Möglichkeit, ein System neu zu entwerfen, welches nach einer Übergangszeit anstelle des phantom-industriellen Systems treten würde. Bei allen Schwierigkeiten, die hier bestehen, in erster Linie die Berücksichtigung jener tausend verschiedenen Ebenen, Gruppen, Schichten, Interessen und so weiter, die sich unter anderem dank den modernen Kommunikations­mitteln entwickelt haben, wäre es für die meisten Menschen absolut hilfreich, wenn sie sich mit einer solchen Vorstellung eines künftigen Systems beschäftigen könnten. Man braucht das ja in diesem Stadium noch nicht mal als die abschließende Weisheit zu präsentieren.

Beziehungsweise und angesichts der aktuellen Kommunikationskanäle muss man sagen, dass man so etwas im Moment vermutlich wider jegliche vernünftige Einsicht als abschließende Weisheit präsentieren müsste und darauf spekulieren müsste, dass man die laut schreienden, aber unartikulierten Massen irgendwie in eine Unterstützung kanalisieren könnte. In diesem Punkt stellt sich sowieso das größte Problem, auch in jenem Fall, dass sich das System wie gehabt perpetuieren wird: Wie geht man um mit einer Masse von Menschen, welche weder Lust noch Übung haben zu denken? – Denn dies ist offensichtlich die Reaktion in erster Linie der reaktionären und nationalistischen Bevölkerungsschichten darauf, dass sie den Eindruck haben, von den herrschenden Schichten und ihren Clowns in den Medien und in der offiziellen Kultur dauernd verarscht zu werden. Unter uns gesagt: Das werden sie ja auch, das werden wir alle, aber davon sollte man sich eigentlich nicht beeindrucken lassen. Die einzige Lösung und der einzige Weg in jede einzelne Zukunftsvariante, egal ob mit einem neuen Systemvorschlag oder mit dem alten Gewurschtel, bestehen darin, selbständig denken zu können. Dass es dann am Schluss niemals ganz gelingen kann, damit muss man sich abfinden, aber gerade wenn man das weiß, funktioniert das selbständige Denken schon ganz ordentlich.

Dagegen ist es der blanke Horror, wenn man die verzerrten Gesichter von jungen und alten weißen Männern sieht, wie sie Parolen brüllen und dabei mit ihren viel sagenden Fingern viel sagend fuchteln. Dies ist die wahre Ent-Individualisierung, welche schon vor achtzig Jahren funktioniert hat. Sie funktioniert übrigens nicht nur bei Neonazis, sie funktioniert auch bei vielen anderen Zusammenrottungen, wo nicht ein striktes Denkgebot für alle Teilnehmenden gilt.

Nur Denken hilft, soviel ist klar. Und unter dieser Voraussetzung kann man dann sagen, dass wir eigentlich in einer extrem spannenden Zeit leben. Wann hat es das je gegeben, dass man sich über die zukünftige Gestalt der Gesellschaft mehr oder weniger unbegrenzt freie Gedanken machen kann? Soweit es darum geht, die Warenzirkulation mit dem Einschießen von Geld am Laufen zu halten, könnte man dieses Geld ja nach wechselnden Kriterien verteilen, einen Monat nach Blutgruppe, einen Monat nach Haarfarbe, einen Monat nach Geschlecht, einen Monat nach Körpergröße und so weiter und so fort. Aber selbstverständlich gibt es auch Geldverteilsysteme, welche nach wie vor den Eindruck erwecken, gerecht zu sein, zum Beispiel nach Leistung. Dass sich diese Behauptung, nämlich die Leistungsgerechtigkeit, bis zum heutigen Tag derart massiv in unseren Köpfen hält, das ist eine der absurdesten Leistungen der Weltgeschichte.

Kommentare
22.11.2016 / 18:03 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
bermuda.funk
lief im Sonar am 22.11.. Vielen Dank!