"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Charlie Hebdo deutsch

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Vor zwei Wochen ist sie erschienen, die erste deutschsprachige Ausgabe von Charlie Hebdo. Sie zeigt auf den ersten beiden Seiten, welche Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland im Umgang der Öffentlichkeit mit ihren Autoritäten bestehen.
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10:13 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 13.12.2016 / 14:02

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 13.12.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Noch nie habe ich eine derartige Konzentration von Merkel-Karikaturen und Verspottungen auf so engem Raum gesehen. Selbstverständlich macht sich die Titanic regelmässig über die Frau Bundeskanzlerin lustig, zum Beispiel auf dem Titelbild der Dezem­ber-Ausgabe, wie sie ihrem Präsidenten in Spe in die Unterhosen langt; oft muss sodann auf der fotografischen Ebene der Hitler herhalten als Merkel-Spiegelung, weil der Titanic immer Hitler einfällt, wenn ihr nichts sonst einfällt, und in den Zeichnungen geht es immer wieder respektlos zu und her, aber niemals so insistent und geballt wie beim Charlie. Das Titelbild zeigt Angela Merkel auf dem Autoheber in einer Autogarage, wo ihr gerade ein neuer Auspuff montiert wird, das reiche dann aus für vier weitere Betriebsjahre. «VW steht hinter Merkel», heißt die Überschrift. Auf Seite zwei finden sich ebenfalls unter dem Rubrum der erneuten Kanzlerkandidatur neun Bilder, von nackig bis zum Trabi-Look und unter dem Titel: «Nur noch vier Jahre, um sie lieb zu gewinnen». Dann ist aber Schluss mit Deutschland, es folgen verschiedene Gallica, vor allem zu den bürgerlichen Vorwahlen mit dem Sieger Fillon. Ein Faltblatt in der Mitte der Ausgabe enthält ein vierseitiges Deutschland-Special: «Raben­mutti und Vaterstaat: Wer lebt glücklich in Deutschland?» Hier werden einige Stereotype hübsch aus­gearbeitet und ausgebreitet, die in erster Linie eines nicht sind: lustig oder satirisch oder gar bissig. Sogar der Zeichenstil hat nichts vom Biss des französischen Originals. Solche Kategorien bleiben den weiteren Nachrichten aus Frankreich vorbehalten. Den Schluss bildet wieder ein Bilderkabinett, ähnlich jenem von Frau Merkel auf Seite 2, diesmal mit dem Schwergewicht auf dem verstorbenen Fidel Castro.
Die spezifisch französische Darstellungsweise ergibt sich aus der Betrachtungsweise, die wiederum ein Ergebnis der realen Erfahrungen mit der Politik ist, und die sind in Deutschland offensichtlich anders als in Frankreich. Der Zentralismus bildet schon rein geografisch kein so prägendes Element, und vor allem ist die wirtschaftlich-politische Elite in Deutschland tausend Mal diskreter als in Frankreich und bildet auch im Verwaltungsapparat und bei der Vergabe von Aufträgen keine vergleichbaren Filz­knäuel, Machenschaften und Schummeleien aus wie in Frankreich. In der Beziehung muss man noch vor dem Charlie Hebdo vom Canard Enchaîné sprechen, jener Vitriol-Schleuder, welche aus der Ver­wal­tung stets mit den neuesten Skandalen alimentiert wird; ich persönlich bin überzeugt davon, dass der Canard Enchaîné eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle überhaupt spielte für den abtre­ten­den Präsidenten François Hollande. Er wollte sich nämlich von seinen Vorgängern aus dem post­gaul­lis­ti­schen Lager in erster Linie dadurch abheben, dass er keinerlei Futter für dieses Marktblatt für Polit­skandale lieferte. Das ist ihm auch weitgehend gelungen, aber er hat nicht realisiert, dass der Canard Enchaîné eben kein Moralblatt ist, obwohl er so tut als ob.

Wenn ein französischer Präsident ein richtiger Präsident ist, dann muss er auch über die Fähigkeit verfügen, hinter den Kulissen zu regieren, und das kann durchaus heißen, jene Ebene bedienen zu können, wo Entscheidungen aufgrund von persönlichen Interessen getroffen werden. Insofern braucht eine erkennbare Absicht zur persönlichen Bereicherung durchaus noch nicht gegen das Interesse des Staates zu verstoßen, und eine Enthüllungsgeschichte des Canard Enchaîné wie zum Beispiel jene über zwei Diamantengeschenke des zentralafrikanischen Diktators Jean-Bedel Bokassa an Valéry Giscard d’Estaing, zuerst als Finanzminister und dann als Präsident der Republik, in den 70-er Jahren mag den Präsidenten vielleicht irritieren, aber insgesamt schadet sie dem Ansehen des Landes nicht, vielleicht mit Ausnahme von Vögeln wie Jacques Chirac, der den Bogen dann doch ziemlich stark überspannt hat. Aber insgesamt ist es besser, hin und wieder vom Canard Enchaîné irgendwelcher weniger bedeutender Vergehen angeklagt zu werden, die man unter dem Rubrum der Staatsräson wegsteckt, als dass man überhaupt nichts tut, was der Anklage wert wäre – das hieße, man ist letztlich nicht fähig, die Geschicke des Landes zu bestimmen, denn dazu gehört eben der Gesetzesbruch bis zu einem gewisse Maße.

So etwas kann in Deutschland überhaupt kein Thema sein, und aus diesem Grund nimmt es mich wirklich wunder, ob der Charlie eine Leserschaft findet in Deutschland, ob er sich anpasst, ob er Enthüllungsgeschichten vorfindet und so weiter und so fort. Es wäre eher überraschend.

Grundsätzlich ist man sich eher daran gewohnt, die Frau Bundeskanzlerin mit Respekt behandelt zu sehen – oder dann aber mit einem Hass, der keine Satire zulässt. Manchmal verwechselt man die entsprechenden bildlichen Darstellungen von Angela Merkel und weiteren Mitgliedern der Bundesregierung mit satirischer Überzeichnung, aber damit haben sie natürlich nichts zu tun, ebenso wenig wie der Charlie. Wie auch immer: An den Zeichenstil von Charlie Hebdo kann man sich gewiss gewöhnen, aber wenn den Zeichnungen weiterhin kaum spezielle Themen aus Deutschland selber zugrunde liegen, dürfte das Experiment bald abgebrochen werden.

Ja, habt ihr denn keine Skandale, Himmel Herrgott Sakrament? Abgasskandal? Bankenrettung und Schummeleien im großen Umfang von Bankdirektoren, die auch bei Frau Merkel ein und aus gingen? Ein Finanzminister, welcher in Europa zu Recht zum Sündenbock geworden ist für die Austeritäts­politik gegenüber dem Süden, deren politische Dimension in erster Linie in Griechenland angesichts der zugespitzten Lage in der Türkei immer deutlicher hervortritt?

In der Türkei gehen die Dinge ihren Weg. Es versteht sich, das man Anschläge wie am letzten Wo­chen­ende grundsätzlich nicht gut finden kann, aber ich fürchte, ein Ende ist nicht abzusehen, insbe­son­dere wenn man sich vergegenwärtigt, dass die türkische Armee in den kurdischen Gebieten schon längst wieder ihren Krieg führt gegen, nun, ich weiß nicht genau gegen wen. Die Meldungen über die Gräueltaten der türkischen Streitkräfte zum Beispiel im türkisch-kurdischen Cizre werden von den eingebetteten Medien in Europa regelmäßig überdeckt vom Gejammer über Aleppo und Konsorten beziehungsweise über die unerträgliche Repression des Diktators Baschir Al Assad. Dabei versucht türkische Führung zu beweisen, dass man auch im 21. Jahrhundert mit nackter Gewalt politische Ziele erreichen kann. Daran zweifle ich stark. Der aktuelle Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung erzeugt weder Verständnis noch Freundschaften. Und wenn sich die Anschläge dann häufen, bleibt dem Oberpaschel nur noch übrig, auch sein letztes Faustpfand einzulösen und den Öcalan hinzurichten. Dann ist der Salat ganz gekocht.

Ich muss sagen, dass ich das nicht verstehe. Eigentlich schien der Weg gangbar, den Erdogan vor mehr als zehn Jahren eingeschlagen hatte. Vielleicht liegt der Grund für die Verschärfung der Gangart des türkischen Staates gegenüber den Kurden beziehungsweise, sagen wir es so, wie es ist: Die Wieder­eröff­nung des Bürgerkriegs gegen die Kurden darin, dass nach dem Kurdenstaat im Irak nun auch in Syrien eine kurdisch besetzte Zone entstanden ist, welche Erdogan als viel größere Bedrohung emp­findet als den Islamischen Staat. Möglich, aber für einen richtig tiefen Frieden unter einem richtig mächtigen Diktatorenpräsidenten wird dies nicht ausreichen. Im Fall der Kurden sind nämlich nicht einfach Rebellen am Werk, die von irgendwelchen Großmächten nach Belieben aktiviert oder deakti­viert werden, sondern die Kurden haben sich auch in der neuesten Zeit stets als Volksgruppe kons­ti­tuiert, und diese Bindungen sollte man auch unter den Bedingungen eines modernen Staates respek­tieren. Wie gesagt: Vor mehr als zehn Jahren schien man in der Türkei auf gutem Weg dahin, aber jetzt sieht es düster aus.
Daneben wollte ich eigentlich kein Wort mehr verlieren über den Schafseckel in den Vereinigten Staa­ten, aber wenn ich mir so angucke, wie der seine Regierung zusammenstellt, überkommt mich doch das Glucksen und Lachen. Er verhält sich bei der Auswahl seiner Minister nicht nur wie der Präsentator einer Castingshow, sondern seine Nominationen auch exzellent. Der Exxon-Boss soll Außenminister werden, habe ich gelesen, aber ich hoffe doch, dass der Schafseckel ihn eher zum Umweltminister macht. Die ganze Truppe von Goldman Sachs tanzt im Weißen Haus herum, es ist eine wahre Freude. Man müsste eigentlich Eintritt bezahlen und soll in erster Linie ganz einfach das Spektakel genießen, das uns der Schafseckel da serviert. Davon hätte man bei der fröhlichen Clinton mit Sicherheit nichts gehabt. Der Schafseckel ist ein Clown, und zwar ein echter, kein Horror-Clown. Mehr davon, bitte.

Und noch ein Nachtrag zu Fidel Castro: Neben jenen Zeitgenossen, welche die linke Hirnhälfte sowieso nie gebrauchen, weil sie unter Kommunismusverdacht steht, haben sich auch ein paar vermeintlich unabhängige Kommentatorinnen und Kommentatoren über die unermesslichen Gräueltaten des langjährigen kubanischen Staatschefs geäußert. Ich zweifle gar nicht daran, dass unter seinem Regime unschuldige Menschen im Gefängnis saßen oder sogar hingerichtet oder ermordet wurden. Wie viele es waren, weiß ich nicht. Dagegen weiß ich, dass in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch andere mehr oder weniger obskure Reaktionäre ziemlich viel daran setzten, Fidel Castro zu ermorden und Kuba zu befreien. Bei solchen Nachbarn und solchen Gegnern hat man allen Grund, einen wachsamen Geheimdienst zu halten. Das zentrale Element sehe ich nicht hier, sondern in der Tatsache, dass es den Kommunistinnen und Kommunisten auf Kuba nicht nur gelungen ist, die tödlich langweiligen Ansprachen von Fidel Castro irgendwie zu überleben, sondern ein Bildungs- und Gesundheitswesen aufzubauen, das seinesgleichen sucht in der Region, zum Teil inklusive der Vereinigten Staaten von Amerika, und dass es in diesem wirtschaftlich nicht besonders begünstigten Land trotz allem nicht zu vergleichbaren Ungleichheiten und vor allem nicht zu vollendeter Armut und zu Elend gekommen ist. Dass die Familie Castro ihre Schäfchen im Trockenen hat, unter anderem durch Beteiligungen am neuen Hochseehafen, der laut Plan zu einem Handels-Drehpunkt in der Karibik werden soll, daran kann kein Zweifel bestehen. Aber insgesamt ist die Leistung der kommunistischen Partei Kubas und ihrer Führung in mehrerer Hinsicht absolut gewaltig, wie ein Vergleich mit anderen Karibikstaaten, aber eben auch mit gewissen Teilen der USA zeigt.

Kommentare
13.12.2016 / 18:04 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
bermuda.funk
lief in sonar am 13.12.. Danke!