"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - HIV-Blutspenden

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Kürzlich wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass das Schweizerische Heilmittelinstitut die homosexuellen Männer ab Mitte 2017 nur noch 12 Monate lang für potenziell HIV-positiv hält.
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11:49 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.04.2017 / 15:26

Dateizugriffe: 2007

Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.04.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die deutsche Bundesärztekammer dagegen geht weiterhin von einem lebenslangen Infektionsrisiko aus. Nachlesen kann man dies bei den Zulassungs- beziehungsweise Ausschlusskriterien für das Blut­spen­den. Gemäß Wikipedia sieht das laut Blutspendedienst Hamburg aus wie folgt: «Männer, die Sex mit Männern haben, sind grundsätzlich von der Blutspende ausgeschlossen», und die Be­grün­dung lautet, dass sie einer Personengruppe angehören oder jemals angehörten, die statistisch ein erhöhtes Risiko für HBV-, HCV- oder HIV-Infektionen aufweist, unabhängig davon, ob tatsächlich Risikoverhalten vorlag. Die Medienmitteilung des Schweiz. Heilmittelinstituts mit dem Namen Swiss­medic vom 31. Januar bringt folgende Neuerung: «Anstelle des bisher geltenden unbefristeten Ausschlusses für Männer, die Sex mit Männern haben, gilt künftig eine 12-monatige Rückweisung nach dem letzten Sexualkontakt.» Im gleichen Text heißt es weiter unten, dass das sogenannte diagnostische Fenster, also jener Zeitraum, in dem allfällige Infektionen bei Blutspendern noch nicht entdeckt werden können, bei relevanten Erregern erneut kleiner geworden sei und nun noch, je nach Virus, 3 bis 15 Tage nach der Infektion betrage. Und es heißt auch, dass jede einzelne Blut­spen­de einem Testverfahren auf bestimmte Krankheitserreger unterzogen werde.

Fakt ist auf jeden Fall, dass die große Mehrheit an HIV-Neuinfektionen auch heute noch auf Män­ner, die Sex mit Männern haben, entfällt. Insofern ist diese Kategorisierung als Risikogruppe ver­ständ­lich. Der logische Sprung zur Rückweisung von Blutspenden aus dieser Gruppe dagegen ist nur mit dem Zwischenschritt über Vorurteile gegenüber Schwulen zu erklären. Wenn tatsächlich jede einzelne Spende kontrolliert wird – was absolut einleuchtet – und wenn das diagnostische Fens­ter noch 15 Tage nach der Infektion beträgt, dann müsste die Sperrfrist, sagen wir mal einen Monat betragen, und zwar nicht einen Monat nach irgendeinem, sondern nach dem letzten unge­schützten Sexualkontakt, denn bei geschütztem Sexualverkehr besteht grundsätzlich kein An­stec­kungs­risiko. Für einen generellen lebenslangen Ausschluss vom Blutspenden dagegen spricht schon gar nichts, immer unter der Annahme, dass den deutschen Organen die gleichen Tests zur Ver­fü­gung stehen wie denjenigen in der Schweiz, was durchaus nicht garantiert ist, da die Schweiz ja nicht Mitglied der EU ist, und überhaupt.

Diese Blutspendenvorgabe ist vielleicht nicht besonders wichtig, insonderheit sehe ich keinerlei Grundrecht auf Blutspenden, das bei der Verweigerung verletzt würde. Sehr wohl sichtbar sind dagegen die Traumata aus den Anfängen der AIDS-Epidemie, als Ärztinnen und Ärzte und Betroffene noch weitgehend ahnungslos im wissenschaftlichen Nebel herum stocherten; hier gab es eine bestimmte Anzahl an Übertragung des HI-Virus durch Blutkonserven, und ganz allgemein schreckte die Krankheit damals die ganze Bevölkerung, und da viele schwule Männer betroffen waren, trugen AIDS und HIV damals ihren Teil bei zur weiteren Stigmatisierung der männlichen Homosexualität. Heute aber müsste man diese Zeiten für überwunden halten, nicht zuletzt nach dem Gesetz zur Rehabilitierung und Entschädigung von Menschen, die wegen des Schwulen-Paragrafen 175 diskriminiert und verurteilt wurden. Die Regierung hat dieses Gesetz Ende März beschlossen. In der DDR wurde das gesetzliche Verbot der Homosexualität bereits im Jahr 1968 aufgehoben, in der Bundesrepublik fiel der Paragraf erst nach der Wiedervereinigung im Jahr 1994. Die letzten Ausläufer der Schwulenfeindlichkeit sehen wir jetzt noch auf den Pausenhöfen der Schulen sowie eben beim Blutspenden. Das finde ich schon fast possierlich.

In der Türkei wird bald über die Umwandlung der bisherigen parlamentarischen Regierungsform in ein Präsidialsystem abgestimmt. Rechtzeitig zu diesem Termin hat mir ein alter Bekannter aus einer Erfurter Connection ein Buch in die Hand gedrückt, das ich ausnahmsweise mal vorbehaltlos loben will. Es heisst «Türkei – Erdogans Griff nach der Alleinherrschaft», und geschrieben hat es Jürgen Gottschlich, einer der Mitbegründer der taz, der seit vielen Jahren in der Türkei lebt. Er beschreibt die Entwicklung der verschiedenen Kräfte in diesem Land seit dem Aufkommen der AKP, wobei mich besonders fasziniert hat, wie die Gülen-Bewegung zu Beginn wichtige Dienste für diese Partei leistete, indem sie nach und nach ihre Mitglieder in verschiedene Organe und Institutionen des türkischen Staates einschleuste, was für die Machtergreifung von Erdogan Pascha von gewaltiger Bedeutung war. Gottschlich zeichnet auch die enormen Modernisierungsschritte nach, welche zu Beginn unter der AKP vollzogen wurden; einer, von dem ich bisher keine Kenntnis genommen hatte, ist die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung für die gesamte Bevölkerung, gekoppelt mit der Tatsache, dass seither die einfachen Leute auch tatsächlich eine Chance haben, an die medizinische Behandlung heranzukommen, welche sie benötigen. Vor zehn Jahren dann traten die Modernisierungsabsichten zunehmend zurück hinter die Machtpläne von Pascha Erdogan, die vielleicht am schönsten zum Ausdruck kommen in diesem gewaltigen 1000-Räume-Palast, den sich der Spinner ohne Genehmigung in das Naturschutzgebiet Atatürk-Wald bauen ließ, aber darüber schreibt Gottschlich schon gar nicht erst. Wichtig ist die Zuspitzung auf die Entmachtung der parlamentarischen Instrumente beziehungsweise auf die Ermächtigung des Alleinherrschers. Zum Putschversuch im letzten Jahr fällt Gottschlich ebensowenig eine klare Analyse bei wie unsereinem aus neutraler Distanz; bloß eine Diagnose gibt er dazu, nämlich dass im Anschluss daran richtige Listen abgearbeitet wurden mit den Entlassungen aus dem Staatsdienst und den tausenden von Verhaftungen. Vom Umgang mit der Lügenpresse brauche ich schon gar nicht zu sprechen.

Gottschlich stellt die jüngeren Ereignisse in den größeren Zusammenhang seit dem Untergang des Sultanats Anfang des letzten Jahrhunderts, von der Kolonialgeschichte und den deutschen Eisenbahnprojekten im Nahen Osten, er fasst die Säkularisierung unter Atatürk zusammen, spricht vom Völkermord an den Armeniern und auch von der Haltung des damaligen deutschen Reiches dazu, von den ethnischen Bereinigungen zwischen der Türkei und Griechenland in den 1920-er Jahren, von der Einführung des Frauenstimmrechtes im Jahr 1926 bis zum Nato-Eintritt und den Veränderungen seit dem Untergang der Sowjetunion und vom Verhältnis zu den Nachbarn, insbesondere zu Syrien. Ein Aspekt ist mir dabei vor allem aufgefallen, nämlich dass der Erdogan allem Anschein nach tatsächlich die frühere Größe des Sultanats im Auge hat, und dieses umfasste offenbar noch recht lange Zeit den gesamten Nahen Osten inklusive Saudiarabien. Das gibt dem Prozess eine neue Perspektive, insbesondere angesichts der praktisch umfassenden Zerstörung der staatlichen Strukturen in Syrien und im Irak. Da könnte eine türkische Schutzmacht tatsächlich wie eine wohltuende Option erscheinen, und das einzige Problem, nämlich die religiöse Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten, wäre mit dem Rest an Laizität, den auch ein Sultan Erdogan hoch halten würde, recht einfach zu beheben. Immer vorausgesetzt, man baut auf einen Polizeiapparat der orientalischen Ausprägung, und hiervon haben wir in den letzten Monaten doch genügend Beispiele gesehen.

Konsequenterweise müsste Erdogan Pascha dann aber auch eben an Saudiarabien denken und an die Vereinigten Arabischen Emirate; ich gehe mal davon aus, dass er in einer ersten Analyse einen Bogen um den Iran schlagen täte, obwohl er hier vielleicht am wenigsten Konflikte mit den globalen Interessenverbänden schaffen würde, welche seit über 100 Jahren im Nahen Osten mit mischen, in erster Linie natürlich die Amerikaner mit ihrem Vorposten Israel. Aber die iranische Bevölkerung dürfte weit schwieriger unter eine Eroberungsmacht zu ducken sein, als man dies von den Saudis annehmen muss.

Das sind dann allerdings Vorhaben im Mittel- und Langfristbereich. Als erstes stehen nach diesem Szenario tatsächlich Syrien und der Irak auf dem Programm, und dabei ist erst noch irgendeine Form des Ausgleichs mit den Kurden zu schaffen. Erdogan hat immer wieder Anläufe dazu unternommen, natürlich vor allem über sein kurdisches Faustpfand Öcalan, dessen Verfalldatum allerdings auch irgendwann mal eintreten dürfte. Und eben, wie er sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika einigen will, das ist für unsereins nicht auf Anhieb ersichtlich. Fest steht auf jeden Fall, dass es den USA gelegen käme, wenn eine verlässliche regionale Macht für Ordnung im Kartong sorgen täte, und solange Erdogan halbwegs vernünftige Beziehungen zu Israel pflegt wie bis anhin, könnte dies durchaus klappen. Mal sehen, was sich hier tut. Gottschlich äußert sich dazu in seinem Buch nicht weiter. Dagegen gibt er zahlreiche Hinweise auf Kultur und Küche und weitere Informationen zum Land Türkei, das er offensichtlich schätzen gelernt hat in den letzten Jahren. So wird aus diesen zweihundert Seiten neben einem klugen politischen Abriss zur Geschichte und Aktualität auch eine Art Reiseführer, kurz und prägnant und absolut transparent geschrieben.

Für euch in Erfurt am schönsten ist, dass ihr den Autor in fast unmittelbarer Nähe zu Gesicht oder Gehör kriegen könnt, nämlich stellt er sein Buch am Mittwoch, den 5. April, in der Stadt- und Regionalbibliothek Gera vor, und diese befindet sich am Puschkinplatz 7, ja eben, nicht in Erfurt, sondern halt in Gera, aber das ist ja ein Katzensprung. Beginn der Veranstaltung ist um 19.30 Uhr.

Sonst noch was? Nahe bei der senegalesischen Hauptstadt Dakar entsteht in Diamniadio gerade ein Industriepark, wo die Chinesen jene Billiglohnarbeiten auszuführen gedenken, die sie nicht mehr in Ostasien machen lassen, weil die Leute dort immer mehr verdienen, nach China selber nun auch in den Nachbarländern. Die Nase vorne hat bisher Äthiopien, wo sich Schuh- und Kleiderhersteller niedergelassen haben. Weitere interessierte Länder in Afrika sind Kenia, Tansania und Ruanda, und zu den mittlerweilen bereits traditionellen Investitionszielen gehören Nigeria und Ghana. Beim Senegal handelt es sich um den ersten Schritt im französischsprachigen Westafrika.

Daneben steigt die Spannung über die tatsächliche Ausgestaltung des Austritts Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Vernünftigerweise wird der so vollzogen, dass niemand etwas davon merkt, dass also die wirtschaftlichen Beziehungen und der Personenverkehr in der Substanz keine Änderungen erfahren, so sehr man reflexartig dem dummen Teil der Bevölkerung Großbritanniens auch Warzen an die Nase wünschen möchte. Und als zweiter Aspekt in diesem Prozess ist noch zu berücksichtigen, dass keine der beiden Parteien das Gesicht verlieren sollte, die Britinnen und Briten also gegen innen, gegenüber ihrer Urbevölkerung, und die EU ebenfalls gegen innen, nämlich gegenüber möglichen weiteren Austrittskandidaten zum einen, zum anderen und vor allem gegenüber den zentripetalen Tendenzen, vor allem im Osten, welche eigentlich gar keine zentripetalen Tendenzen sind, sondern vor allem ein Gemurre um größere Anteile an den Fördertöpfen der EU. Deren ihre Kraft zur Selbstreform der eigenen Institutionen dagegen muss man nach wie vor extrem skeptisch beurteilen. Wieso, um alles in der Welt, gibt es nicht seit mindestens zehn Jahren eine echte europäische EU-kritische Kraft und politische Partei, welche die anstehenden Probleme auch in den Mitgliedländern konsequent aus europäischer Sicht angeht? Donner und Doria oder a thousand blistering barnacles, macht doch endlich mal vorwärts damit!