Identitätspolitik: Die Linke hat sich selbst zerstört

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Die Identitätspolitik hat die amerikanische Linke in eine tiefe Krise geführt. Die Agonie zeigt sich unter den Demokraten besonders deutlich. Was können sie von den Konservativen lernen?

Mark Lilla ist Professor für Ideengeschichte an der Columbia University, New York. Der Text beruht auf seinem Buch «The Once and Future Liberal», das eben im Verlag Harper erschienen ist.

(mit Genehmigung des Autors und gelesen nach der am 17. August 2017 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen Übersetzung - Jörg)
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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Wirtschaft/Soziales, Jugend, Schwul, Kultur, Politik/Info
Serie: sonar -aktuell-
Entstehung

AutorInnen: Mark Lilla
Radio: bermuda, Mannheim im www
Produktionsdatum: 17.08.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Identitätspolitik
Die Linke hat sich selbst zerstört
von Mark Lilla

Neue Zürcher Zeitung vom 17.8.2017




Donald Trumps Sieg hat meine linksliberalen Gesinnungsgenossen endlich aufgerüttelt. Sie netzwerken, marschieren, nehmen an Bürgerversammlungen teil. Da wird hitzig darüber diskutiert, wie man 2020 das Weisse Haus und vielleicht zuvor schon das Parlament zurückerobern könnte.

Aber unsere Hoffnungen sind uns meilenweit voraus – und das ist gefährlich. Es ist an der Zeit zuzugeben, dass der amerikanische Linksliberalismus in einer tiefen Krise steckt: einer Krise der Phantasie und der Ambition seinerseits, einer Krise der Verbundenheit und des Vertrauens seitens der breiteren Öffentlichkeit. Die Frage lautet: Warum? Warum sind gerade diejenigen, die behaupten, für den grossen amerikanischen Demos zu sprechen, so gleichgültig, wenn es darum geht, an dessen Gefühle zu rühren und sein Vertrauen zu gewinnen? Warum haben die Linksliberalen im Wettbewerb um eine amerikanische Vision einfach aufgegeben?

Ronald Reagan machte praktisch im Alleingang die Ideale des New Deal zunichte, an denen wir uns so lange orientierten. Franklin Roosevelt hatte uns ein Land vor Augen gestellt, dessen Bürger sich zusammenschlossen, um gemeinsam eine starke Nation aufzubauen und einander gegenseitig zu schützen. Die Schlüsselworte waren Solidarität, Chancen und Engagement. Reagan stand für ein individualistischeres Amerika, dessen Bürger, von den Fesseln des Staats befreit, prosperieren würden; Eigenverantwortlichkeit und minimale Lenkung von oben waren nun die Devise.

Um Reagans Herausforderung zu begegnen, hätten wir Linksliberalen eine ehrgeizige neue Vision für Amerika und seine Zukunft entwickeln müssen – eine, die Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und allen Landesteilen erneut als Bürger zusammengeführt hätte. Stattdessen rieben wir uns im Nullsummenspiel der Identitätspolitik auf und verloren den Sinn für das, was uns alle zur Nation eint.

Jedem Suizid wohnt ein Rätsel inne. Aber es gibt jeweils zumindest eine Vorgeschichte über die Umstände, die Ereignisse und Entscheide, die diesem fatalen Auflösungsprozess die Bühne bereiteten. Die Geschichte, wie aus einer einst erfolgreichen linksliberalen Politik, die auf Solidarität setzte, eine gescheiterte linksliberale Politik der Differenz wurde, ist nicht einfach zu erzählen. Vielleicht ist es am besten, mit einem Slogan zu beginnen: «Das Persönliche ist das Politische.»

Geprägt wurde der Satz von Feministinnen der 1960er Jahre, und er fing die damalige Denkweise der neuen Linken perfekt ein. Ursprünglich wurde er dahingehend ausgelegt, dass alles, was rein privat erscheint – die Sexualität, die Familie, der Arbeitsplatz –, faktisch politisch ist und dass es keine Lebensbereiche gibt, die frei von Machtkämpfen sind. Das machte die Formulierung so radikal; sie elektrisierte diejenigen, die ihr zustimmten, und verstörte alle anderen.

Aber es gab auch eine romantischere Lesart: dass nämlich das, was wir für politisches Handeln halten, tatsächlich nur eine persönliche Aktivität ist, ein Ausdruck dessen, was ich bin und wie ich mich definiere. Wie wir heute sagen würden: eine Ausprägung meiner Identität.

Im Lauf der Zeit gewann diese romantische Auslegung die Oberhand über die radikale. In der Linken setzte sich die Idee fest, dass – um die Formel umzukehren – das Politische das Persönliche ist. Linksliberale und Progressive kämpften weiterhin für soziale Gerechtigkeit in der Welt. Aber nun verlangten sie auch, dass es keine Trennung mehr geben sollte zwischen dem, was sie innerlich fühlten, und dem, was sie draussen in der Welt taten. Sie wollten, dass ihr politisches Engagement abbildete, wie sie sich als Individuen verstanden. Und sie wollten, dass diese Selbstdefinition anerkannt wurde.

Das war Neuland für die Linke. Der Sozialismus hatte für individuelle Anerkennung keine Zeit gehabt. Im Sturmschritt der Revolution entgegenpreschend, teilte man die Welt schlicht in ausbeuterische Kapitalisten und ausgebeutete Arbeiter auf. Die Linksliberalen des New Deal interessierte individuelle Identität genauso wenig; sie dachten und sprachen im Namen von Gleichberechtigung und gleichem sozialem Schutz für alle. Sogar die Gruppen, die in den 1950er und 1960er Jahren mit einem Identitätsanspruch antraten – Afroamerikaner, Frauen, Homosexuelle –, appellierten an uns als Mitmenschen und Mitbürger und beriefen sich nicht auf ihr Anderssein. Sie versuchten, die Menschen zu einen, und nicht, sie gegeneinander auszuspielen.

All das begann sich zu ändern, als in den 1970er Jahren die neue Linke zu Bruch ging – auch und gerade wegen Identitätsfragen. Schwarze beklagten sich, dass die weissen Führer der Bewegung rassistisch seien, Feministinnen warfen ihnen Sexismus vor, Lesben fanden die heterosexuellen Feministinnen homophob. Die grossen Feinde waren nicht mehr der Kapitalismus und der militärisch-industrielle Komplex. Es waren Mitstreiter, die, salopp gesagt, nicht genügend auf Zack waren.

Zum selben Zeitpunkt begannen die weniger radikalen unter den linksliberalen und progressiven Aktivisten sich neu auszurichten; sie wandten sich von der Parteipolitik ab und investierten ihre Energien in ein breites Spektrum eng fokussierter sozialer Anliegen. In einer gesunden Parteipolitik wirken die Kräfte zentripetal; Faktionen und Interessengruppen werden motiviert, sich zusammenzuschliessen und gemeinsame Ziele und Strategien zu erarbeiten.

Bei politischen Bewegungen sind die Kräfte allesamt zentrifugal, führen zur Aufsplitterung in immer noch kleinere Faktionen, die von einzelnen, genau definierten Zielsetzungen und ideologischem Superioritätsdenken besessen sind. Symbole gewinnen eine unverhältnismässige Bedeutung. Das klassische demokratische Konzept, Menschen unterschiedlichster Herkunft hinter ein einziges gemeinsames Anliegen zu scharen, ist einer Pseudopolitik gewichen.

Die Resultate dieses Wandels sind nun evident: Das klassische demokratische Konzept, Menschen unterschiedlichster Herkunft hinter ein einziges gemeinsames Anliegen zu scharen, ist einer Pseudopolitik gewichen, die sich in Selbstbespiegelung und Selbstbehauptung erschöpft. Und was diese Tendenz am Leben hält, ist die Tatsache, dass sie an den Colleges und Universitäten kultiviert wird, wo die linksliberale Elite ihre Ausbildung erhält.

Nach Reagans Wahlsieg im Jahr 1980 schwärmten konservative Aktivisten aus, um das neue Evangelium des Individualismus, des Small Government und des freien Marktes zu predigen; sie setzten ihre Energien daran, an abgelegenen Orten Regional-, Bundesstaats– und Kongresswahlen zu gewinnen. Auch einstige Aktivisten der neuen Linken waren unterwegs; die allerdings nahmen andere Abzweigungen vom Highway und peilten die Städte an, wo Universitäten und Colleges zu finden waren. Die Konservativen konzentrierten sich darauf, Wähler der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen, die einst den Demokraten nahegestanden hatten – eine Bottom-up-Strategie. Die Linke dagegen fokussierte darauf, die Meinungen der Kader und der Parteielite zu transformieren – eine Top-down-Strategie.

Bis in die 1960er Jahre kamen die aktiven Mitglieder der Demokratischen Partei hauptsächlich aus der Arbeiterklasse oder der Landwirtschaft; ihre Schule waren die Gewerkschaften oder lokale politische Klubs. Diese Zeit ist vorbei. Heute kommen die Demokraten aus den Colleges und Universitäten, genauso wie die Juristen, Journalisten und Lehrkräfte – alles Berufszweige, die weitgehend von Linksliberalen dominiert werden.

Ihre politische Erziehung findet heute auf dem Campus statt, in sozialer wie geografischer Hinsicht fern vom Rest des Landes – und insbesondere von ebenjenen Leuten, die einst das Fundament der Demokratischen Partei bildeten. Und der politische Katechismus, der dort gelehrt wird, ist ein historisches Artefakt, das eher die spezifische Erfahrung der Achtundsechziger als die Realitäten heutiger Machtpolitik reflektiert. Jene Epoche hatte die neue Linke zweierlei gelehrt. Erstens, dass politische Bewegungen die einzige Form des Engagements sind, die tatsächlich Veränderungen herbeiführt. Zweitens, dass politische Aktivität eine authentische Bedeutung für den Einzelnen haben muss – was Kompromisse als Selbstverrat erscheinen lässt. Diese Lektionen ändern allerdings herzlich wenig an der derzeitigen Krise des Linksliberalismus, an der Tatsache mithin, dass er wieder und wieder von den gut organisierten Republikanern in die Knie gezwungen wird, die die amerikanischen Institutionen zunehmend fester im Griff haben.

Gehör findet die Lehre allenfalls noch bei jungen Leuten in unser hochgradig individualistischen Gesellschaft – einer Gesellschaft, die ihrem Nachwuchs beflissen beibringt, dass es nichts Heiligeres gibt als individuelle Rechte, Wahlfreiheit und Selbstbestimmtheit.

Wen wundert es, dass die Studenten des Facebook-Zeitalters eine Vorliebe für Kurse haben, in denen es um ihre Identitäten und um Bewegungen geht, die zu diesen in Bezug stehen? Und ebenso wenig überrascht es, dass sich viele universitären Gruppierungen anschliessen, die ebenfalls derartige Ziele verfolgen.

Für diese Studenten – die künftige Elite – ist die Grenze zwischen Selbsterforschung und politischem Handeln diffus geworden. Ihr politisches Engagement ist aufrichtig, aber fest eingehegt in den Grenzen ihrer Selbstdefinition. Was diese Grenzen zu verletzen droht, wird als Bedrohung wahrgenommen, und weil Politik für diese jungen Leute etwas Persönliches ist, ist sie tendenziell absolutistisch. Angelegenheiten, die nicht ihre Identität tangieren oder ihresgleichen betreffen, werden kaum wahrgenommen. Und klassische linksliberale Ideen wie Bürgersinn, Solidarität und Gemeinwohl bedeuten ihnen wenig.

Als Hochschullehrer sticht mir ein Unterschied zwischen meinen konservativen und meinen progressiven Studenten ins Auge. Entgegen dem vorherrschenden Klischee sind die konservativen viel eher geneigt, ihr Engagement mit politischen Ideen und Prinzipien zu verbinden. Linksstehende Jugendliche dagegen sagen eher, dass sie sich «als X» politisch engagieren, dass ihre Sorge anderen «X» und den Problemen der «X-heit» gilt. Sie sind immer weniger gewillt, sich einer Debatte zu stellen.

In den letzten zehn Jahren hat sich eine neue und sehr aufschlussreiche Redewendung, die ihren Ursprung in den Universitäten hat, in den Massenmedien etabliert: «Ich als X …» Das ist keine leere Floskel; es errichtet einen Schutzwall gegen Fragen, die aus einer anderen als der X-Perspektive kommen. Früher hätte eine Diskussion im Klassenzimmer vielleicht mit den Worten begonnen: «Ich denke A, und dies aus den folgenden Gründen.» Heute heisst es: «Ich als X fühle mich beleidigt, weil du B behauptest.» Anstelle einer Auseinandersetzung findet eine Tabuisierung konträrer Denkweisen und Meinungen statt.

Studenten sind derart besessen von ihren persönlichen Identitätsfragen, dass sie wenig Interesse für die politische Welt ausserhalb ihrer eigenen Köpfe haben.

Die Konservativen zetern am lautesten über solche Dummheiten auf dem Campus, aber eigentlich stünde die Wut den Linksliberalen besser an. Es geht ja nicht darum, dass linke Professoren Jahr für Jahr Millionen junger Leute zu gefährlichen politischen Radikalen machen. Auf dem Spiel steht vielmehr, dass ihre Studenten derart besessen von ihren persönlichen Identitätsfragen sind, dass sie wenig Interesse für die politische Welt ausserhalb ihrer eigenen Köpfe haben – und schon gar keine Lust, sich auf diese einzulassen.

Darin steckt eine besondere Ironie. Die vermeintlich lammfrommen, konventionellen Universitäten der 1950er und 1960er Jahre brachten die vielleicht radikalste Generation amerikanischer Bürger seit der Staatsgründung hervor. Junge Leute empörten sich über die Verweigerung des Wahlrechts dort draussen, über den Vietnamkrieg dort draussen, über die nukleare Aufrüstung, den Kapitalismus, den Kolonialismus dort draussen.

Aber kaum hatte diese Generation die Macht an den Hochschulen übernommen, begann sie die linksliberale Elite zu entpolitisieren. Der Gedanke ans Gemeinwohl wurde dieser ebenso fremd wie die Frage, auf welche Weise es in der Praxis zu gewährleisten wäre – und noch ferner lag ihr das zähe und glanzlose Bemühen, ganz anders denkende Menschen davon zu überzeugen, sich hinter ein gemeinsames Anliegen zu stellen.

Jeder Fortschritt des linksliberalen Identitätsbewusstseins bedeutet also – dies sei in aller Deutlichkeit gesagt – einen Rückschritt des linksliberalen politischen Bewusstseins.

Black Lives Matter ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Solidarität zerstört statt aufbaut. Die Bewegung hatte die Misshandlung von Afroamerikanern durch die Polizei angeprangert: Das war ein Weckruf für jeden Amerikaner, der ein Gewissen in sich trägt. Aber als die Bewegung diese Misshandlungen zur Basis einer grundsätzlichen Anklage gegen die amerikanische Gesellschaft machte und öffentliche Beicht– und Bussrituale zu fordern begann, spielte sie damit lediglich den Republikanern in die Hände. Ich bin kein dunkelhäutiger Autofahrer, und ich werde nie wissen, wie er sich am Steuer fühlt. Umso wichtiger wäre es, dass ich mich auf irgendeine Weise mit diesen Menschen identifizieren kann; und die Tatsache, dass wir beide amerikanische Bürger sind, ist das Einzige, was wir mit Sicherheit gemeinsam haben. Je mehr die Differenzen zwischen uns herausgestrichen werden, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ich mich empöre, wenn er misshandelt wird.

Die Identitätspolitik hat einzig bewirkt, dass die Konservativen unsere Institutionen immer fester im Griff haben. Es wäre höchste Zeit, dass die Linksliberalen eine Spitzkehre machen und sich wieder zu ihren Kernprinzipien bekennen: Solidarität und gleiche Chancen für alle. Nie hat das Land dies mehr gebraucht.


Mark Lilla ist Professor für Ideengeschichte an der Columbia University, New York. Der Text beruht auf seinem Buch «The Once and Future Liberal», das eben im Verlag Harper erschienen ist. Aus dem Englischen von as.

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