"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Tanker und Klassiker

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Das Steuern riesiger Containerschiffe wird ebenso von Computerprogrammen unterstützt wie die Einhand-Segelschifffahrt, aber bis so ein Containerschiff den Kurs gewechselt hat, dauert es erheb­lich länger als bei einem Langkieler vom Typ Nimbus 26.
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11:31 min, 21 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 29.08.2017 / 13:58

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 29.08.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Trotzdem scheint das Navigieren nicht unmöglich, wenn man sich so den Weltmarkt und die Welthandelsströme anschaut, die tatsächlich fast ausschließlich mit Containerschiffen und vor allem zu null Komma null Prozent von Lang­kie­lern vom Typ Nimbus 26 abgewickelt werden. Was will ich Euch damit sagen, geschätzte Hörer­innen und Hörer? Vielleicht gleich viel wie im Jahr 1994 der Subcomandante Marcos im mexika­nischen Chiapas mit seiner Geschichte vom Kurzwellenradio, in welchem er unter­schied­liche Papa­geienarten sowie ein Papageien-Ei fand, das er dann selber ausbrütete, bis daraus ein gefie­der­ter Tapir schlüpfte. Diese kleine und unverhofft poetische Erzählung fand ich kürzlich in einem Auf­satz von Professor Gerald M. Sider von der University of New York, und den Aufsatz wiederum las ich im 20 Jahre alten Sammelband «Was bleibt von marxistischen Perspektiven in der Geschichts­forschung?», die vom Max-Planck-Institut in Göttingen herausgegeben wurde und im Wallstein Verlag erschien. Was wollte Subcomandante Marcos seinen Anhängern mit dieser Geschichte mitteilen, aber noch viel mehr: Was wollte Gerald M. Sider mit seinen Ausführungen, die auf 50 Buchseiten die präkapitalistische und koloniale Kulturgeschichte von Mexiko über Kasachstan und Arabien bis Afrika und Indien und Java zurück nach Lateinamerika abhandelt, zu den marxistischen Perspektiven in der Geschichtsforschung sagen? –

Ich lasse das hier offen und begnüge mich mit dem Hinweis, dass sich am 5. Mai 2018, also in acht Monaten, der Geburtstag von Karl Marx zum zweihundertsten Mal jährt, und da wird einerseits vielleicht nicht gerade eine Flut, aber doch eine ansehnliche Welle von Publikationen wie die vor­her erwähnte über die Universitäten schwappen. Zum anderen kann man mit einer gewissen Zahl an seriösen Beiträgen rechnen, welche nicht nur die historische Bedeutung der Person, sondern vor allem die methodischen und inhaltlichen Meilensteine beleuchten, welche dieser Mann zusammen mit seinen Kollegen, namentlich Friedrich Engels, gesetzt hat. Und zum dritten habt Ihr in den neuen Bundesländern fast zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung Gelegenheit, eine nicht direkt von der DDR-Vergan­gen­heit beschwerte Auseinandersetzung mit ebendieser Vergangenheit, wel­che doch klar und deutlich unter Siegel und Stempel Marx liefen, zu führen. Viel Vergnügen hierzu schon jetzt, und von meiner Seite zum Voraus nur der eine Hinweis: Ich habe nie verstanden, wie man vor allem die staatspolitischen Schriften der Klassiker im Ostblock überhaupt drucken konnte, indem nämlich auch eine oberflächliche Lektüre sogleich den Kontrast zur realsozialistischen Rea­lität aufdecken musste. – Aber solche Wunder sind natürlich mindesten so alt wie die katholische Kirche.

Der Hinweis auf den Tanker dagegen ist mir in den Sinn gekommen, als ich einen Beitrag zu General Electric gelesen habe, jener Firma also, welche ich an dieser Stelle bereits mit einer gewissen Bewunderung erwähnt hatte wegen ihrer Tricks, die Schweizer Kraftwerksparte, welche sie der französischen Alstom abgekauft hatte, über einen Zwischendeal mit Ungarn um ein paar Milliarden Franken oder Euro abzuzocken. Aber als Großunternehmen behauptet man sich auf den Weltmärkten nicht allein mit Tricks. Schließlich wurde das Unternehmen von niemand geringerem als Thomas Alva Edison gegründet, und zwar im Jahr 1890; damit ist es sechs Jahre älter als die International Business Machines, deren Vorläufer Tabulating Machine Company bereits 1896 ein Verfahren zur Erfassung und Verarbeitung von Lochkarten-Daten entwickelt hatte. General Electric ist gegenwärtig dabei, den Sprung in die Industrie 3.0 zu tun, indem sie die Integration aller Softwareprozesse rund um ihre Produktepalette auf eine eigens entwickelte Plattform namens Predix vornahm unter der Leitung des Chief Executive Jeffrey Immelt. Dies soll innerhalb von 6 Jahren über 4 Milliarden Dollar gekostet haben – und zufrieden ist das Unternehmen mit dem Resultat immer noch nicht, beziehungsweise dieses Projekt wird als Hauptgrund angegeben dafür, dass Immelt vor einem Monat seinen Posten abgab. Allerdings war er der Firma zuvor immerhin 16 Jahre lang vorgestanden. Aber jetzt ist eben dieser Integrationsprozess am Laufen, und da kommen immer wieder die bekannten Schwierigkeiten auf, namentlich die Schnittstellen zur Informatik auf Kundenseite, wo Predix regelmässig Kosten verursachte, die als unnötig empfunden wurden. Im Frühjahr rief General Electric ein zweimonatiges Timeout für Predix aus, währenddem die wichtigsten Probleme gelöst wurden. Jetzt rechnet das Unternehmen im Bereich GE Digital mit einem Umsatz von 12 Milliarden Dollar im Jahr 2020. Dabei stützt man sich auf die Datencenter von Google und Amazon. Der neue Chef John Flannery will die Digital-Kosten nun besser in den Griff bekommen. Insgesamt lautet die Einschätzung, dass General Electric zwar den Schritt in Richtung Digitalisierung früher getan hat als andere, aber diesen Vorsprung, zum Beispiel gegen­über Siemens eingebüsst hat aufgrund der Schwachstellen bei ihrer Integrationsplattform. Und da sieht man eben, um auf den Anfang zurückzukommen, dass eine Kursänderung bei einem Riesen­schiff beziehungsweise einem Riesenunternehmen wie General Electric doch ihre Zeit benötigt, ohne dass dabei sicher ist, ob sie gelingt und ob der neue Kurs dann auch der richtige ist. Trotzdem: Respekt vor diesem Riesen, der als Mischkonzern heute weltweit 300 000 Personen beschäftigt und einen Umsatz von 124 Milliarden Dollar erzielt.

Bei einem anderen Schiff sind keine Anzeichen für einen Kurswechsel auszumachen, es steht vollkommen still beziehungsweise liegt seit Jahrtausenden gut vertäut zwischen dem ägäischen und dem ionischen Meer, nämlich der Supertanker Griechenland, von dem übrigens die früheren Reedereimagnaten wie Onassis und Niarchos vollständig verschwunden sind, eigenartigerweise. Ich komme wieder einmal auf dieses vermutlich wunderbare Land, weil ich kürzlich in der Le Monde einen Artikel über das griechische statistische Amt gelesen habe. Anfang August wurde nämlich der ehemalige Leiter dieses Amtes von einem Athener Strafgericht zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 2 Jahren wegen Pflichtvernachlässigung verurteilt. Dabei hat Andreas Georgiu dieses Amt im Jahr 2010 überhaupt erst aufgebaut, nachdem der im Jahr 2009 neu gewählte Sozialdemokrat Georg Papandreu entdeckt hatte, dass sich das öffentliche Defizit auf 13.6% des BIP belief, mehr als doppelt so viel, wie es sein konservativer Vorgänger angegeben hatte. Die Folge davon war, neben der Einrichtung der Herrschaft der Troika, auch der Aufbau eines neuen statistischen Amtes, das eben zuverlässigere Daten liefern sollte, welche unter anderem auch für dieTroika einen Teil der Grundlagen für die Austeritätskurse bildeten. Georgiu kam selber aus der Troika, nämlich vom Internationalen Währungsfonds. Seine erste Leistung war es, das von Papandreu angegebene Defizit von 13.6% auf 15.8% nach oben zu korrigieren und den Verschuldungsgrad des Landes von 115.1% des BIP auf 126.8%. Bereits ein Jahr später reichte eine ehemalige Ökonomin des statistischen Amtes Klage gegen Georgiu ein, weil er die Statistik verfälscht habe. Sie wurde zwar nicht weiter verfolgt, aber vor ein paar Monaten wurden die Untersuchungen wieder aufgenommen, in Kombination mit allen möglichen politischen Angriffen auf Georgiu. Das scheint mir eine echt griechische Art der Auseinandersetzung mit Fakten zu sein. Eine Statistik ist ja zunächst nichts weiter als eine Zahlenreihe, aus der man dann gewisse Schlussfolgerungen ziehen kann oder die man je nachdem durchaus gezielt so erheben kann, dass eine bestimmte Vermutung oder Tendenz bewiesen oder widerlegt wird, selbstverständlich; aber es ist doch die größte Berufsehre der Statistikerinnen und ÖkonomInnen, eine unabhängige, objektive und verlässliche Statistik zu erstellen beziehungsweise mit solchen zu arbeiten.

Aber nicht in Griechenland. Am 14. August hätte das griechische Statistische Amt die ersten Schätzungen für das Wachstum des Bruttoinlandproduktes im 2. Quartal veröffentlichen sollen. Dazu kam es nun nicht, weil die Statistiker nicht über genügend verlässliche Zahlen verfügten, um eine solche Schätzung zu erstellen. Frühere erste Quartalsschätzungen waren jeweils weitab jeglicher Wirklichkeit gelegen und wurden anschließend massiv korrigiert. Nun gibt es keine solchen provisorischen Quartalsangaben mehr, nur noch die mehr oder weniger definitiven Werte, und zwar am nächsten Freitag.

Aber man versteht ihn auch, den Griechen. Es ist in der Tat völlig egal, welche Zahlen er liefert, die Troika wird wiederum ihr Lied von Strukturreformen und Austerität gurgeln, das längstens allen zum Hals heraus hängt, weil alle wissen, dass der Grieche keine einzige Auflage erfüllen kann, will und wird, die er tapfer unterzeichnet, weil die Schuldenlast derart absurd hoch ist. Eine Schulden­last, die nicht zuletzt dank der Komplizenschaft der Europäischen Union mit den Zahlenakrobaten aus dem hellenischen Statistischen Amt zustande gekommen ist. Laut Le Monde hat das euro­päi­sche Statistische Amt bereits im Jahr 2004 und erneut anfangs 2010 auf die üble Qualität der grie­chischen Statistik hingewiesen, wogegen die Europäische Kommission sich den Zahlen der Elstat-Vorläuferin ESYE hingab. Eine nicht ganz unmaßgebliche Folge davon war, dass Griechenland im Jahr 2001 der Euro-Zone beitreten konnte. Mit den bekannten Folgen.

Aber nochmals zurück zu den Jubiläen. Wir sind alle gespannt, welche Form und welche Ausmaße die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution in Moskau annehmen werden. Es würde mich stark überraschen, wenn es tatsächlich zu Schießereien zwischen Figuranten der Weiß­gardisten und Figuranten der Rotgardisten kommen würde, wie im Roman «2017» von Olga Slawnikowa beschrieben. Ich glaube, in Russland weiß gar niemand mehr etwas über die Hinter­gründe dieser Auseinandersetzung. Die Struktur des Landes ist viel zu stark vom Staat beziehungsweise von seinen Zersetzungsprodukten geprägt. Gerade aus diesem Grund könnten irgendwelche theoretischen oder politischen Diskussionen durchaus einen Fortschritt bringen, einmal auf der konzeptionellen Ebene, aber auch als thematische Handhabe für Bewegungen, die sich an den ursprünglichen Zielen der Klassiker orientieren wollen. Irgendwann müsste doch die Lethargie abflauen, welche die Usurpation der Reichtümer Russlands überhaupt ermöglichte, und irgendwann müssten auch die Beruhigungspillen von Nationalismus und orthodoxer Religion ihrer Wirkung verlustig gehen. Ob das nun gerade anlässlich der Jubelfeiern der Fall sein wird, das kann ich natürlich nicht vorhersagen.