Asylrechtsverletzungen an der französisch-italienischen Grenze - Das italienische Calais heißt Ventimiglia

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Calais ist frankreichweit und inzwischen auch europaweit bekannt als eines der Orte in Europa, in dem Migrantinnen und Schutzsuchende Slums errichten in der Hoffnung, bald die Grenze zu ihrem Wunschland passieren zu können, und in der Zwischenzeit regelmässig von den Behörden terrorisiert werden. Für diese Situation ist massgeblich die Abschottungspolitik Grossbritanniens und ein britisch-französisches Abkommen verantwortlich, wonach die französischen Behörden dafür sorgen sollen, dass keine Menschen irregulär den Ärmelkanal passieren.

Seit diesem Jahr und besonders seit diesem Sommer wurden französische Medien zunehmend darauf aufmerksam, dass es inzwischen eine ganz ähnliche Situation an der französisch-italienischen Grenze gibt. Da schottet sich wiederum Frankreich gegen Migranten und Schutzsuchende ab. Tausende Migrantinnen sind deswegen rund um die italienische Grenzstadt Ventimiglia gestrandet. Französische und italienische Hilfsorganisationen kritisieren in diesem Zusammenhang, dass die französischen Behörden nicht davor zurückschrecken, die Rechte von Schutzsuchenden zu verletzen. Ein Protestschreiben unterzeichneten namhafte Hilfsorganisationen wie Amnesty International, die Caritas und Ärzte ohne Grenzen.

Zu den protestierenden Organisationen zählt auch die französische Nichtregierungsorganisation Anafé, die Ausländerinnen bei Problemen an der Grenze rechtlich unterstützt. Matthieu hat vor der Sommerpause mit Laure Palun gesprochen, Koordinatorin der Anafé. Sie hatte sich im Mai und Juni ein Bild von der Situation in der Region um Nizza gemacht.

Wie man sich die Situation an der Grenze zwischen Menton und Ventimiglia vorstellen soll, erklärt Laure Palun:
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12:59 min, 12 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.09.2017 / 15:12

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Focus Europa Einzelbeitrag
Entstehung

AutorInnen: Matthieu
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 06.09.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Manuskript des Beitrags:

"Mit dem Ausnahmezustand und der Wiedereinführung der Grenzkontrollen wurden erlaubte Grenzübergänge eingerichtet. Es gab rund 300 in ganz Frankreich bei der Wiedereinführung der Grenzkontrollen und es gibt seitdem mindestens genauso viele. In den Seealpen gibt es sieben. Es bedeutet, dass es an diesen sieben Orte systematische Kontrollen gibt, entweder auf der Strasse oder am Bahnhof. Das heisst, dass Menton Garavan aktuell ein Bahnhof ist, an dem alle Züge halten, ob es RE sind oder TGV, die normalerweise nicht halten würden. Und alle Züge werden systematisch kontrolliert. Das heisst, dass Polizisten, Bereitschaftspolizistinnen oder auch Soldaten in allen Zügen einsteigen. Dasselbe gilt am Bahnhof Breil. Die Polizisten steigen ein, öffnen alle Türen und Klappen. Und wir konnten am Bahnhof Garavan feststellen, dass die Kontrollen, die dort durchgeführt werden, vollkommen diskriminierend sind. Die einzigen Personen, die dort kontrolliert werden, sind die, die keine weisse Haut haben. Ähnlich sieht es bei den Grenzübergängen an der Strasse aus."

Die rassistischen Kontrollen an der französisch-italienischen Grenze kamen aber nicht erst mit dem Ausnahmezustand, der seit November 2015 gilt. Laure Palun erklärte, dass die Anafé schon im Juni 2015 deswegen gegen die Grenzpolizei geklagt hat.

Die Situation für Schutzsuchende an der Grenze fasst Laure Palun so zusammen:

"Das Asylrecht wurde nicht eingehalten, insbesondere für Menschen, die sich an der französischen Grenze meldeten. Sie wurden nicht über ihr Recht informiert, Asyl zu beantragen. Und selbst wenn sie Asyl beantragen wollten, wurde ihr Gesuch nicht registriert."

Nach französischem, europäischem und internationalem Recht dürfen Asylsuchende und besonders unbegleitete Minderjährige nicht ohne Weiteres an der Einreise gehindert und zurückgeschoben werden. Und doch:

"An der Grenze haben wir festgestellt, dass unbegleitete Minderjährige festgenommen und zurückgeschickt wurden. Bei Asylsuchenden ist es dasselbe. Sie werden festgenommen, kontrolliert und dann werden sie zurückgeschickt."

Die französischen Behörden hätten dabei nicht einmal ihre eigenen Verfahren für die verweigerte Einreise eingehalten. So zum Beispiel, als sie das Standarddokument der Einreiseverweigerung ausstellten:

"Normalerweise besteht dieses Dokument aus drei Seiten: Auf der ersten steht die Identität der Person, auf der zweiten stehen die Gründe für die Verweigerung und auch die Rechte, und auf der dritten stehen die Unterschrift, ob es ein Dolmetscher gab oder nicht und ähnliches.

Falls sie eine solche Entscheidung besassen – das war nicht immer der Fall -, hatten die Personen tatsächlich aber nur die erste Seite. Also hatten sie nicht die zweite Seite, die ihre Rechte erwähnt."

Die Anafé befasste sich insbesondere mit einem neuen Haftzentrum für Ausländerinnen in der Grenzstadt Menton, von dem sie erfahren hatte, und der auf einer dubiosen rechtlichen Grundlage beruht. Worum es sich handelt, erklärt Laure Palun:

"Wir wussten schon, dass es existiert, aber wir haben es selbst feststellen können: Die Existenz eines Ortes für willkürlichen Freiheitsentzug, das heisst ohne legalen Rahmen, an der französisch-italienischen Landgrenze in Menton. Dort werden Menschen festgehalten, die von Italien einreisen. Aber wir haben festgestellt, dass auch Menschen, die auf dem Territorium festgenommen wurden, zum Beispiel in Cannes oder sogar in Marseille zu diesem Ort zurückgebracht wurden, und Einreiseverweigerungen erhielten, obwohl sie sich ja schon auf dem Territorium befanden.

Schlimm ist, dass es in diesem Ort keinen legalen Rahmen gibt, was gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstösst. Asylbewerber und Minderjährige werden dort festgehalten. Und tatsächlich dient dieser Ort nur dem Zurückschieben.

Einige Polizeibeamte hatten uns darüber informiert, dass es sich um eine Wartezone handelt, und wir sind dazu berechtigt, in den Wartezonen zu gehen. Wir haben versucht, hineinzugelangen, wurden aber nicht eingelassen.

Wir wissen jedoch, dass die Personen unter vollkommen unwürdigen und unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden."

Auf die Frage, um welche unwürdigen und unmenschlichen Bedingungen konkret es sich dabei handele, erklärte Laure Palun:

"Sie wurden teilweise - und werden immer noch – eine Nacht oder mehrere Nächte lang festgehalten. Sie hatten kein Ort zum schlafen, es gab keine Betten. Es gab keine Trennung zwischen Minderjährigen und Erwachsenen, und auch nicht zwischen Männern und Frauen. Sie hatten Zugang zu Sanitäranlagen, aber nur Klos, denn es gab keine Dusche."

Bei ihrer Mission sprach die Anafé mit Zeugen und Betroffenen, die den Behauptungen der Polizei widersprachen.

"Wir haben die Zeugenaussage eines Minderjährigen erhalten, dem man die Freiheit entzogen hatte, obwohl man uns zugesichert hatte, dass an diesem Ort keinen Minderjährigen die Freiheit entzogen wird. Ihm war zusammen mit sechs weiteren Personen die Freiheit entzogen worden, darunter Minderjährige und Erwachsene. Sie wurden dann zurückgeschoben, obwohl sie Asyl beantragt hatten. Und obwohl Minderjährige betreut werden sollen, weil sie geschützt werden müssen oder zumindest bestimmte Garantien erhalten sollen, wenn ihnen an der Grenze die Freiheit entzogen wird.

Er hat uns erklärt, dass sie während der gesamten Zeit, in der sie festgehalten wurden, also mehr als eine Nacht lang - 12 Stunden von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens -, nichts zu essen bekommen haben. Die Polizei weigerte sich, ihnen Essen zu geben. Sie hatten sogar die Polizei gebeten, mit ihrem eigenen Geld Essen kaufen zu gehen, und die Polizei hatte sich geweigert. Für uns entspricht das unwürdigen Bedingungen.

Die Personen haben keinen Zugang zu einem Arzt. Dabei kommen manche über die Berge und können entweder verletzt oder äusserst erschöpft sein.

Was ihre Rechte angeht, haben die Menschen keinen Zugang zu einem Telefon, haben keine Dolmetscherin und keinen Kontakt zu einem Verein oder zu einem Anwalt. Die Vereine werden nicht eingelassen. Manche Anwälte wurden einmal eingelassen, für eine besondere Situation, und sonst wird auch ihnen der Zugang verwehrt. Wie wollen Sie sowieso, dass jemand einen Anwalt kontaktiert, wenn sie nicht einmal ein Telefon hat?"

Die Anafé ging davon aus, dass es sich bei diesem Haftzentrum um eine sogenannte Wartezone handeln müsse. Solche Wartezonen gibt es sonst im internationalen Bereich von Flughäfen für Menschen, denen die Einreise verweigert wird. Also bevor diese Menschen offiziell das Staatsgebiet betreten. Ausländerinnen, die sich bereits auf dem Staatsgebiet befinden aber abgeschoben werden sollen, können ihrerseits in Abschiebehaftzentren eingesperrt werden, bei denen andere Regeln gelten.

Dem Haftzentrum in Menton jedoch gaben die Behörden eine ganz neue sperrige Bezeichnung, die die Konzepte von Abschiebehaft und von Einreiseverweigerung vermischt. Auf französisch: "Zone de rétention provisoire pour les personnes non admises". Auf Deutsch in etwa: "Vorübergehende Abschiebehaftzone für nicht eingelassene Personen." Warum die französischen Behörden diese rechtlichen Konzepte vermischen, vermutet Laure Palun:

"Die Verwaltung benutzt bestimmte Aspekte der Einreiseverweigerung und also der Wartezone. Aber sie wendet den Rechtsrahmen der Wartezone und der dort geltenden Rechte nicht an. Sie entscheidet sich also den Teil des Gesetzes anzuwenden, der ihr passt: Die Einreise zu verweigern und Menschen zurückzuschicken."

Gegen das rechtsfreie Haftzentrum für Ausländerinnen in Menton hat die Anafé nach ihrer Delegationsreise bis vor den obersten Verwaltungsgericht Frankreichs geklagt, dem Staatsrat. Doch selbst der Staatsrat bestätigte die Praxis des französische Innenministeriums.

"Der Staatsrat hat bestätigt, dass es vier Stunden lang keinen Rechtsrahmen geben muss. Er sah kein Problem darin. Zu den unwürdigen Haftbedingungen hat er gesagt, dass es keine Verletzung der Würde darstellt, solange die Personen Zugang zu Sanitäranlagen haben und man ihnen eine Flasche Wasser anbietet. Nun gut. Der Staatsrat hat also dieses Prinzip der Menschenwürde zusammengeschrumpft. Die Menschenwürde beschränkt sich aus seiner Sicht also auf Sanitäranlagen – lediglich Toiletten wohlgemerkt, keine Duschen – und einer Flasche Wasser. Das ist weit entfernt von der Menschenwürde, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen ist."

Mit einer zynischen Antwort weigerte sich der Staatsrat ausserdem, sich mit den festgestellten Grundrechtsverletzungen im Haftzentrum zu befassen.

"Den Fragen des Asylrechts und der Minderjährigen ist der Staatsrat aus dem Wege gegangen, weil er eingesehen hat, dass es Rechtsverletzungen bei der 4-Stunden-Frist, bei der Registrierung der Asylanträge und bei dem Schutz von Minderjährigen gab. Aber allen drei Punkten ist er aus dem Wege gegangen, indem er entschied: "Wenn es Rechtsverletzungen gibt, dann müssen die Personen selbst klagen und wir werden dann die Verwaltung bestrafen."

Und wir kommen damit zurück zur Frage, die wir dem Innenministerium und der Direktion der Grenzpolizei während der Anhörung vor dem Staatsrat gestellt hatten: "Wie soll eine Person klagen, wenn sie weder Zugang zu Anwälten noch zu Vereinen hat, kein Telefon hat und keinen Zugang zu einem Dolmetscher hat?"

Abgesehen vom rechtsfreien Haftzentrum in Menton hat die Anafé festgestellt, dass französische Polizeibeamte bestimmte Wörter gar nicht verstehen wollen, sobald Menschen an der Grenze um Asyl bitten. Auch so handeln sie gegen geltendes Recht in Frankreich.

"Es wurde bei der Asylrechtsänderung von Juli 2015 eingeführt: Wenn die Menschen an der Grenze ankommen und ihnen die Einreise verweigert wird, dann muss ihnen die Verwaltung erklären, dass sie Asyl beantragen dürfen. Und das wird nicht umgesetzt.

Wir haben mit lokalen Aktivisten Experimente gemacht – in Anführungszeichen. Sie haben auf italienischem Boden mit Personen gesprochen, die erklärt hatten, dass sie in Frankreich Asyl beantragen wollen. Sie haben einmal versucht, die Grenze zu passieren. Die Polizei hat nicht zugehört, als sie "Asyl" gesagt haben. Wir wissen wohl, dass es Probleme gibt. Wenn die Person kein Französisch spricht und "asylum" oder "refugee" sagt, funktionniert es bei der Grenzpolizei oft nicht. Sie haben also versucht, es mit französischen Wörtern zu sagen, es hat immer noch nicht funktionniert. Sie sind dann mit Blättern gekommen, auf denen Stand: "Ich bitte um Asyl in Frankreich." Die Papiere wurden vor ihren Augen zerrissen und sie wurden mit Zügen zurückgeschickt oder an diesem Ort geschickt, bis sie nach Italien zurückgeschoben werden konnten. Und das Innenministerium sagt uns also: "Es kommen keine Asylbewerber an der Grenze an. Sonst würden wir sie natürlich registrieren." Das widerspricht all dem, was uns die Leute sagen, die wir sonst treffen, die wir im Tal der Roya oder in Ventimiglia getroffen haben. Sie haben uns erzählt, dass sie in Frankreich beziehungsweise an der Grenze angekommen sind, Asyl beantragt haben, und nichts wurde registriert.

Das haben wir auch bei unseren Beobachtungen feststellen können. Wir sahen Menschen, die festgenommen wurden. Das Verfahren wurde innerhalb von dreieinhalb Minuten auf dem Bürgersteig des Bahnhofs Menton Garavan durchgeführt. Das Einzige, was man sie fragte, war: "name", "nationality" – wenn die Person nicht verstand, fragte man sie "Sudan oder Eritrea" – "age", um ihr Alter zu kennen.

Und je nach Alter wurde die Person direkt mit dem Zug zurückgeschickt. Denn Italien weigerte sich eine Zeit lang, Minderjährige wieder aufzunehmen. Also wurden sie in den Zügen direkt zurückgeschickt, sodass sie nicht von der französischen Polizei eigenhändig an die italienische Polizei überstellt werden mussten. Andere Personen wurden dann an diesem Ort in Menton gebracht, bevor sie den italienischen Behörden überstellt wurden."

Ob Schutzsuchende über die grüne Grenze in den Bergen einreisen könnten, oder ob es auch dort systematische Kontrollen gebe? Laure Palun erklärte, dass die Sicherheitskräfte auch Patrouillengänge in den Bergen führen. Nach ihrem Wissen benutzen sie dafür Wärmesensoren beziehungsweise Wärmebildkameras. Jedesmal, wenn sie menschliche Wärme feststellten, würden sie die Menschen festnehmen. So weiss die Anafé von 165 Personen, die in den Bergen in der Nacht auf den 27. Juni festgenommen wurden und in die rechtsfreie Wartezone-die-keine-sein-soll gebracht wurden. Sie hatten versucht, bei Nacht über die grüne Grenze in den Bergen zu kommen.

Die Beobachtungsmissionen der Anafé fanden im Mai und Juni statt. Also kurz nachdem Präsident Macron gewählt wurde, und noch vor den Parlamentswahlen. Die meisten Massnahmen an der Grenze zu Italien – auch die rechtsfreie Wartezone-die-keine-sein-soll in Menton, stammen hingegen schon von der sozialistischen Vorgängerregierung. Ob sich etwas verändert habe, seit sich die neue Regierung etwas mehr eingerichtet hat? Nein, erklärte Laure Palun, oder jedenfalls nicht zum Guten. Sie verweist darauf, dass die neue Regierung die Armee an der Grenze weiter verstärkt hat. Und dass Asylsuchende und Minderjährige weiterhin zurückgewiesen werden.