"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Flassbeck Makroskop

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Seit einiger Zeit schaue ich mir regelmäßig die Heute-Show des ZDF am Freitagabend an. Der Oliver Welke präsentiert die milde satirisch und milde politische Sendung mit vorzüglicher Locker­heit, ich wusste gar nicht, dass man das Métier des Conférenciers als Fußballreporter so gut lernen kann.
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10:27 min, 6023 kB, mp3
mp3, 78 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 19.09.2017 / 11:19

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Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 19.09.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Seit einiger Zeit schaue ich mir regelmäßig die Heute-Show des ZDF am Freitagabend an. Der Oliver Welke präsentiert die milde satirisch und milde politische Sendung mit vorzüglicher Locker­heit, ich wusste gar nicht, dass man das Métier des Conférenciers als Fußballreporter so gut lernen kann. Besonders lustig wird es jeweils dann, wenn die Jungs vom ZDF ihre Mikrofone jenen Menschen vors Maul halten, welche den Aufruf von Stéphane Hessel vor sieben Jahren aufs Wort befolgen. Indignez-vous!, hatte der geschrieben, und dementsprechend empören sich zahlreiche Deut­sche, vor allem über eure Frau Bundeskanzlerin, welcher sie allerlei Landesverrat und Ver­bre­chen gegen die Deutschheit vorwerfen, unter anderem die Beherbergung einer Million islamistischer Terroristen. Am meisten lachen musste ich über einen älteren Herrn, der ganz heiser war vor lauter Empörung und krächzte: Angela Merkel hat Deutschland ruiniert!

Solche Halskrankheiten wünsche ich niemandem, aber einen gewissen Unterhaltungswert haben sie allemal, und davon lebt die Heute-Show ganz prominent, unter anderem auch von eurem Björn Höcke aus Thüringen, der unbedingt verhindern möchte, dass 10 Milliarden Menschen nach Deutschland strömen und Sozialhilfe beziehen. Da würde der Mittelstand ja ganz schön bluten, was! Das hat schon Klasse, ebenso wie all die anderen, die jetzt dringend mal und vor allem unter dem Banner der Meinungsäußerungsfreiheit sagen möchten, dass unter dem Hitler nicht alles schlecht war, dass in der Wehrmacht noch Zucht und Ordnung herrschte und dass George Soros und das Weltjudentum sowieso die Weltherrschaft anstreben, wie es in dem großen wissenschaftlichen Werk «Die sieben Weisen von Zion» schon lange vorhergesagt wurde. Wie gesagt: In einer Woche wissen wir, welchen Anteil von empörten Brüllaffen die deutsche Öffentlichkeit beinhaltet, und dabei wollen wir es für den Moment bleiben lassen.

Der ehemalige Chef-Volkswirt der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung Heiner Flassbeck betreibt einen Webblog oder eine Webseite mit dem Titel Makroskop. Die Redaktion dieser Seite hat die Wahlprogramme der Parteien unter die Lupe genommen und im Hinblick auf bisher 7 Thesen untersucht; der Rest soll in dieser Woche folgen. Lustig sind die Thesen sowieso, und deshalb zitiere ich sie ziemlich verkürzt gleich der Reihe nach, zuerst jene zum Finanz- und Geldsystem: Erstens: Die Finanzpolitik eines Landes mit einer entwickelten Geldwirtschaft darf sich niemals an einer aus gesamtwirtschaftlicher Sicht völlig irrelevanten Staatsschuldenquote orientieren. Eine vernünftige Partei wird sich daher uneinge­schränkt für eine Abschaffung der Schuldenbremse einsetzen. Zweitens: Eine Zentralbank, die ihre Aufgabe ernst nimmt, und im konkreten Fall die Europäische Zentralbank, wird immer dafür sorgen, dass die Zinsen in allen ihren Mitgliedländern gleich hoch sind und die Zinsen niedrig halten, solange die Arbeitslosigkeit hoch ist. Das Schulden-Ankaufprogramm der EZB hat genau diesen Effekt und muss daher unter den gegenwärtigen Umständen uneingeschränkt gutgeheißen werden. Drittens: Banken sind von zentraler Bedeutung für eine funktionierende Geldwirtschaft. Eine Reform des Bankensektors, die zu dessen Stabilisierung beitragen kann, erfordert die Überwachung von Banken durch eine kompetente Bankenaufsicht, die Trennung des Zahlungsverkehrs und Kreditgeschäfts vom spekulativen Investmentbanking und eine unbeschränkte Garantie des Staates für die Bestände aller Girokonten in welcher Höhe auch immer.

Der zweite Teil geht um die Globalisierung. Hier lautet These vier, erneut stark verkürzt, dass eine Partei, die Regierungsverantwortung übernehmen will, ein klares Verständnis der welt­wirt­schaft­lichen Zusammenhänge haben muss. Es komme darauf an, die Interessen nicht nur Deutschlands, sondern des ganzen Kontinents zu vertreten. Zudem muss man wissen, dass nicht der Handel, sondern Konsum und Investitionen die treibenden Kräfte der wirtschaftlichen Entwicklung auf der Welt ist, wobei der internationale Handel heute alles andere als effizient ist. Insbesondere das gegenwärtige internationale Währungssystem ist für die Entwicklungsländer eine Katastrophe. Sodann muss man eine für die Partner vernünftige Position zu den deutschen Leistungs­bilanz­über­schüssen haben und erkennen, welch fatale Fehlentwicklung diese Überschüsse im internationalen Handelssystem darstellen. Die These fünf betrifft den Arbeitsmarkt. Hier heißt es: Die Arbeiter, die scheinbar das Produkt sind, das am Arbeitsmarkt gehandelt wird, sind zugleich diejenigen, die alle die Produkte kaufen müssen, die mit ihrer Arbeit und dem vorhandenen Kapital hergestellt wurden. Deswegen kann man die Arbeitslosigkeit nicht durch Senkung der Löhne verringern, sondern man erhöht sie, weil die Binnennachfrage als Folge davon sofort sinkt. Dann geht es weiter mit der EU und dem Euro. These 6 im Volltext: Nichts ist schlimmer als ein Wettbewerb der Nationen. Nichts ist besser als die wirtschaftliche Kooperation zwischen den Nationen. Hinter der EU und dem Euro steht sicherlich auch diese Idee, die wir uneingeschränkt teilen. Leider sieht die Realität ganz anders aus. Wenig verwunderlich, wenn man sich die Verfassung der EU, den Vertrag von Lissabon, betrachtet. Ein marktliberales Manifest, das auch die deutschen Ordoliberalen entzückt haben dürfte. Alle sollen so wie Deutschland werden! – Ein solches Europa ist aber zum Scheitern verurteilt, denn nicht alle können Exportweltmeister sein. Die EU braucht daher eine neue Geschäftsgrundlage – und zwar schnell. Da für viele Länder die Zeit drängt und ein Neustart der EU wenig wahrscheinlich ist, muss man jedoch auch ohne Scheuklappen über Rückzugsoptionen nachdenken. Und dann noch These 7 zum Euro: Der Euro ist nicht nur ein Name für eine Währung, sondern eine Institution. Wie alle Institutionen strukturiert sie mögliche Handlungsoptionen vor. So ist im Rahmen der gegenwärtigen Ausgestaltung des Euro die in Europa praktizierte Austeritätspolitik die Default-Position. Das Problem des Euro ist, dass er sich am Vorbild der Deutschen Mark orientiert und daher alleine der Preisstabilität verpflichtet sein soll. Eine Zentral­bank aber ist für eine Geldwirtschaft das zentrale politische Instrument, um die Wirtschaft zum Wohl ihrer Bürger zu steuern. Folglich muss man entweder eine andere Politik der EZB fordern und diese juristisch absichern – was heißt, eine Änderung der Verträge ins Auge zu fassen – oder man muss die Europäische Währungsunion zurückbauen zu einem System, das den Staaten eine effektive Wirtschaftspolitik erlaubt.

Die Redaktion von Makroskop prüft wie gesagt die Wahlprogramme von CDU/CSU, der SPD, der Grünen, der FDP, der Linken und der AfD im Hinblick auf diese Thesen und verteilt dann Punkte. So richtig zufrieden ist sie mit keiner Partei, aber an der Spitze liegt mit 300 Punkten von 700 möglichen mit Abstand die Linke, gefolgt von den Grünen mit 170 und der SPD mit 60 Punkten; FDP und AfD ergattern je 10 Punkte und die CDU/CSU noch 5 Punkte.

Nun sagt diese Rangliste wohl eher etwas aus über die Orientierung von Heiner Flassbeck und seiner Makroskop-Webseite als über eine tatsächlich effiziente und theoriekonforme Wirtschafts- und Währungspolitik beziehungsweise den entsprechenden Vorgaben im Programm. Das liegt zum einen daran, dass zwischen Parteiprogramm und politischer Realität ein Abgrund klafft. Sogar die Partei der Brüllaffen würde ihr politisches Programm nicht eine Sekunde lang in die Praxis umsetzen können, wenn sie entgegen aller Vernunft und Wahrscheinlichkeit die Mehrheit im Parlament erhielte; die AfD würde exakt die gleiche Politik weiter führen, wie sie von der großen Koalition betrieben wird, weil es dazu im internationalen Kontext praktisch keine Alternative gibt, weder für Deutschland noch für die ganze Welt. So einfach ist das.

Und trotzdem: Vielleicht könntet ihr das Terrain so vorbereiten, dass beim nächsten Wahlkampf in vier Jahren die Diskussionen zwischen den Parteien und ihren Exponenten auf diesem Niveau geführt werden? Man braucht ja gar nicht einverstanden zu sein mit allen Thesen von Flassbeck und Kolleginnen, aber die Fragestellungen dahinter wären es wert, einmal auf den Stammtischen in der ganzen Republik zu landen. Stimmt es tatsächlich, dass die Zentralbank nach Belieben Geld drucken kann, wie Flassbeck behauptet? Die Entwicklung der letzten zehn Jahre gibt ihm zweifellos recht, aber kommt da nicht irgendwann noch ein dickes Ende? Oder aber: Welchen Schluss müssen wir aus der Tatsache ziehen, dass die Produkte, welche die Wirtschaft produziert, von den Produzenten selber gekauft werden müssen, damit diese Wirtschaft floriert? Schließlich gibt es ja auch so etwas wie den Export, und offenbar werden aus Deutschland nicht nur Konsumgüter exportiert, wenn man mal von den Automobilen absieht und davon, dass jene Automobile, welche Deutschland exportiert, zunehmend gar nicht mehr in Deutschland selber gefertigt werden, sondern vor Ort in den Vereinigten Staaten von Amerika und in China. Und dann kommt noch die Frage hinterher, wie es sich mit dem Sparen verhält, zum Beispiel mit dem Zwangssparen fürs Alter im Rahmen einer Rentenversicherung oder aber mit den normalen privaten Ersparnissen. Sowieso kollidiert die Aussage zum Konsum mit meiner eigenen Arbeitshypothese, dass der private Konsum an und für sich ausgereizt ist, soweit es sich nicht um neue Produkte und Dienstleistungen handelt. Aber mehr als drei Automobile in der Garage, das erträgt ja kein Mensch, ich meine nicht in der Garage, sondern im Kopf. Ein Auto für jeden Wochentag, geht's überhaupt noch?

In diesem Sinne haben die Thesen von Makroskop eine echte Bedeutung, ohne dass sie dabei den Anspruch auf Ausschließlichkeit haben dürfen. Aber wenn man nur schon die Debatten beziehungsweise das Gebrüll über Wohlstand oder Niedergang in Deutschland einigermaßen anständig führen will, nämlich im größeren Rahmen der Weltwirtschaft, in welche euer Land nun mal zwangsläufig ebenso eingebunden ist wie die Schweiz und sogar Luxemburg und Andorra, dann ist dem Wahlkampf schon viel Gutes getan worden. Dass man sich daneben auch Gedanken über die Verteilung des Wohlstandes und in erster Linie über eine einheitliche Sozialpolitik in ganz Europa machen könnte beziehungsweise sollte, und zwar dringend, das steht auf einem anderen Blatt, zu dem ihr bitte jetzt mal schnell umblättern wollt, auch wenn die nationalistischen Brüllaffen alles dafür tun, dass ihr euch mit ihnen beschäftigt anstatt mit richtigen Fragen.