Konfliktfeld Gedenkkultur

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In diesem Beitrag geht es um das teils hart umkämpfte Feld der kommunalen Gedenkkultur einer kleinen Großstadt, die hier beispielhaft für so viele Städte und Gemeinden steht, in denen es offenbar –auch 73 Jahre nach offiziellem Ende des Naziregimes– schwer fällt Täter als Täter und Opfer als Opfer zu sehen.
Die Deutungshoheit über die Geschichte und ein angemessenes Gedenken scheint meist noch immer bei denen zu liegen, die lieber vergessen wollen und ein Ende der Auseinandersetzung um die Zeit und die Folgen des Nationalsozialismus bevorzugen.

Vor allem vor dem Hintergrund des Rechtsruck in der Republik, auch gerade in Fragen rechter Deutungsmuster bezüglich der Geschichtsschreibung, kommt den kommunalen Prozessen für eine wissenschaftlich fundierte und sich an den Opfern orientierte Gedenkarbeit ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zu.
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43:26 min, 40 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.05.2018 / 02:17

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Entstehung

AutorInnen: Unabhängige Redaktionsgruppen bei Radio ZUSA / Georg
Kontakt: info(at)mobile-medienarbeit.de
Radio: ZUSA, Uelzen im www
Produktionsdatum: 03.05.2018
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Skript
Konfliktfeld Gedenkkultur

Lüneburg, die tausendjährige, kleine Großstadt an der Ilmenau, rund 60 km von der Metropole Hamburg entfernt, steht in diesem Beitrag nur als Beispiel, quasi als Serviervorschlag, für unzählige Orte und Städte, die ein Problem damit haben, Täter des Nationalsozialismus als Täter und Opfer als Opfer zu sehen.

In vielen Orten der Republik gibt es so genannte "Gedenksteine", als "Mahnmale" bezeichnete Gedenkorte oder Soldaten- und Kriegsdenkmale, die unverhohlen den Soldaten der Wehrmacht, als einer Täter-Armee gedenken machen sollen.

So auch in unserer Beispielstadt "Lüneburg".

Anfang diesen Jahres ändert sich hier in der Diskussion einiges. Nachdem ein rechter Vlogger durch seine alte Herkunftsstadt fährt, um seinem völkischen Publikum zu beweisen, wie links-grün-versifft, mit Antifa-Aufklebern seine Herkunftsstadt verseucht sei. Auf seinem Trampelpfad durch die Tausendjährige, kam er auch an einem dieser besagten Steine vorbei. Es handelt sich um den Gedenkstein für die 110. Infanterie-Division, der gerade mit dem rot gesprühten Schriftzug "Mörder" verziert worden ist.
Zu den mit Kommentaren des rechten Bloggers hinterlegten Videoaufnahmen, tritt ein zunächst Unbekannter, der auch nicht gefilmt werden will. Seine Stimme kommt Lüneburger*innen irgendwie vertraut bekannt vor. Nicht sehr viel später wird klar: Es ist einer der stellvertretenden Bürgermeister der Stadt…
Was dieser Herr Dr. Scharf – ein ehemaliger Schulleiter eines hiesigen Lüneburger Gymnasiums – dann zu Protokoll gibt, verschafft dieser Stadt, in seiner Folge einen weitgehenden Konflikt über die Gedenkkultur, die so genannte "Lüneburger Linie" und die Deutungshoheit über nichts weniger, als die Geschichte der Stadt und ihren Umgang mit den Weltkriegsveteranen, die an unzähligen Orten auf dieser Welt gekämpft haben und nicht selten auch Massaker verübt hatten.

So, wie das Löwengeschwader unter Wolfram Freiherr von Richthofen, dass 1937 als Teil der Legion Condor an der völligen Vernichtung Guernicas beteiligt war und dem hier in Lüneburg ein zeitweise hart umkämpftes Denkmal Gedenken verschaffen sollte. Das Denkmal ist inzwischen –nach einer nächlichen Entwendung des Adlers, der das Denkmal von Anbeginn krönte– auf einem Kasernengelände zwischengelagert worden.

Zurück zum Stein des Anstoßes: dem so genannten Ehrenmal für die Gefallenen Soldaten der 110. Infanterie Division. Es wird von Mitgliedern des Traditionsverbandes der ehemaligen 110. Infanterie Divison, unterstützt durch die politische und administrative Führung der Stadt Lüneburg, als ein Gefallenendenkmal in Lüneburg errichtet und am 9. Oktober 1960 eingeweiht. Eine aus schwedischem Granit gefertigte Platte, aus der ein Wikingerschiff und der Spruch erhaben, herausgemeißelt wurde: "Es sage keiner, dass unsere Gefallenen tot sind". Das Wikingerschiff war das Symbol dieser Division und findet sich auch auf einem weiteren Gedenkstein, der am Fliegerhorst – dem heutigen Flugplatz– in Lüneburg, neben anderen Steinen und dem eben beschriebenen Gedenkstein für das Löwengeschwader dort hinverlegt wurde, nachdem die ehemalige Scharnhorst-Kaserne zu einem Universitätscampus konvertiert wurde.

An keiner Stelle findet sich ein mahnender Hinweis oder eine Auseinandersetzung mit einem der schwersten Massaker an tausenden Menschen in Ozarichi in Weißrussland im zweiten Weltkrieg, an dem die 110te damals maßgeblich beteiligt gewesen ist.

Jahrzehntelang steht dieser Stein in einem kleinen Park nahe der Lüneburger Altstadt und bis in die 1970er Jahre kommt ein langsam schwindendes Häufchen alter Kämpen zusammen, um ihrer gefallenen Kameraden zu gedenken, sowie die alten Kriegserlebnisse aufzufrischen. Bis dahin jedes Mal mit Unterstützung maßgeblicher Honoratioren der Stadt Lüneburg und der Bundeswehr.
Ab den 1970er Jahren gerät der Stein dann langsam in Vergessenheit, bis 2014 das Thema "Gedenkkultur in Lüneburg" an eine private Stiftung outgesourct und ihr die Interpretation über das Gedenken und die Geschichtsschreibung zu nationalsozialistischen Verbrechen überlassen wird. All das ohne öffentliche Diskussion oder gemeinsamer Arbeit an den Texten. Was dabei herauskommt wird vor allem von der Vereinigung der Verfolgen des Naziregimes (VVN) sachlich und fundiert kritisiert. All das nahezu unterhalb des öffentlichen Radars der hiesigen Presse. Kein Interesse in den Redaktionsstuben…

Im Jahr 2015 findet dann der Prozess gehen den so genannten "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, in der zum Gerichtssaal umfunktionierten Ritterakademie stattfand. Diese große Veranstaltungshalle liegt direkt gegenüber dem kleinen Park an der Straße "Am Springintgut".
Den aus der ganzen Welt zu diesem denkwürdigen Prozess angereisten Auschwitzüberlebenden und Angehörigen von Opfern wird gewahr, was dort –keine 50 Meter entfernt– für ein Gedenkort, seit Jahren von der Stadt gehegt und gepflegt, ihnen gegenüber steht.

Nicht nur die VVN und die Antifaschistische Aktion Lüneburg / Uelzen bringen 2015 in die Öffentlichkeit, was mittlerweile seit sage und schreibe fast 12 Jahren vom Historiker Christoph Rass bereits wissenschaftlich recherchiert belegt und sogar 2006 durch einen Dokumentarfilm hätte bekannt sein können: Die 110. Infanterie Division war maßgeblich an dem Verbrechen von Ozarichi beteiligt, bei dem nach zurückhaltender Schätzung mindestens 9.000 Zivilist*innen, in einem umzäunten Gelände sich selbst überlassen und verhungern lassen wurden.

Dass ihr hier so unverhohlen, mit namhafter Unterstützung der Stadt Lüneburg seit mehr als 60 Jahren und seit 1960 sogar mit einem Gedenkstein gedacht wurde, findet leider wieder keine breite Öffentlichkeit, wirkt aber im Untergrund.
2017 wurde auf Initiative von Prof. Dr. Ulf Wuggenig mit Studierenden der Leuphana-Universität Lüneburg die erste von drei Ausstellungen –den so genannten "Hinterbühnen"– dem Thema Gedenkkultur versucht Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wieder reagiert die Provinzpresse der hiesigen "Landeszeitung" nicht und die "Lüneburger Linie" wird auch von der Stadtpolitik fortgeschrieben.

Es bedarf erst der revisionistischen und relativierenden Aussagen des Dr. Scharf in dem Video des rechten Bloggers, um das Thema in die Lüneburger Öffentlichkeit und weit darüber hinaus zu tragen.
Ein aktiver Arbeitskreis Gedenkkultur mit Akteur*innen aus der VVN und anderen Aktiven von Universität bis zur Linkspartei stemmen sich seitdem gegen das Beharrungsvermögen der "Lüneburger Linie".
Und so machten sich seit Januar auch einige Studierende auf den Weg der Planung einer Demonstration, die jetzt stattgefunden hat: Am Jahrestag der Bombardierung der kleinen, baskischen Stadt Guernica, die auch durch Piccassos Schreckensgemälde welweit im Gedächtnis bleibt.
Am 26. April kommen bei passendem Aprilwetter und Starkregen rund 350 Menschen gekommen, die sich dagegen aussprechen, dass die so genannte "Lüneburger Linie" – ein Vergessen durch relativierendes Gedenken – weiter das Gedenken Lüneburgs bestimmt.

Es folgen die nahezu ungeschnittenen Redebeiträge dieser besonderen Demonstration:

<O-Ton Eröffnung>
<O-Ton Wuggenig>
<O-Ton Gottschalk>
<O-Ton Dillmann>
<O-Ton AK Unbehagen in der Struktur>

Abmoderation:
Ob Lüneburg es schaffen wird, sich in seinem Gedenken von der seit Jahrzehnten formulierten "Lüneburger Linie" zu verabschieden und zu einer Öffnung und Verbreiterung der Diskussion in Sachen Gedenkkultur kommt, bleibt abzuwarten.
Verschiedene Vorstöße der Partei "Die Linke" im Lüneburger Stadtrat und weiteren namhaften Akteur*innen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die immer wieder von der Mehrheit im Rat torpediert und relativiert werden, versprechen zunächst einmal einen lang andauernden Konflikt beim Thema "Erinnerungs- und Gedenkkultur in Lüneburg".

Aber Lüneburg ist ja auch nur ein Beispiel, ein Serviervorschlag...

Kommentare
03.05.2018 / 13:36 Kai J., Radio T
Gesendet am 05.05.18 um 17 Uhr im Radio T Chemnitz UKW 102,70 MHz
Vielen Dank!
 
07.05.2018 / 18:11 Stefan, Freies Radio Neumünster
Gesendet
Haben wir übernommen am 7.5.2018. Vielen Dank!