Wir werden unterwandert. Eine kleine, satirisch angehauchte Geschichte der Regenwürmer und die Präsentation der ersten "Weltkarte der Regenwürmer"

ID 98089
 
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Im Oktober 2019 präsentierte ein internationales Wissenschaftlerteam unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Universität Leipzig die erste "Weltkarte der Regenwürmer".

Ich habe das zum Anlass genommen, die Karte vorzustellen und dabei eine kleine, leicht satirisch angehauchte Geschichte der Regenwürmer und ihrer Erforschung zu präsentieren.
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08:41 min, 20 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 29.10.2019 / 20:31

Dateizugriffe: 2408

Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Internationales, Umwelt
Serie: "Aktuell" bei Radio Blau
Entstehung

AutorInnen: Danny Walther
Radio: RadioBlau, Leipzig im www
Produktionsdatum: 29.10.2019
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wir werden unterwandert.
Wir werden untergraben.
Wir werden ausgehöhlt wie ein Kürbis zu Halloween.

Sie werden sich jetzt fragen, was der Mann da im Radio erzählt. Worum es hier geht. Wer uns anzugreifen versucht.
 
Nun, die Sache ist ganz einfach: Es sind Regenwürmer. Sie sind es, die die Erde unter unseren Füßen umgraben. Und zwar weltweit. Wobei die Grabungsaktivitäten hierzulande besonders hoch sind. Oder besonders tief, je nachdem wie man das sehen will.
Und das erzähle ich nicht einfach so daher. Dafür habe ich Beweise. Wissenschaftliche Beweise.
6.928 Stück, um genau zu sein. Denn an so vielen Orten haben Wissenschaftler aus 57 Ländern Daten gesammelt und dadurch die erste „Weltkarte der Regenwürmer“ erstellt.

Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich: Wer um alle in der Welt braucht eine Weltkarte der Regenwürmer? Außer vielleicht ein paar Anglern, die nach Fischködern suchen. Oder dem ein oder anderen Vögelchen, bei dem Regenwürmer ganz oben auf der Speisekarte stehen.

Aber da haben sie sich geirrt: Denn erstens gab es bisher keine Weltkarte der Regenwürmer, weshalb die Wissenschaftler überhaupt keinen Schimmer davon hatten, wie sich das allgemeine Gekräuche unter der Erde über den Globus verteilt. Und zweitens haben sie durch die Karte herausgefunden, dass es an klimatisch gemäßigten Orten wie unseren meist mehr Regenwürmer und auch mehr Regenwurmarten gibt als an einem Ort gleicher Größe in den Tropen.

Wobei das mit den klimatisch gemäßigten Orten so eine Sache ist, denn das Klima tendiert in jüngster Zeit ja eher zur Maßlosigkeit. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer bzw. der Wurm in der Erde versteckt, denn der Klimawandel könnte das Vorkommen von Regenwürmern grundlegend verändern und damit auch den wichtigen Funktionen, die die Würmer für das weltweite Ökosystem haben, beeinträchtigen.

Zumindest sind das die zentralen Erkenntnisse, die ein Team aus Wissenschaftlern unter Führung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung und der Universität Leipzig zusammen mit 140 internationalen Wurmforschern erstellt hat. Ihre Ergebnisse haben die Forscher in der bereits erwähnten Karte zusammengetragen, die sich „Global distribution of earthworm diversity“ nennt – was man vielleicht mit „Weltweite Verteilung der Regenwurmvielfalt“ übersetzen könnte.

Das klingt beim ersten Hören nach einer dieser Selbstbeschäftigungsgruppen für Wissenschaftler mit obskuren Neigungen, doch sind die Ergebnisse in Wahrheit viel mehr als abseitiges Nerdwissen mit dem Hang zum Nutzlosen. Denn wie wichtig Regenwürmer für unser Ökosystem sind, zeigt sich allein schon daran, dass ihre Biomasse in einer bestimmten Region die aller lebenden Säugetiere in dieser Region übersteigt. Mit anderen Worten: Würden Sie und ich alle Regenwürmer ausbuddeln, die, sagen wir, in Sachsen leben und die Würmer dann auf eine Waage legen, so wären sie schwerer als all die Hasen, Rehe, Hirsche und Wildschweine in Sachsen zusammen.

Und für alle, die statt relativer Vergleichswerte absolute Zahlen bevorzugen: Laut der Studie schlängeln sich unter unseren Füßen bis zu 150 Regenwürmer pro Quadratmeter. Rechnet man für Sachsen – angesichts all der Städte, Flächenversiegelungen und sonstigen Dingen, die einem Regenwurm das Leben schwer machen – mal nur mit 20 Regenwürmer pro Quadratmeter, so ergibt das auf einen Quadratkilometer 20 Millionen Würmer, die zusammengenommen etwa 20 Tonnen wiegen. Bei rund 18.500 Quadratkilometern Fläche macht das also allein in Sachsen 370.000 Tonnen Regenwürmer.


Übrigens: Falls Sie sich auch ein paar von den possierlichen Tierchen halten wollen: Einfach Erbsen oder Ölrettich im Vorgarten aussäen, denn diese Früchte lieben die Regenwürmer am meisten. Zumindest ist das das Ergebnis einer Versuchsreihe, die das sächsische Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie vor einiger Zeit durchgeführt hat. Im Schnitt konnten die Erbsenzähler vom Umweltamt bei diesen Früchten 56 Würmer auf dem Quadratmeter verbuchen. Bei einigen Flächen kamen sogar bis zu 80 Würmer auf den Quadratmeter.

Nun macht Masse normalerweise noch keine Klasse. Bei Regenwürmern aber ist das anders, denn da ist große Masse = große Klasse. Denn überall dort, wo es Regenwürmer gibt – und es gibt außer in den Eis- und Wüstengebieten fast überall Regenwürmer auf diesem Planeten – überall dort also fressen die Tiere organisches Material, lockern und durchlüften den Boden, ziehen Laub und andere pflanzliche Reste hinab in die Tiefe und vermischen Humus mit Erde. Dadurch machen die Regenwürmer zahlreiche Nährstoffe im Boden verfügbar, helfen Kohlenstoff zu speichern, verbreiten Samen von Pflanzen und bereiten – im wahrsten Sinne des Wortes – Menschen, Tieren und Pflanzen den Boden.

Abseits dieser allgemeinen Erkenntnisse war über Regenwürmer und ihre weltweite Verbreitung bisher allerdings nicht viel bekannt, weshalb die Wissenschaftler jetzt ihre Regenwurm-Weltkarte erstellt haben. Und siehe da: Während die Artenvielfalt bei den meisten Tierarten in den tropischen Gebieten größer ist als in den gemäßigten, verhält es sich beim Regenwurm eher umgekehrt. Mit anderen Worten: Während die Artenvielfalt bei Pflanzen, Insekten und Vögeln immer mehr zunimmt, je mehr man sich dem Äquator nähert, desto mehr nimmt sie beim Regenwurm ab. Die meisten Regenwürmer gibt es deshalb in Europa, im Nordosten der USA und in Neuseeland – das, so aus der Ferne betrachtet, ja selbst einem Regenwurm ähnelt, den irgendjemand in zwei Teile geschnitten hat. Wobei es ein Mythos ist, dass man Regenwürmer in der Mitte durchschneiden kann und dann trotzdem beide Teile überleben und sich zu zwei neuen Würmern auswachsen. Mit ein bisschen Glück lebt maximal der Kopfteil weiter, und das auch nur, wenn es ihm gelingt, sich einen neuen Schwanz wachsen zu lassen. Der ursprüngliche Teil mit dem Schwanz stirbt dagegen unweigerlich ab. Aber das nur – genau wie Neuseeland – am Rande.

Kehren wir stattdessen lieber zu unserer Regenwurmkarte zurück. Wobei die Wissenschaftler aus Leipzig eine solche Karte anfangs gar nicht für möglich gehalten haben und staunten, wie viele Regenwurmforscher es weltweit gibt, die bereits sind, ihre Daten mit ihnen zu teilen.
Was wiederum zeigt, dass es sich lohnt, nicht nur in den Höhen des Geistes zu schweben, sondern sich auch ganz erdigen Fragen zuzuwenden. Zumindest wenn man kein Regenwurm ist und gerade dabei dabei ist, sein abgetrenntes Köpfchen zu retten, indem man sich ein neues Hinterteil wachsen lässt.

Dass es Regenwürmer nicht immer leicht hatten und durchaus damit rechnen mussten, dass sie in zwei oder noch mehr Teile gehackt werden, zeigt ein kleiner Blick in die Geschichte. So empfahl etwa Johann Wilhelm Hönert 1774 in seinen "Gründlichen Anweisung zum Anlegen und Unterhalten eines wohlbestellten Blumengartens“ kurz und bündig: „Regenwürmer sind zu tödten, wo man sie findet", wobei Blumenfreund Hönert auch gleich noch konkrete Anweisung gab, wo sich die Würmer so rumtreiben: „In den frühen Morgenstunden findet man sie zur Begattung frey auf dem Land liegen.“

Bis ins 19. Jahrhundert hinein galten Regenwürmer als Schädlinge. Zum Glück blieb diese Ansicht nicht ewig bestehen. Der erste, der sich wissenschaftlich ausführlich mit dem Regenwurm beschäftigte – und dabei auch seine Wichtigkeit für das Ökosystem nachwies – war keine Geringerer als Charles Darwin, seines Zeichens der Vater der Evolutionstheorie – und der gute Onkel aller Regenwurmforscher.
Darwin war geradezu besessen von den Tieren und hielt bereits 1837 einen Vortrag vor der Geologischen Gesellschaft von London, in welchem er erklärte, daß - Zitat „die ganze Ackererde über das ganze Land hin schon viele Male durch die Verdauungscanäle der Würmer gegangen ist und noch viele Male durchgehen wird.“

1881, am Ende eines langen Forscherlebens, veröffentlichte Darwin schließlich sein großes Werk über die Regenwürmer: „Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer“ hieß es und schlug dermaßen ein, dass es nicht nur bald ins Russische, Feanzsösisch und Deutsche übersetzt wurde, sondern zur damaligen Zeit im Allgemeinen auch beliebter war als sein Buch über die „Entstehung der Arten“. „Fesselnd wie ein Feenmärchen“, nannte die Wiener Presse das Buch, während andere lobten, es sei mit „Einfachheit und Klarheit geschrieben“.

In seinem Regenwurmbuch beschreibt Darwin in aller Ausführlichkeit nicht nur die Lebensweise der Tiere, sondern trug auch Informationen über die Regenwurmarten ferner Länder zusammen und erklärte und verglich im Detail ihre Kothaufen. Aber damit noch nicht genug. Darwin spielte den Würmern bei seinen Forschungen auch ein paar Klavierstücke vor, nicht um sie mit den Segnungen klassischer Kultur bekannt zu machen, sondern um die Auswirkungen der Schallwellen auf die Würmer zu messen.

Darwin jedenfalls war vom Verhalten der Würmer begeistert, und zwar nicht nur, wenn sie mit Beethoven und Mozart beschallt wurden, sondern generell: Er kam zu dem Schluss, dass - Zitat - „die Würmer mit dem Heraufschaffen feiner Erde auf die Oberfläche in den meisten oder allen Teilen der Erde und unter den allerverschiedenartigsten Klimaten eine große Arbeit verrichten.“ Und weiter: „Man darf bezweifeln, dass es viele Tiere gibt, die für die Weltgeschichte eine so wichtige Rolle gespielt haben.“

Hoffen wir also, dass wir auch in Zukunft fleißig unterwandert werden. Ohne die Würmer würden es uns früher oder später nämlich den Boden unter den Füßen wegziehen. In diesem Sinne – guten Abend und bis zum nächsten Mal.

Kommentare
30.10.2019 / 10:06 Sabine und Resa, Radio Dreyeckland, Freiburg
gesendet im Mi-Mora
vielen Dank!
 
30.10.2019 / 17:56 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 30.10.. Vielen Dank!