3 x Lesung: Clemens Böckmann, Franziska Füchsl und Christoph Szalay

ID 101163
Irgendwas musste ich mir einfallen lassen (Hauptteil)
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Teil 1:
"Irgendwas musste ich mir einfallen lassen"
Clemens Böckmann

Teil 2:
"Tagwan"
Franziska Füchsl feat. Sepp Schuh

Teil 3:
"Rændern"
Christoph Szalay
Audio
51:07 min, 185 MB, oga
vorbis, 506 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.03.2020 / 23:07

Dateizugriffe: 7900

Klassifizierung

Beitragsart: Collage
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Lorettas Leselampe
Entstehung

AutorInnen: Recycling
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 30.03.2020
Folgende Teile stehen als Podcast nicht zur Verfügung
Tagwan
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Audio
45:31 min, 65 MB, mp3
mp3, 199 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.03.2020 / 23:25
Rændern
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Audio
41:54 min, 58 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.03.2020 / 23:34
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Clemens Böckmann: Irgendwas musste ich mir einfallen lassen
Uta ist 72 und wohnt in einem Ein-Zimmer-Apartment. Trotz ihres hohen Alters ist sie noch immer als Sexarbeiterin tätig. Unregelmäßig kommen zwei Stammkunden, die sie mitunter bereits seit zehn Jahren kennt, zu ihr, wodurch sie ihre kleine Rente etwas aufbessern kann. Dabei hat sie in ihrem Leben viele unterschiedliche Berufe ausgeübt. Floristin, Tapeziererin, Fachverkäuferin und Imbissbetreiberin ist sie gewesen. Lange Jahre hat sie als Servicemitarbeiterin in unterschiedlichsten Hotels der DDR gearbeitet. Die meiste Zeit aber hat sie sich als Sexarbeiterin ihr Geld verdient.
Über sieben Jahre war Uta dabei Inoffizielle Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit. Von Mitte der '70er Jahre bis Anfang der '80er Jahre fährt sie im Auftrag der STASI zur Messe nach Leipzig, nach Prag oder verkehrt in den Hotels und Bars von Karl-Marx-Stadt und Zwickau. Die STASI bezahlt sie für ihre Tätigkeit, noch besser aber zahlen die Männer aus Westdeutschland, der Schweiz, Frankreich, den USA, Italien und den Ländern der Sowjetunion. Ist Uta anfänglich angezogen von Abenteuer und Geld, überzeugt das Richtige zu tun, verliert sie im Laufe der Zeit mehr und mehr die Kontrolle, wird alkoholkrank, merkt, wie ihr Leben durch die STASI manipuliert und beeinflusst wird. Anfang der '80er kündigt sie ihre Zusammenarbeit mit dem Ministerium auf, bleibt ihrem Eindruck nach aber fest unter deren Kontrolle. Jeder Versuch Freundschaften oder Liebesbeziehungen aufzubauen wird zerstört, jeder Versuch ökonomisch wieder unabhängig von der Sexarbeit zu werden scheitert. Ihre Alkoholsucht wird schlimmer. Die Männer, die sie jetzt kennenlernt sind Trinker, Betrüger, Schläger. '89 kommt sie für einige Wochen wegen illegalen Grenzübertritts ins Gefängnis, erlebt die Öffnung der Grenze von dort, und versucht sofort nach ihrer Entlassung ihr Glück im Westen. Die Sucht und das Misstrauen, das Gefühl Verfolgt zu werden, machen ihr einen Neuanfang unmöglich. In den Folgejahren wechseln sich Entzug und Rückfall ab. Seit '99 hat sie wieder ihre eigene Wohnung, sucht sich eine Arbeit und ist nebenbei als Sexarbeiterin tätig.
Vor zwei Jahren lernte ich Uta durch Zufall kennen. Seitdem gab es unzählige biographische Gespräche, knapp 40 Stunden Interviewmaterial ist dabei entstanden. Dazu haben wir im Laufe dieses Sommers viele Ortsbegehungen gemacht, an Orten an denen sie früher tätig war. Neben Gesprächen mit ehemaligen Nachbar*innen und Freund*innen konnte sie ihre Erinnerung auffrischen und ich mir einen deutlicheren Eindruck der Gegebenheiten verschaffen. Im September dieses Jahres kamen schließlich ihre STASI-Akten bei mir an.
Dieses Material ist Ausgangspunkt ihre Geschichte zu erzählen.
Ausgehend von den Interviews entwickelt sich eine zweite, eigenständige Erzählposition, die die Ich-Erzählerin einrahmt, Orte, Figuren und Abläufe verbindet und der Ich-Erzählerin von außen folgt. Dem gegenüber werden Ausschnitte aus den STASI-Akten in den Text eingeflochten, sowohl Berichte Uta's als auch Berichte über sie, Vermerke, Hintergrundinformationen und Protokolle von Treffen mit ihr. Diese Akten widersprechen nicht selten den beiden anderen Erzählinstanzen, die einzelnen Stimmen widerlegen sich, verfangen sich in Uneindeutigkeiten, können letztlich nicht in jeder Szene den Ablauf eindeutig klären.


Franziska Füchsl: Tagwan
Das Prosadebüt „Tagwan“ von Franziska Füchsl erzählt von Wanderschaften durch wunderliche Landstriche, in denen eine Scheuche, eine Wache und eine Lumpensammlerin tagwandeln. Begegnungen mit einer einbeinigen Puppe, einem sprechenden Spat, Pinocchio und dem Flicker Woitsch akzentuieren das Widerspenstige, das allen Figuren und deren Ambiente anhaftet.
Durch das Aufklauben, Abklopfen und Streuen von dialektalen oder teils schon lange aus dem Sprachgebrauch verschwundenen Wörtern stellt die Autorin ein faszinierendes, gleichsam aus der Zeit gefallenes Textgebilde her. „Luder“, „Scheuche“, „Zussa“ oder das titelgebende „Tagwan“ (Tagwerk) gewinnen als lexikalische Wiedergänger frische Strahlkraft. Mit einem selten anzutreffenden dichterischen Spürsinn gelingt es der Autorin, mittels Adaptierung sprachexperimenteller Verfahren landläufig vertuschte soziale Verwicklungen freizulegen. Franziska Füchsls erstem Prosa-Wurf verdankt sich nicht weniger als die Erfindung eines bis dato in der Literatur fehlenden Paradigmas: des weiblich verqueren Schelmenromans im Gewand innovativer Sprachkunst.


Christoph Szalay: Rændern
Berg, Wald, Wiese, Tal und See: Christoph Szalay unternimmt in RÆNDERN den Versuch einer zeitgemäßen dichterischen Auseinandersetzung mit überlieferten Bildern scheinbar unberührter Natur, die landläufig von sentimentalem Kitsch okkupiert sind. Die zyklisch angeordneten Gedichte und kurzen Prosa-Arbeiten setzen dem Bewusstseinsschwindel europäischer Idylle-Konstruktion eine polyphone Spurensuche in ein Gelände entgegen, durch dessen Risse historische Katastrophen spürbar werden. Ausgehend von einer Anverwandlung traditioneller Formensprache bis hin zu deren „kontaminierenden“ Überschreibung mit postkolonialen, inkludierenden und queer-feministischen Sprachgesten entrückt RÆNDERN den „unbehaglichen“ Erfahrungs- und Empfindungskomplex von Heimat aus der Verwendungshoheit national und patriotisch ausgerichteter Parteien und Bewegungen.
Als Gegenposition zum zitathaft vorgeführten Diskurs sogenannter Identitärer entwickelt Szalay für RÆNDERN eine virtuose Poetik des Entwurfs. In der feingliedrigen Zusammenführung von kulturwissenschaftlichem und touristischem Material mit sprachreflexiven Lyrismen und englischsprachigen Hiphop-Zitaten vollzieht sich eine spannungsreiche Inszenierung von Vorläufigkeit, Pluralismus und Offenheit, unter deren Vorzeichen die Frage „Was ist Heimat?“ jenseits obsoleter Begrifflichkeit neu gestellt werden kann.