Das social Distel-Ding – Kein Schlussstrich!

ID 101769
 
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Teil 20 der social distancing Kolumne. Diesmal: Urteilsbegründung im NSU-Prozess liegt vor. Im Gegensatz zur Pandemie: Geburt kann einen gegen Rassismus immun machen. Vielleicht verschwinden rechte Terroranschläge deshalb so schnell aus den Medien.
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07:02 min, 16 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.04.2020 / 21:32

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 21.04.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Mit der Zeit sind wir langsam gewöhnt an dieses andauernde alleine zu Hause bleiben, auch social distancing genannt. Nachdem die Baumärkte jetzt wieder offen haben kommen auch weitere pflanzliche Mitbewohner in den begrenzten Raum der mittlerweile fast unsere gesamte Welt ist. Wieder etwas Neues um das Mensch sich kümmern kann und das einen ablenkt von dem was da draußen alles vor sich geht. Ablenkung ist in dieser Unsicherheit wirklich nötig, vor allem da die meisten schon länger keine große Lust mehr auf Fernsehen, Computer-Spiele oder Lesen haben. Veränderung kann nicht die ganze Zeit nur in Bildschirmen oder durch das Umblättern der Seiten geschehen.
Insofern lohnt es sich direkt mit einer guten Nachricht anzufangen: Das gestrige Aufreger-Thema war schon zum Zeitpunkt der Ausstrahlung von einem schnellen Zurückrudern überholt worden. Der massiv gescholtene Gemeinsame Bundesausschuss hatte noch gestern Nachmittag die Wiedereinführung der telefonischen Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit bei Atemwegserkrankungen verkündet. Wer sich also mit Covid-19 ähnlichen Symptomen krankschreiben lassen möchte, kann das auch weiterhin telefonisch tun. Zumindest etwas.
Eine weitere Nachricht, die erst einmal gut klingt, ist nur bedingt positiv: Die Urteilsbegründung im NSU-Prozess liegt endlich vor.
Einen Tag vor Ablaufen der 93 Wochen währenden Frist hat der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts heute die 3.025 Seiten vorgelegt, auf denen er die NSU-Terrorserie und die Schuld der Verurteilten detailliert juristisch bewertet. Damit ist zumindest in München der NSU-Prozess beendet und der Weg frei für die Bundesanwaltschaft vielleicht doch noch André Eminger, einen der mutmaßlich wichtigsten Unterstützer des Trios, zu mehr als zweieinhalb Jahren Haft zu verurteilen. Neben der Bundesanwaltschaft haben aber auch die Anwält*innen von Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Holger G. und André Eminger angekündigt Revision gegen das Urteil einzulegen und auch die Nebenklageanwält*innen werden die Urteilsbegründung wohl genauestens auf Fehler prüfen.
Unterdessen bleiben die Verurteilten – bis auf Beate Zschäpe und Carsten S. – weiter auf freiem Fuß. Dieser Umstand ermöglichte es André Eminger und Ralf Wohlleben sich zuletzt auch wieder ungeniert in der rechtsextremen Szene zu zeigen.
Nicht nur, dass uns voraussichtlich noch lange juristische Streitigkeiten bevorstehen: Die 3025 Seiten sollen auch die These untermauern, dass der NSU nur aus dem Trio Böhnhard, Mundlos und Zschäpe bestand, die alleine und ohne direkte Unterstützer und Mitwisser ihre Terrortaten verübten. Diese These, sowie der lange Verschluss der NSU-Akten – in Hessen sollen die Akten, die nicht dem Schredder zum Opfer fielen, erst nach 120 Jahren wieder geöffnet werden – behindern aktuell die Aufklärung von Taten die, mindestens indirekt, in Zusammenhang mit dem NSU stehen.
Insgesamt lässt sich sagen: fast zwei Jahre nach dem Urteil im NSU-Prozess ist rechtsextremer und rassistischer Terror in Deutschland grausamer, alltäglicher und beunruhigend wenig beachtet worden.
Nur zur Erinnerung: Im Juli 2019 wurde der Politiker Walter Lübcke erschossen. Einer der mutmaßlichen Täter spielte schon 2006 in den polizeilichen Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat eine Rolle. Im Oktober 2019 folgte der antisemitische Anschlag auf die voll besuchte jüdische Synagoge in Halle. Weil dieser durch eine Tür aufgehalten wurde, erschoss der Täter zwei Menschen, darunter einen Besucher in einem Döner-Schnellimbiss. Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rassist in Hanau neun Menschen.
Nochmal: Vor etwas mehr als zwei Monaten wurden in Hanau 9 Menschen erschossen. Und trotzdem gelingt in der Öffentlichkeit scheinbar das, was auch mit der Vorlage der Urteilsbegründung im NSU-Prozess droht:
Einen Schlussstrich darunter zu setzen. Andere Themen als wichtiger erachten. Die Opfer vergessen. Es nicht als gesellschaftliches Problem anzuerkennen.
Hier zeigt sich wieder, warum Corona so beachtet wird und andere Lebensgefahren nicht: Die Pandemie geht eben alle etwas an. Niemand kann sich rauskaufen. Niemand ist durch Geburt immun.
Wenn Rassisten töten, können sich die weißen, leisen Mittelstandspolitiker zurücklehnen und sagen: Ich bin ja kein Rassist. Und wenn sie dann kein „Aber“ sagen, sehen sie sich als Lösung des Problems. Aber so werden keine Menschenleben geschützt.
Es braucht die Strafverfolgung, die konstante Arbeit die Gesellschaft von diesem Hass zu befreien, die Kooperation mit Trägern der politischen Bildung, die Unterstützung gesellschaftlichen Engagements und ja, auch endlich eine strenge Überprüfung des eigenen Sicherheitsapparates.
Nicht nur das Hans-Georg Maaßen sein Amt als Verfassungsschutzpräsident in Folge des NSU-Skandals um geschredderte Akten angetreten hat, nur um sich über die Zeit seines Amtes und darüber hinaus als dem völkischen Denken zumindest nicht abgeneigte Person zu offenbaren. In Hessen stehen mindestens 38 Polizist*innen wegen neonazistischen Aktivitäten unter Verdacht. Die persönlichen Daten der Rechtsanwältin der Hinterbliebenen des vom NSU ermordeten Enver Şimşek wurden von einem Polizeirechner in Frankfurt abgerufen und dafür genutzt sie und ihre zweijährige Tochter zu bedrohen. Unterschrieben war die Drohung mit: NSU 2.0…
Diese Aufzählung an Problemen der Behörden, die eigentlich uns alle schützen sollten aber von Rassisten und deren Unterstützern an vielen Stellen durchsetzt sind, könnte noch lange weitergehen. Aber Fakten und Aufklärung scheinen nicht den dringend benötigten Aufschrei nach sich zu ziehen.
Während die Angst vor der Pandemie alle eint, trifft die Angst vor Rassismus und Rechtsextremismus eben nicht alle. Viele können sich darüber aufregen, dass das Oktoberfest dieses Jahr nicht stattfindet und Kneipen geschlossen sind. Aber viele Eltern sind derzeit beruhigt, dass die Schischa-Bars geschlossen haben, weil sie weniger Angst um das Leben ihrer Kinder haben müssen.
Es liegt an uns, als Gesellschaft, als Nachbarn, als Menschen, die Urteilsbegründung nicht als Schlussstrich unter der Akte NSU stehen zu lassen. Uns eben nicht erst irgendwann bei ZDF History an die „Döner-Morde“ zu erinnern. Das Kapitel ist noch nicht beendet: Kein Schlussstrich!
Damit das gelingt gilt in dieser Zeit: Maske tragen und das Maul aufreißen!

Kommentare
22.04.2020 / 08:27 Yoshi und Flo, Radio Dreyeckland, Freiburg
Danke!
gespielt im Morgenradio