Das social Distel-Ding – Die Romantisierung der Quarantäne ist ein Privileg der Bessergestellten

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Teil 23 der social distancing Kolumne. Diesmal erinnert das social Distel-Ding daran, dass zahllose Menschen an unserer digitialen Realität nicht teilnehmen können.
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04:34 min, 10 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.04.2020 / 20:49

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 24.04.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und wieder steht ein Wochenende unter besonderen Umständen an. Daheim bleiben, Abstand halten und nicht den Verstand verlieren: Das sind die Grundregeln die den social Distel-Dingern in dieser Zeit an die Hand gegeben werden. Wie das allerdings gehen soll, ist die große Frage dieser Zeit und im Endeffekt vermutlich dann das Ergebnis des sozialen Teils des Experiments.
Letztlich ist die Pandemie keine schöne Zeit. Es gibt zwar Menschen, die das Beste daraus machen, sich fast schon wohlfühlen. Das geht besonders gut, wenn keine Probleme in den eigenen vier Wänden herrschen und alles da ist was benötigt wird. Dann ist Mensch geneigt zu denken: Ist doch alles nicht so schlimm. Sollen die Leute doch einfach Netflix, Prime, Sky oder Disney+ schauen. Sollen sie doch Playstation, Nintendo, Xbox oder Computer spielen. Sollen sie doch mehr Zeit mit ihren Partnern verbringen. Sollen sie doch auf ihren Balkonen ein kleines Beet anlegen. Sollen sie doch mal wieder schön kochen und einen guten Wein trinken. Sollen sie doch mal wieder ihre Musikinstrumente und Bücher zur Hand nehmen. Sollen sie doch einfach die Zeit genießen. Früher hieß es: Sollen sie doch Kuchen essen.
Auch dieses social Distel-Ding ertappt sich immer wieder dabei, die eigene begrenzte Welt und die eigenen Fähigkeiten als allgemeingültig anzunehmen. Aus dieser Position lässt sich wunderbar Unverständnis äußern über diejenigen, die in der aktuellen Situation nichts positives sehen. Menschen, denen die Decke auf den Kopf fällt und die sich lieber mit Verschwörungstheorien und Alternativszenarien beschäftigen, als die Realität, in der ich es mir bequem machen kann, anzunehmen.
Leider verschärft die Krise aber die soziale Ungleichheit. Wer heute keinen Computer hat, keinen Internetzugang und kein Smartphone ist abschottet von einem Großteil der Realität die viele von uns teilen. Wer sich noch nie richtig mit den Programmen und dem Internet auseinandergesetzt hat, hat zum Teil sogar Angst den Cyberkriminellen aufzusitzen und noch mehr zu verlieren.
Wer gerade besorgt an die eigene Familie denkt, kann eben nicht abschalten und die Ruhe genießen.
Und nicht zuletzt zeigt diese Zeit auch eine andere Ungerechtigkeit in der Bundesrepublik, die völlig hinten runter fällt: Es können eben nicht alle an diesem digitalen Diskurs teilnehmen. In vielen Regionen Deutschlands ist das Internet so langsam, dass die Twitterdebatte sich dort vermutlich noch um Adidas und ihre angekündigte Mietstornierung dreht, die sie längst zurückgezogen haben. So sehr wir auch das Gefühl haben, in dieser Krise zusammenzurücken, es werden zahllose Menschen vergessen. Und diese Spaltung droht sich immer weiter fortzusetzen, auch nach der Krise. Wer an dieser digitalen Welt noch nicht teilnimmt, benötigt nicht nur die Technik. Auch die Arbeit mit diesen Geräten muss erlernt und eingeübt werden.
An sich wäre der Digitalpakt Schule dafür gut, Schulkinder aus Familien in denen kein Rechner steht, einen zugänglich zu machen. Denn während die Schulen auf Online-Unterricht setzen, gibt es viele Kinder, die zuhause nur über Smartphone oder Tablet folgen können. Dadurch hat gerade nicht jedes Kind gleichen Zugang zu Bildung. Und das betrifft vor allem Kinder aus armen und oder bildungsfernen Familien. Hier werden ungleiche Startbedingungen ins Leben festgelegt, die uns noch jahrelang verfolgen könnten. Der Blick auf das eigene Privileg in dieser Situation kann Verständnis schaffen. Und er sollte uns zu Solidarität anstacheln. Denn diejenigen Politiker, die für die schlechten Internetverbindungen und für die ungleichen Startvoraussetzungen für Kinder aus bildungsfernen Familien Verantwortung tragen, sind immer noch im Amt. Nicht zuletzt wäre es auch in ihrer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Unternehmen die aktuell von der Krise profitieren, wie Amazon oder Google, zumindest so besteuert werden, dass nicht die Haupt-Einnahmen die der Staat durch diese Unternehmen hat, über die Einkommenssteuer der Mitarbeiterinnen eingenommen wird.
Vergessen wir auch nicht, dass Demokratie nicht nur heißt zu wählen, sondern auch sich wählen zu lassen. Vielleicht wäre jetzt die Zeit der Parteien gekommen. Jetzt, da viele, die einen guten Internetzugang und die Fähigkeiten haben damit umzugehen, Zeit haben sich zu engagieren, könnte in den Parteien auch mal Tacheles geredet werden. Und vielleicht gründen sich ja auch neue. So oder so, die Politik braucht Menschen und nicht nur die Politiker, die schon seit Jahren versprechen etwas zu ändern.