Das social Distel-Ding - Distanz in den Mai und gute Gründe für Protest

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Teil 27 der social distancing Kolumne - Diesmal mit Gedanken vor dem ersten Mai. Bevor die Proteste wieder wegen den zu erwartenden Zusammenstößen verurteilt werden, kann Mensch mal an die Themen erinnern. Flucht, Menschenrechte, Frieden, Klima, soziale Ungleichheit.
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06:26 min, 6040 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 30.04.2020 / 16:42

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Arbeitswelt, Politik/Info
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 30.04.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Und wieder geht ein Monat zu Ende. Mit Distanz in den Mai. Also keine Konzerte oder Feiern in den Mai hinein, sondern wieder nur ein weiterer Tag zu Hause. Allein oder mit den Gesichtern, die Mensch in letzter Zeit täglich gesehen hat. Es könnte spannenderes geben.
Aber immerhin ist ja morgen dann der erste Mai. Schon ab früh morgens laden die Gewerkschaften ein, online an ihren Arbeiter-Kampf-Tag-Online-Kundgebungen und Video-Konferenzen teilzunehmen. Auch kleine, begrenzte Demonstrationen auf der Straße sind angemeldet, mit allen Sicherheitsvorkehrungen wie Masken und Abstandregelungen. Aber vermutlich wird es morgen auch wieder unangemeldete Demonstrationen geben.
Gerade in Berlin, wo das Versammlungsverbot auch weiterhin gilt, wird sich auf eine angespannte Walpurgisnacht vorbereitet. Sowohl von den Medien, die wohl insgeheim hoffen endlich mal wieder richtige Aufnahmen und Leben vor die Kamera zu bekommen, als auch von der Polizei und der Politik.
5000 Polizisten sind in der Nacht zum und am 1. Mai in der Hauptstadt im Einsatz. Vom Berliner Innensenator, Andreas Geisel, haben sie härteres Vorgehen aufgetragen bekommen: Dem Infektionsschutz der Bevölkerung werde man „alles unterordnen, auch das Demonstrationsgeschehen.“ Das Demonstrationsgeschehen sollte bei den aktuell in Berlin geltenden Auflagen nicht sonderlich belebt ausfallen: Erlaubt sind nur Kundgebungen, die sich nicht bewegen, an denen maximal 20 Menschen in vorgegebenem Abstand zueinander teilnehmen. Die Teilname an nicht genehmigten Demonstrationen, oder an etwas was die Polizei dafür hält, sollen als Straftat gewertet werden. Das schreit nach Zusammenstößen.
Aber damit das eigene Vorgehen und das der ihm unterstellten Beamtinnen und Beamten nicht kritisiert werden kann, schiebt Geisel hinterher: „Demonstrationen dürften nicht „zum Ischgl von Berlin werden“.
Nicht nur, dass dieser Vergleich hinkt, weil die Aprés Ski Hochburg Ischgl vor allem durch eine viel zu späte Veröffentlichung der Gefährdungssituation erst zum Infektionshotspot Europas wurde und in Berlin sich mittlerweile alle weitestgehend im Klaren sein dürften, was es mit dem Virus auf sich hat und wie er sich verbreitet. Auch wird hier Tür und Tor für die Delegitimierung von Protest eröffnet, während jegliches Vorgehen der Polizei im Angesicht des Infektionsschutz der Bevölkerung legitimiert wird.
Dadurch wird ein neuer Spalt in die bisher so solidarisch handelnde Gesellschaft getrieben. Denn auch wenn wir den Schutz unserer Nachbarinnen und Nachbarn, unserer Familie und Freunde hochhalten, der erste Mai ist traditionell auch ein Tag, an dem internationale Solidarität hochgehalten wird. Ein Tag, an dem Missstände angeprangert werden. Es ist der Tag an dem die Ohnmächtigen sich solidarisieren um den Mächtigen zu zeigen, dass deren Macht ohne sie nicht haltbar ist.
Wenn die Reaktion darauf gnadenlose Repression der Mächtigen ist, ganz egal wie sehr die Protestierenden die Regeln zum Infektionsschutz einhalten, dann werden die Bilder produziert, an denen die Solidarität zerbricht. Die Politik wird dann wieder über den „Linksextremismus“ sprechen, den Protestierenden die Solidarität absprechen, die brennenden Barrikaden und Autos für Unverständnis sorgen und Berichte von verletzen Polizisten die Gemüter erhitzen. Aber worüber wieder nicht gesprochen werden wird sind die Inhalte.
Denn es gibt beinahe zahllose gute Gründe auf die Straße zu gehen:
Zum Beispiel für Menschenrechte: In der Hölle von Moria zeigt die EU wie sehr das Recht auf Leben für sie ein Recht ist, dass daran gebunden ist wo Mensch geboren wurde. Während wir zuhause bleiben und uns schützen, soll an den 20.000 Menschen im Flüchtlingslager ein Exempel statuiert werden: Wer nach Europa will, stirbt. Egal in welcher Form auch immer: Verdursten in der Wüste vor Libyen, Totschlag in den Konzentrationslagern in Lybien, Ertrinken im Mittelmeer oder durch ungenügende Versorgung, egal ob medizinische, hygienische oder die Versorgung mit Lebensmitteln, in den Flüchtlingslagern auf europäischen Boden.
Oder Frieden: Der deutsche Verteidigungsetat ist wieder weiter angestiegen und hat die 50 Milliarden-Schallmauer durchbrochen. Aufgeteilt auf die Bevölkerung finanziert aktuell jeder Bürger mit 610€ die Rüstungsgüter und andere Militärausgaben Deutschlands, immerhin statt sich selbst auch noch ein Pumpgun zu besorgen. Zusätzlich sind wir in diesem militärisch-industriellen Komplex noch an hohen Rüstungsexporten beteiligt und sorgen damit dafür, dass den Kriegen in der Welt die Waffen nicht ausgehen, auf beiden Seiten der Konflikte, und sehen zu wie für NATO-Partner Menschenrechte mittlerweile nicht mal mehr zum Schein eine Rolle spielen.
Oder Klima: Nach dem Shutdown blasen einige Politiker schon wieder in die Glut, damit das große Feuer der Wirtschaft noch rußender brennt als zuvor. Wie Aiwanger, der eine Neuwagenprämie von 4000€ fordert, auch für Verbrenner.
Nicht zu vergessen sind da auch die Arbeitsverhältnisse: Der Mindestlohn in Deutschland reicht immer noch nicht aus, um am öffentlichen Leben teilzuhaben und im Alter eine Rente vorzuweisen. Gleichzeitig drückt der niedrige Mindestlohn auch die Bezüge der Hartz 4-Beziehenden runter und stärkt den Arbeitgebern den Rücken, weil die Aussicht auf die Arbeitslosigkeit so furchtbar ist, dass kaum jemand für seine Rechte einstehen will.
Und nicht zuletzt ist da noch die Schere zwischen Arm und Reich, die jetzt vielleicht noch deutlicher zu Tage tritt: Während die einen ihre Depots, Besitztümer und Immobilien für sich arbeiten lassen und social distancing wunderbar im Garten ihres Ferienhauses genießen können, sind viele in ihren kleinen Wohnungen gefangen und sorgen sich nicht erst jetzt darum wie sie die Miete stemmen sollen um weiterhin ihrer Arbeit in der Stadt nachgehen zu können.
Aber leider wird all das nicht angesprochen werden, nachdem die Autos gebrannt haben und in den Medien das Bild der unverantwortlichen, infektionsverbreitenden Chaot*innen gezeichnet wird.
Wenn das social Distel-Ding Lust hat und nicht in Berlin ist, kann es sich ja Popcorn mit auf die Couch nehmen und zusehen, wie sich das alles ausspielt. Mit Distanz in den Mai. Und mit ein wenig Fantasie kann einen der Geruch der grillenden Nachbarn dann auch ganz nah ranholen an das Geschehen vor Ort in Berlin. Hoch die internationale Solidarität!

Kommentare
01.05.2020 / 18:01 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 1.Mai. Vielen Dank!