Neoliberalsmus, Corona – Gedankensplitter zum 1. Mai

ID 102030
 
Die neoliberale Durchdringung all unserer Lebensbereiche ist soweit vorangeschritten, dass wir alle in diesem System funktionieren – doch durch die Corona-Pandemie und den Lockdown werden wir zum größten Teil freigesetzt.
Was jetzt aufscheint, ist die Vision einer ganz anderen Welt der Solidarität, des Miteinanders – eine riesen Chance, die es nun gilt zu ergreifen...
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11:23 min, 16 MB, mp3
mp3, 196 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.05.2020 / 11:40

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Jugend, Kinder, Arbeitswelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Unabhängige Redaktionsgruppen bei Radio ZUSA / Georg
Kontakt: info(at)mobile-medienarbeit.de
Radio: ZUSA, Uelzen im www
Produktionsdatum: 01.05.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Neoliberlismus, … und Corona…


Erinnert Ihr Euch noch?

O-Ton J.

Der häufig gehörte Satz…

O-Ton T.

von Freund*innen, Bekannten oder Kolleg*innen:

O-Töne-Rest

Das scheint lange her, in Zeiten von Corona… jetzt wo alle im Home-Office, freigestellt, im Osterurlaub oder sonst irgendwie isoliert sind und nur noch jene unterbezahlt weiterarbeiten, die den gleichen Job auch schon vorher gemacht haben. Aber eben ohne diese Anerkennungswelle, die sie jetzt überrollt.
Von Supermarktkassierer*innen haben wir in der Vor-Corona-Zeit immer nur gehört, wenn sie mal einen Pfandbon erhascht haben und wegen dessen Einlösung von 2,98 € eine Abmahnung kassiert haben. Oder von Pfleger*innen, die auf ihre mieserablen Arbeitsbedingungen per Großdemonstration aufmerksam machen wollten. Oder von Krankenhäusern, die pleite gegangen sind, weil sie nicht auskömmlich im allgemeinen Interesse, sondern nach Profitinteressen geleitet wurden und das nicht überleben konnten.

Der Neoliberalismus, den wir weltweit seit mindestens 30 Jahren erleben müssen und der Schritt für Schritt jeden Winkel unserer Leben feindlich übernommen hat, scheint ja etwas Bestechendes an sich zu haben. Warum haben wir das zugelassen, dass er uns immer umfassender in seine diversen Zwangsjacken steckt?

Alles auf Effizienz zu trimmen und nicht auf menschliche Bedürfnisse, jedem die Verantwortung und damit auch die Schuld am eigenen Scheitern aufzubürden… Nicht erst seit der Umstellung des Sozialsystems auf die Hartzgesetzgebung und damit auf das System des kleinen Förderns und des allumfassenden Forderns, hängen wir alle am Haken des Leistungsdrucks und der unverhohlenen Drohung ins Prekariat geworfen zu werden, wenn wir nicht so funktionieren, wie das System es von uns verlangt.

Und so freuen wir uns über die hingehaltene Karriereleiter, die sich leider aber fast immer als Hamsterrad herausstellt.
Und wir wundern uns dann, dass die in Coronazeiten plötzlich Freigesetzten in Supermärkten anfangen ihrem gelernten Handwerk nachgehen: Eben zu hamstern? Sie haben es nicht anders gelernt, wurden von menschlichen Individuen in Hamster verwandelt, entweder also in ihren Rädern oder in Supermärkten…

Neoliberalismus geht nicht von unseren Bedürfnissen aus, auch wenn uns das mit Slogans wie „Geiz ist geil“ bis „Wer wird Millionär“ versucht wird schmackhaft zu machen und letztlich die Vision der Unmöglichkeit in uns wecken soll, Jede*r von uns könne zu einer Gewinner*in dieses Systems werden.
Andersherum ist es:
Neoliberalismus ist ein perfides und faschistoides System des „Jeder gegen Jeden“, indem nur der Stärkere siegt. Alle anderen können sich toll und viel besser fühlen, bei RTL-Reality-Soaps, in denen ja immer nur die Anderen die Doofen, Unzulänglichen und Unfähigen sind…
Die neoliberale Idee bewertet uns in allen Fasern unseres Lebens danach, ob wir verwertbar und damit noch irgenwie wertvoll sind oder eben nicht. Und dann wehe Dir Gott…

Neoliberalismus versucht uns alle auf einen Konsens einzuschwören, eigenverantwortlich alle unsere Lebensbereiche messbar zu machen und damit zu beweisen, wie Effizient wir dort sind.
Vom Fitness-Tracker über andere Gesundheitsdaten bis zur totalen Digitalisierung der Gesellschaft. Und wehe dem, der sich der Messbarkeit entzieht…

Und so hält dieses Denken auch Einzug in Bereiche, bei denen wir bislang davon ausgegangen sind, sie verfügten über andere Koordinatensysteme als die der Effizienz.
Wie zum Beispiel der Sozial- und Gesundheitsbereich.
Aber weit gefehlt: Im Gesundheitssystem ist es gerade in Corona-Zeiten so offensichtlich, wie es in anderen Bereichen oft vernebelt bleibt: Dort wo Effizienz und Profitmaximierung regieren, bleiben die Grundbedürfnisse der Menschen und die gesellschaftliche Daseinsvorsorge auf der Strecke…

Und auch in unserem Bereich, der Jugendarbeit geht es seit ein paar Jahren in Sachen neoliberalem Denken zur Sache. Leistungsvereinbarungen, Projektierung der Arbeit, Konkurrenz zu anderen Bildungsbereichen, und nicht zuletzt Statistiken über Statistiken, Erhebungen, Erfolgskontrolle, Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanegement, Evaluation…
Zwar leuchten uns die ganzen neoliberalen Instrumente in unseren neoliberal geprägten Hirnen ein, weil wir uns ja gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen beweisen wollen, wie effektiv unsere Maßnahmen und Instrumente sind…

Dabei ist schon der Ansatz, in der Kinder- und Jugendarbeit mit Begriffen wie „Maßnahmen“ und „Instrumenten“ zu hantieren, sehr bezeichnend.
Wer nimmt hier Maß an wem und warum? Und welche „Instrumente“ bringen wir hier in Anschlag? Stehen wir in einem Operationssaal? Oder doch eher im Orchestergraben und hantieren mit unseren „Instrumenten“ an unserer „Zielgruppe“ herum?
Überdies verweigern sich unsere Jugendlichen immer wieder erfolgreich den wissenschaftlichen Messmethoden der neoliberalen Technokrat*innen…
so dass der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Hochschule Düsseldorf und Wirkungsforscher Dr. Maik-Carsten Begemann in der Publikation mit dem Titel „Wirkungsforschung in der Kinder- und Jugendarbeit – Hindernisse und Lösungsvorschläge“ in der Zeitschrift „unsere jugend 5/2016 (Wirkungen und Grenzen in der Kinder- und Jugendhilfe)“ unverhohlen die folgende Formulierung findet, die doch anstatt von Instrumenten andere, viel treffendere Begrifflichkeiten verwendet:

„…erst recht für das Arbeitsfeld der KJA gilt: gerade hier – mit ihren offenen, vielschichtigen sowie hochkomplexen Arrangements – muss das gesamte bisher entwickelte und auch zur Verfügung stehende »Waffen-Arsenal« an statistischen Auswertungstechnologien Anwendung finden“.

So, nun ist die Katze aus dem Sack, vielen Dank Herr Doktor Begemann: Es geht hier also in Wirklichkeit darum mit Waffen auf die Zielobjekte loszugehen.

Und genau so wirkt es doch, wenn die Bundesjugendhilfestatistiken von den Jugendverbänden eingefordert werden – bei deren Einführung von einer für die Jugendverbände schon lang ersehnten Zahlenbasis zum Beweis ihrer Leistungsfähigkeit gesprochen wird – und dann aber unter Strafandrohung verpflichtend wird.
So stelle ich mir das Waffenarsenal vor, mit dessen Hilfe die Kinder- und Jugendarbeit eingenordet wird, ihre Qualität in Excel-Tabellen darzustellen, so dass letztlich sogar dem Toastbrot unter den Sozialpädagog*innen klar werden sollte: Was hier abgefragt wird, nennt sich Qualität, ist aber defakto ein Zahlenwerk der Quantität!
Böse Zungen sprechen hier von der Excelisierung der Jugendarbeit.
Und die Technokrat*innen frohlocken – endlich haben sie ZAHLEN, ZAHLEN, ZAHLEN…
Und uns allen ist dabei klar: Zahlen begründen Zahlen.
Also: Nicht Qualität –die so nämlich gar nicht zu erheben ist– führt dazu, dass dringend benötigte Ressourcen in aller Regel gestrichen werden und nur im Zweifelsfall gewährt werden, sondern die in Statistiken geronnene Quantität.
Wer also viele Kinder und Jugendliche in seinen Statistiken wiedergibt, kann beten und hoffen von Streichungen nicht ganz so stark betroffen zu sein.
Was in den Einrichtungen und mit den Kindern und Jugendlichen qualitativ läuft, bleibt der Statistik komplett verborgen…

Zurück zum Hier und Jetzt: Corona…
Alle sind aus ihrem Hamsterrad gepurzelt, vereinzelt in Quarantäne, versuchen sich im Virtuellen einzurichten, Hören Herrn Droste, bekommen Beklemmungen – aber warten darauf, dass die Normalität endlich zurück kommt…

Was für eine Normalität eigentlich?
Die der Ausgrenzung, die des Hamsterrads? Die Normalität, die in Sonntagsreden in salbungsvollen Worten von „unveräußerlichen Menschenrechten“ spricht und gleichzeitig zigtausende Menschen an den europäischen Grenzen im Schlamm des Elends verrecken lässt?

Wollen wir diese Normalität wirklich zurück?
Wollen wir endlich wieder auf das sich ewig drehende Hamsterrad, mit dem euphemistischen Namen „Karriereleiter“ zurück?

In den letzten Wochen haben viele von uns auch andere, lebensqualitative Seiten in all dem Katastrophenszenario entdeckt. Entschleunigung, Nachbarschaft, Solidarität, Nächstenliebe bei gleichzeitigem physischen Abstand…
Wäre das nicht ein erster Ansatz dafür, sich auf die zwangsläufig nachfolgenden Krisen, die durch Corona erst ihren Anfang nehmen, vorzubereiten – eine –noch– Utopische Welt, in der wir mehr, als nur über den eigenen Tellerrand hinaus blicken können und so gemeinsam den Krisen wirkungsvoll begegnen können?

Ich jedenfalls kann, neben der ganzen Angst von Corona dahingerafft zu werden, die Entschleunigung auch genießen und mich über die entstehenden Netzwerke der durch Langeweile zu Kreativität kommenden Freigesetzten freuen.

Auf zu neuen Taten und Festigung der gewonnenen Solidarität.
Lasst uns dafür sorgen, dass uns das nicht mehr genommen werden kann – Kein Zurück zur „Normalität“!!!

Aber Vorsicht: Trotz aller schönen Visionen, die derzeit Grund zur Hoffnung geben: Autoritäre Akteur*innen und neoliberale Strateg*innen stehen schon in den Startlöchern… Dies gilt es bei allem, was wir nun unternehmen, zu berücksichtigen und sich darauf vorzubereiten!

Kommentare
01.05.2020 / 18:03 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 1.Mai. Herzlichen Dank! Meine REDE seit Jahren, doch selten so schön kompakt zusammengefasst!!!
 
01.05.2020 / 18:31 Georg, unabhängige redaktionsgruppen bei radio ZUSA
@Monika: "Meine Rede..."
Danke, Monika! Was die urheberechtliche Seite angeht, bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob die tatsächlich verletzt ist. Wie würdest Du / würdet Ihr das sehen (Merkel-O-Ton aus Youtube-Video und O-Ton aus irgendeiner Reality-Sendung eine Privatkanals ebenfalls aus YT-Video extrahiert)?
 
03.05.2020 / 23:51 aktu, Radio Blau, Leipzig
danke!
lief in leipzig am 1.mai in aktuell..danke und grüsse