Corona ist eine Katastrophe für den Feminismus

ID 102297
 
Die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie – und was man von der Ebola- sowie der Zikavirus-Epidemie hätte lernen können.
Ein Artikel von Helen Lewis erschienen im Magazin
Helen Lewis ist Reporterin bei «The Atlantic» und Autorin des Buchs «Difficult Women: A History of Feminism in 11 Fights».
Aus dem Englischen übersetzt von Paula Scheidt
Audio
18:21 min, 29 MB, mp3
mp3, 224 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.05.2020 / 16:56

Dateizugriffe: 48

Entstehung

AutorInnen: Radio LoRa, Bianca Miglioretto und Julia Bernath, Artikel von Helen Lewis im Magazin
Radio: LoRaZH, Zürich im www
Produktionsdatum: 10.05.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Corona ist eine Katastrophe für den Feminismus
Die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie – und was man von der Ebola- sowie der Zikavirus-Epidemie hätte lernen können.

Ein Artikel von Helen Lewis erschienen im Magazin
Genug. Wenn Menschen versuchen, social distancing und Homeoffice etwas Gutes abzugewinnen, und dabei erklären, dass William Shakespeare und Isaac Newton einige ihrer besten Werke schufen, während England von der Pest heimgesucht wurde, dann gibt es nur eine passende Antwort: Keiner von beiden musste Kinder betreuen.
Shakespeare verbrachte die meiste Zeit seiner Karriere in London, in der Nähe der Theater, während seine Familie in Stratford-upon-Avon lebte. Als 1606/07 die Pest wütete, hatte der Dramatiker das Glück, von der Epidemie verschont zu bleiben – seine Vermieterin starb auf dem Höhepunkt des Ausbruchs –, während seine Frau und zwei erwachsene Töchter sicher auf dem Land in Warwickshire lebten. Newton seinerseits heiratete nie und hatte auch keine Kinder. Er blieb während der Grossen Pest von 1665 und 1666 auf dem Anwesen seiner Familie im Osten Englands und verbrachte den grössten Teil seines Erwachsenenlebens als Fellow der Universität Cambridge, wo die Angestellten des Colleges für ihn kochten und seinen Haushalt führten.

Für alle, die Verantwortung für Betreuung und Pflege tragen, ist es unwahrscheinlich, dass der Ausbruch einer Infektionskrankheit ihnen die Zeit gibt, «König Lear» zu schreiben oder eine Theorie der Optik zu entwickeln. Eine Pandemie verschärft alle bestehenden Ungleichheiten (auch wenn Politiker darauf bestehen, dass dies nicht der Zeitpunkt ist, über etwas anderes als die unmittelbare Krise zu sprechen): Es ist einfacher, von zu Hause aus in einem Bürojob zu arbeiten; Angestellte mit Gehältern und Sozialleistungen sind besser geschützt; die Selbstisolierung ist in einem geräumigen Haus weniger belastend als in einer engen Wohnung. Aber eine der auffälligsten Auswirkungen des Coronavirus wird sein, dass viele Paare in die 1950er-Jahre zurückkehren werden. Überall auf der Welt wird die Unabhängigkeit der Frauen ein stilles Opfer der Pandemie sein.
Die Psyche ist stärker betroffen
Körperlich scheint das Coronavirus Frauen weniger schwer zu treffen. Aber mittlerweile wird breiter über die Pandemie diskutiert: Wir erleben nicht nur eine Krise des öffentlichen Gesundheitswesens, sondern auch der Wirtschaft. Da ein Grossteil des normalen Lebens für drei Monate oder länger ausgesetzt ist, ist es unvermeidlich, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Gleichzeitig verlagern geschlossene Schulen und isolierte Haushalte die Arbeit der Kinderbetreuung von der bezahlten Wirtschaft – Kindergärten, Schulen, Babysitter – auf die unbezahlte. Das Coronavirus zerstört den Pakt, den so viele Doppelverdienerpaare in den Industrieländern geschlossen haben: Wir können beide arbeiten, weil sich jemand anderes um unsere Kinder kümmert. Nun müssen die Paare sich entscheiden, wer von beiden zurückstecken muss.
Es gibt in Zusammenhang mit dieser Pandemie viel Arroganz. Mit zum Ärgerlichsten gehört das Versagen des Westens, aus der Geschichte zu lernen: die Ebolakrise in drei afrikanischen Ländern im Jahr 2014, die Zikavirus-Epidemie in den Jahren 2015/16 und die jüngsten Ausbrüche von SARS, Schweinegrippe und Vogelgrippe. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die diese Episoden untersucht haben, stellen fest, dass sie sich stark und anhaltend auf die Gleichstellung der Geschlechter ausgewirkt haben. «Das Einkommen aller wurde durch den Ebola-Ausbruch in Westafrika beeinträchtigt», sagte Julia Smith, eine Forscherin für Gesundheitspolitik an der Simon Fraser University, diesen Monat gegenüber der «New York Times», aber «das Einkommen der Männer stieg wieder schneller auf das Niveau vor dem Ausbruch als das der Frauen.» Die Unterschiede in den Auswirkungen einer Epidemie können jahrelang anhalten, sagt Clare Wenham, Assistenzprofessorin für globale Gesundheitspolitik an der London School of Economics. «Wir haben auch einen Rückgang der Impfraten bei Kindern während Ebola erlebt.» Als diese Kinder später vermeidbare Krankheiten bekamen, mussten ihre Mütter bei der Arbeit eine Auszeit nehmen.
Auf individueller Ebene werden die Entscheidungen vieler Paare in den nächsten Monaten wirtschaftlich durchaus sinnvoll sein. Was brauchen Pandemie-Patienten? Betreuung. Was brauchen sich selbst isolierende ältere Menschen? Betreuung. Was brauchen Kinder, die zu Hause sitzen, weil sie nicht in die Schule dürfen? Betreuung. All diese Betreuung – diese unbezahlte Fürsorge – wird aufgrund der Struktur unserer Arbeitswelt stärker den Frauen zufallen. «Es liegt nicht allein an der sozialen Norm, dass Frauen Betreuungsaufgaben übernehmen, sondern auch an praktischen Aspekten», fügte Wenham hinzu. «Wer wird schlechter bezahlt? Wer ist flexibel?»
Erhebungen der britischen Regierung zufolge arbeiten 40 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Teilzeit, während es bei den Männern nur 13 Prozent sind. In der Schweiz arbeiten 59 Prozent der erwerbstätigen Frauen und 18 Prozent der erwerbstätigen Männer Teilzeit. In heterosexuellen Beziehungen sind Frauen eher die Geringverdienerinnen, sodass ihre Arbeit als weniger wichtig angesehen wird, wenn eine Störung auftritt. Die jetzige Störung kann eher Monate als Wochen dauern. Das Lebenseinkommen mancher Frauen wird sich nie wieder erholen. Mit der Schliessung der Schulen werden zweifellos viele Väter zu Hause mithelfen – aber das wird längst nicht überall der Fall sein.
Menschen der zweiten Schicht
Trotz des massenhaften Einstiegs von Frauen in die Arbeitswelt im 20. Jahrhundert gibt es immer noch das Phänomen der «zweiten Schicht». Überall auf der Welt erledigen Frauen – auch diejenigen mit einem Job – mehr Hausarbeit und haben weniger Freizeit als ihre männlichen Partner. Sogar in Memes über Hamsterkäufe wird anerkannt, dass Hausarbeiten wie das Einkaufen von Lebensmitteln in erster Linie von Frauen übernommen werden. «Ich habe keine Angst vor Covid-19, aber was beängstigend ist, ist der Mangel an gesundem Menschenverstand», heisst es in einem der beliebtesten Tweets über die Coronakrise. «Ich mache mir Sorgen um Menschen, die eigentlich in den Laden gehen und ihre Familien ernähren müssen, aber Susan und Karen haben sich bereits für dreissig Jahre eingedeckt.» Der Witz funktioniert nur deshalb, weil «Susan» und «Karen» – stellvertretende Namen für Vorstadtmütter – als für die Haushaltsführung verantwortlich verstanden werden und nicht etwa «Mike» und «Steve».
Schauen Sie sich um, und Sie werden sehen, dass Paare bereits schwierige Entscheidungen darüber treffen, wie sie diese zusätzliche unbezahlte Arbeit aufteilen. Als ich Clare Wenham anrief, war sie mit zwei kleinen Kindern in Selbstisolation; sie und ihr Mann wechselten sich in Zweistundenschichten ab, in denen sie die Kinder betreuten oder ihrer bezahlten Arbeit nachgingen. Das ist eine Lösung; andere werden die Aufteilung konventioneller gestalten. Doppelverdienerpaare könnten plötzlich wieder wie ihre Grosseltern leben – die Hausfrau und der Ernährer. «Mein Partner ist Arzt in der Notaufnahme und behandelt aktiv Corona-Patienten. Wir haben die schwierige Entscheidung getroffen, dass er sich selbst isoliert und auf absehbare Zeit in unsere Garagenwohnung zieht, während er weiterhin Patienten behandelt», schrieb die Epidemiologin der Emory-Universität, Rachel Patzer, die ein Neugeborenes und zwei kleine Kinder hat. «Ich versuche unterdessen, meine Kinder zu Hause zu unterrichten, mit einem Baby, das schreit, wenn es nicht gehalten wird, und mache mir Sorgen um die Gesundheit meines Mannes und meiner Familie.»
Alleinerziehende Eltern stehen vor noch schwierigeren Entscheidungen: Wenn die Schulen geschlossen sind, wie jonglieren sie dann Einkommen und Fürsorge? Niemand sollte nostalgisch werden beim Gedanken an das «Ideal der 1950er-Jahre», dass Papa zu einem warmen Abendessen und frisch gewaschenen Kindern heimkehrt, obwohl schon damals so viele Familien davon ausgeschlossen waren. In Grossbritannien wird heute ein Viertel der Familien von einem alleinerziehenden Elternteil versorgt, von denen mehr als 90 Prozent Frauen sind. Geschlossene Schulen machen ihnen das Leben noch schwerer.
Was man von Ebola hätte lernen können
Andere Lehren aus der Ebola-Epidemie waren ebenso bitter – und ähnliche, wenn auch vielleicht geringere Auswirkungen werden während dieser Krise in den Industrieländern zu beobachten sein. Schulschliessungen minderten die Chancen von Mädchen, da viele von ihnen die Ausbildung abgebrochen haben. (Eine Zunahme der Teenager-Schwangerschaften verschärfte diesen Trend noch.) Häusliche und sexuelle Gewalt nahmen zu. Und mehr Frauen starben bei der Geburt, weil Ressourcen anderweitig zugeteilt wurden. «Es gibt eine Verzerrung der Gesundheitssysteme, alles konzentriert sich auf den Ausbruch», sagte Wenham, die während der Ebolakrise als Forscherin nach Westafrika reiste. «Alles, was keine Priorität hat, wird gestrichen. Das kann Auswirkungen auf die Müttersterblichkeit oder den Zugang zu Verhütungsmitteln haben.» Die Vereinigten Staaten haben dazu bereits erschreckende Statistiken im Vergleich zu anderen reichen Ländern, schwarze Frauen sterben dort doppelt so häufig bei der Geburt wie weisse Frauen.
Eine für Wenham sehr überraschende Statistik kam aus Sierra Leone, das besonders stark von Ebola betroffen war: Von 2013 bis 2016, also während des Ausbruchs, starben mehr Frauen an Komplikationen bei der Geburt als an der Infektionskrankheit selbst. Aber diese Todesfälle, wie auch die unbemerkten Pflegearbeiten, auf denen die moderne Wirtschaft beruht, ziehen weniger Aufmerksamkeit auf sich als die unmittelbaren Probleme, die durch eine Epidemie entstehen. Sie werden als selbstverständlich angesehen. In ihrem Buch «Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert» stellt Caroline Criado-Pérez fest, dass zur Zeit der Zika- und Ebola-Epidemien 29 Millionen wissenschaftliche Publikationen in mehr als 15'000 Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, aber weniger als ein Prozent die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Ausbrüche untersucht haben. Wenham hat bisher keine geschlechtsspezifische Analyse des Coronavirus-Ausbruchs gefunden; sie und zwei Co-Autoren erforschen nun das Thema, um die Lücke zu schliessen.
Die Erkenntnisse, die uns durch die Ebola- und Zika-Ausbrüche vorliegen, sollten die aktuellen Massnahmen beeinflussen. Sowohl in reichen als auch in armen Ländern erwarten Expertinnen, dass die Zahl der häuslichen Gewaltakte während der Ausgangsbeschränkungen ansteigen wird. Stress, Alkoholkonsum und finanzielle Schwierigkeiten gelten als Auslöser für häusliche Gewalt, und die Quarantänemassnahmen, die nun weltweit verhängt werden, werden alle drei Faktoren verstärken. Die britische Wohltätigkeitsorganisation Women’s Aid sagte in einer Erklärung, sie sei «besorgt darüber, dass social distancing und Selbstisolierung häusliche Gewalt begünstigen und Auswege zu Sicherheit und Unterstützung versperren».
Forscher, auch diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, sind frustriert, dass Erkenntnisse wie diese nicht zu den politischen Entscheidungsträgern durchdringen, die immer noch einen geschlechtsneutralen Ansatz für Pandemien verfolgen. Sie befürchten auch, dass die Gelegenheit verpasst wird, qualitativ hochwertige Daten zu sammeln, die für die Zukunft nützlich sein werden. Wir haben zum Beispiel nur wenige Informationen darüber, wie Viren, die dem Coronavirus ähneln, schwangere Frauen befallen – trotz der widersprüchlichen Ratschläge während der aktuellen Krise. Genauso wenig haben wir, so Susannah Hares, leitende politische Mitarbeiterin am Center for Global Development, genügend Daten, um ein Modell für die Wiedereröffnung von Schulen zu erstellen.
Wir sollten diesen Fehler nicht noch einmal machen. So düster es jetzt klingen mag, weitere Epidemien sind unvermeidlich, und man sollte der Versuchung widerstehen zu argumentieren, die Geschlechterfrage sei eine Nebensache, eine Ablenkung von der wirklichen Krise. Was wir jetzt tun, wird das Leben von Millionen von Frauen und Mädchen bei künftigen Ausbrüchen beeinflussen.
Die Coronakrise wird global und lang anhaltend sein – wirtschaftlich und medizinisch. Sie bietet aber auch eine Chance. Dies könnte der erste Ausbruch sein, bei dem die Unterschiede zwischen den Geschlechtern erfasst und von Forschern und politischen Entscheidungsträgern berücksichtigt werden. Zu lange sind Politiker davon ausgegangen, dass die Kinder- und Altenpflege von Privatpersonen erledigt werden kann – meistens von Frauen, die die bezahlte Wirtschaft in hohem Masse subventionieren. Diese Pandemie sollte uns an das wahre Ausmass dieser Ungleichheit erinnern.
Wenham befürwortet das Organisieren einer Notfall-Kinderbetreuung, wirtschaftliche Sicherheit für Kleinunternehmer und finanzielle Unterstützung, die direkt an die Familien gezahlt wird. Aber sie hat wenig Hoffnung, denn ihre Erfahrung zeigt, dass Regierungen zu kurzfristig und passiv denken. «Alles, was nun passiert ist, ist vorhergesagt worden, nicht wahr? Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wussten, dass eine Pandemie ausbrechen würde, mit Ursprung in China, die sich dank der Globalisierung weltweit verbreiten und die Finanzsysteme lähmen würde. Aber dennoch stand kein Budget bereit, es gab keinen Regierungsplan. Wir wussten all das, aber Regierungen hörten nicht zu. Warum sollten sie jetzt zuhören, wenn es um die Frauen geht?»

Das war ein Artikel Helen Lewis. Sie ist Reporterin bei «The Atlantic» und Autorin des Buchs «Difficult Women: A History of Feminism in 11 Fights».
Aus dem Englischen übersetzt von Paula Scheidt
Für radio LoRa vertont von Julia und Bianca