Tear This Down wäre auch in Neumünster fündig geworden

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Fragwürdige Straßen- und Plätzenamen in Neumünster - eine Recherche zur aktuellen Kolonialismusdebatte

Die Initiative „Tear This Down“ sammelt koloniales Erbe in Deutschland auf einer Karte. Bis heute werden in Deutschland Kolonialverbrechen und -verbrecher durch Straßennamen und Denkmäler geehrt. Ob Straßen, Plätze oder U-Bahnhöfe: viele Orte sind nach Kolonialverbrechern benannt. Andere stehen in direktem Bezug zum deutschen Kolonialismus. Bis heute gilt die Benennung von öffentlichen Plätzen in Deutschland als Ehrung von Personen und Würdigung historischer Ereignisse. Sind solche Namenspatrone heute wirklich noch als Vorbilder tragbar? Muss man sie tilgen oder im Lichte ihrer Zeit betrachten? Wir gehen der Sache nach.
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mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.07.2020 / 10:57

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur
Serie: Infomagazin Freies Radio Neumünster
Entstehung

AutorInnen: Ingo
Radio: Freies Radio NMS, Neumünster im www
Produktionsdatum: 17.07.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Initiative „Tear This Down“ sammelt koloniales Erbe in Deutschland auf einer Karte. Bis heute werden in Deutschland Kolonialverbrechen und -verbrecher durch Straßennamen und Denkmäler geehrt. Ob Straßen, Plätze oder U-Bahnhöfe: viele Orte sind nach Kolonialverbrechern benannt. Andere stehen in direktem Bezug zum deutschen Kolonialismus. Bis heute gilt die Benennung von öffentlichen Plätzen in Deutschland als Ehrung von Personen und Würdigung historischer Ereignisse.

In Neumünster war in jüngerer Vergangenheit die Umbenennung von Straßen zumindest Thema einiger unserer Radiosendungen, mehrerer Artikel des Holsteinischen Couriers und natürlich auch in der Ratsversammlung, in der es seit 2018 eine unabhängige Gutachter-Kommission gibt, die zuletzt Anfang 2019 etwas von sich hören ließ. Sie hatte Kriterien für die Neu- und Umbenennung von Straßen erarbeitet. Zuvor hatte der renommierte Gutachter Professor Uwe Danker die Agnes-Miegel-Straße in Neumünster für umbenennungswürdig erachtet. Vor wenigen Tagen nun hat der Fachdienst Stadtplanung und -entwicklung eine Einladung für eine nächste Sitzung angekündigt.
Ein Netz von mehr als 619 Straßen (Stand: November 2018) in acht Stadtteilen erstreckt sich durch das Neumünsteraner Stadtgebiet.
Insbesondere nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 war es üblich, Straßen und Plätze nach populären preußischen Feldherren und Orten bedeutender Schlachten zu benennen. Bekanntestes Beispiel ist das Wiesbadener “Feldherrnviertel”, ein Wohnviertel im Westen der hessischen Landeshauptstadt, das seinen Namen der Namensgebung seiner Straßenzüge verdankt. Diese sind allesamt nach preußischen Feldherren und Generälen benannt.
Im gesamten Neumünsteraner Stadtgebiet finden sich vereinzelt Straßen, die deutschen Militärs, wie etwa dem preußischen Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke (1800-1891), gewidmet sind. Moltke hat sich nicht nur um seinen Anteil für die erfolgreichen so genannten Deutschen Einigungskriegen verdient gemacht, die die Grundlage für spätere Angriffskriege und die Entstehung einer kollektiven deutschen Identität bildeten. Er gehörte auch schon früh zu den Befürwortern einer deutschen Expansion nach Übersee.

“Als das Deutsche Reich in den 1880er Jahren ... in die Reihe der europäischen Kolonialmächte trat, verfolgte Moltke die Entwicklung der Kolonien mit Interesse. Große Bewunderung hegte er für die beiden ‘Kolonialpioniere’ Carl Peters und Hermann Wissmann wegen ihres ‘schneidigen Vorgehens’ gegen die einheimische Bevölkerung.”

Morlang, Thomas (2006): Helmuth Graf von Moltke. URL: http://www.freiburg-postkolonial.de/Seit...

Weitere Beispiele sind die Bismarckstraße, Preußerstraße und Jungmannstraße, deren Namenspatronen sich auf die ein oder andere Weise in Schlachten und Kriegen einen Namen gemacht hatten.
VertreterInnen der Kunst und Philosophie laufen als Namenspatronen im Bundesvergleich den AkteurInnen der politischen Sphäre nach wie vor den Rang ab. Dazu zählen dann nicht nur weltweit bekannte Größen wie Goethe und Schiller, sondern auch regionale HeimatdichterInnen bzw. SchriftstellerInnen. Einige von ihnen haben sich allerdings nicht nur durch besondere literarische Arbeiten einen Namen gemacht, sondern haben sich auch durch völkisch-antisemitische und rassistische Äußerungen hervorgetan. Lange Zeit hatten nach solchen Personen benannte Straßen die Umbenennungswelle nach der Zerschlagung des NS überlebt, doch in jüngster Vergangenheit setzte offenbar auch bei diesem Medium ein Diskussionsprozess über den Umgang mit der Vergangenheit ein. Bekanntestes Beispiel dürfte die NS-Dichterin Agnes Miegel (1879-1964) sein, nach der in Neumünster noch immer eine Straße benannt ist.
Morlang, Thomas (2006): Helmuth Graf von Moltke. URL: http://www.freiburg-postkolonial.de/Seit...

In Neumünster fällt eine weitere Straße auf, die auf der Karte von „Tear This Down“ richtig angesiedelt wäre: Virchowstraße
Rudolf Virchow war eigentlich Freigeist und Humanist und Politiker einer Art Vorform der liberalen Parteien, aber als Anthropologe profitierte er von den rassistischen Völkerschauen des Hamburger Tierparkunternehmers Hagenbeck, bei denen er die Feuerländer und Lappen, Indianer und Nubier maß, verglich und in Rassen einteilte. Sind solche Namenspatrone heute wirklich noch als Vorbilder tragbar? Muss man sie tilgen oder im Lichte ihrer Zeit betrachten?

Wie es den Menschen in den Völkerschauen erging, damit beschäftigt sich Linda Lou Schädlich. Linda ist aktiv bei Leipzig Postkolonial und forscht zum kolonialen Afrikadiskurs im Zoo Leipzig.

Kommen wir zurück auf die Schriftsteller*innen als Namenpatrone für Straßen.

Es gibt mit Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Ludwig Jahn (“Turnvater Jahn”), um nur einige zu nennen, zahlreiche weitere Personen, nach denen in Deutschland Straßen, Schulen und Universitäten benannt sind, die auch für ihre deutschtümelnd-völkischen und antisemitischen Einstellungen und Äußerungen bekannt waren und dadurch immer mal wieder in die Diskussion geraten.

Stormweg und Theodor-Storm-Straße in Neumünster

Das Erinnern an einen pädophilen Dichter wie Theodor Storm stellt einen Grundpfeiler fragwürdiger deutscher Erinnerungskultur und Geschichtspolitik dar. Seit Langem ist der Forschung bekannt, dass Theodor Storm pädophil veranlagt und tief fasziniert von Mädchen im Übergang zur Pubertät war. In einer Biografie von Jochen Missfeldt wird das thematisiert. Auch Antisemitismus ist Storm bereits vorgeworfen worden.

In Neumünster gibt es den Kantplatz

Der deutsche Geisteswissenschaftler Markus Voss-Göschel hat zum Stellenwert vom theoretischen Antisemitismus in Immanuel Kants Religionsphilosophie geforscht und Erstaunliches zutage gefördert. Voss-Göschel nennt zwei Beispiele für die zum Teil extremen antisemitischen Äußerungen in Kants Schriften. „Kant bezeichnet die Juden als ‚Vampyre der Gesellschaft‘ und fordert ‚die Euthanasie des Judentums‘!“, so Voss-Göschel.

Aber nicht nur vermeintliche deutsche Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts werden als Namensgeber für Straßen ausgewählt, sondern eben auch solche erfolgreichen Industriellen wie Wilhelm Dorn, der das NS-Regime maßgeblich durch Nutzung von Zwangsarbeiter*innen unterstützt hat.
Wilhelm Dorn war Technischer Direktor der Lederwerke Wieman. Er war bei der Gemeindewahl in Neumünster am 12. März 1933 Kandidat der "Nationalen Aufbaufront", der Partei von Alfred Hugenberg. Hugenberg gilt als Wegbereiter der nationalsozialistischen Herrschaft. 1951 wurde die Wilhelm Dorn Straße in Neumünster nach dem technischen Direktor benannt. Als Direktor der Lederwerke war er letztendlich auch für die Einhaltung der Lagerordnung im Lager von Wieman verantwortlich. Diese Lagerordnung wurde im August 1942 unter Einsatz der Schusswaffe erzwungen. Zu dieser Zeit setzten die Lederwerke circa 280 Zwangsarbeiter*innen ein. Wachtmeister Warnholz bemerkte bei der Wache zwischen dem Durchgangslager (Dulag) in der Lindenstraße und der Wieman-Baracke mehrere russische Zivilarbeiter im Niemandsland und schoss auf sie, weil er dachte, sie wären aus dem Durchgangslager geflüchtet. Stattdessen handelte es sich um russische Vertragsarbeiter von Wieman. Die Betroffenen wurden am Kopf verletzt.

Mit diesem Beitrag will ich ein wenig über die geschichtspolitische Bedeutung von Straßennamen informieren und anhand Neumünsteraner Beispiele verdeutlichen, wie sich mit der Ehrung ihrer Namenspatronen dominierende Geschichtsbilder auch auf lokaler Ebene im Stadtbild manifestieren.
Im Februar fragte der SSW im Landtag nach, wie es aussieht bei Einrichtungen des Landes, die den Namen von Personen tragen oder trugen, die eine koloniale Vergangenheit haben, oder bei Bestrebungen auf kommunaler Ebene, Straßennamen und Namen von Einrichtungen aufgrund der kolonialen Vergangenheit einer namensgebenden Person zu ändern. Dazu konnte die Landesregierung bisher nichts sagen.

Mehr zu diesem Thema gibt es unter www.tearthisdown.com oder auch beim Arbeitskreis HAMBURG POSTKOLONIAL unter www.hamburg-postkolonial.de