Das social Distel-Ding - Keine Orgien für Stubenhocker*innen

ID 104673
 
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Teil 58 der Kolumne aus dem social distancing - Heute geht es um die ernüchterten Ausblicke auf das Ende der Krise, unsere Safe-Spaces und warum Sicherheit auch keine Lösung ist.
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06:22 min, 5973 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 07.10.2020 / 19:24

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 07.10.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Na ihr lieben social Distel-Dinger, wie macht sich die neue Variable Schmuddelherbst in diesem größten sozialen Experiment der Menschheitsgeschichte? Mittlerweile ist die Aussicht auf das was früher Normalität genannt wurde ähnlich eingetrübt wie der Wetterbericht.
Selbst dieses social Distel-Ding hat zwischenzeitlich mindestens 1,5 Meter Abstand genommen, von der zu Anfang geäußerten Vorstellung, dass das Ende der Pandemie in großen Orgien gefeiert werden wird. Diese Verheißung erscheint nicht nur angesichts der antrainierten Ablehnung großer Menschenansammlungen nicht mehr so wünschenswert. Auch die neue soziale Spaltung, die Angst vor den verqueren Gedanken und Handlungen der Anderen, lässt die hingebungsvolle Aufgabe der eigenen Person in einem Menschenknäul nicht wirklich lockend erscheinen.
Insgesamt scheinen Emotionen in der derzeitigen Lage zu meiden zu sein. Zu unsicher ist all das was emotional zu verarbeiten wäre: Pandemie, unterschiedliche Wahrnehmungen der Gefährdungslage, Wahl in den USA, brennender Amazonas, Neonazis in Polizei und Gesellschaft, Klimawandel, Menschenrechtsverbrechen der Friedensnobelpreisträgerin EU an Flüchtenden, neue und alte Kriege, und und und…
Wer sich nur für einen dieser Punkte die Zeit nimmt alleine zuhause darüber nachzudenken, die Komplexität der möglichen Auswirkungen aushält und dabei auch noch nüchtern bleibt, ist zu bewundern. Denn eigentlich haben wir ja dafür einander. Miteinander lässt sich der Blick in den Abgrund der Widrigkeiten besser ertragen, weil Hände gehalten und Schultern geklopft werden können. Allein die Nähe eines Gegenübers gibt uns die Sicherheit nicht unbemerkt von diesem schwarzen Loch der Unsicherheit verschluckt und in totaler Verzweiflung wieder ausgespien zu werden. Wir vertrauen auf einander, dass wir noch da sein werden, wenn die schlimmen Fälle eintreffen und können uns dabei teilweise sogar noch den Galgenhumor behalten, der nicht zuletzt in der Kausa Trump das einzig vernünftige Mittel scheint.
Nur ist es leider so, dass das Miteinander fehlt. Selbst wenn nun wieder Feiern abgehalten wurden und Treffen nicht mehr ganz so gefährlich erscheinen, die eigene Wohnung ist der fast schon mit dem social Distel-Ding verwachsene Schutzraum geworden. Wie bei einem zu sehr an das Gefängnis gewöhnten frisch Entlassenem erscheint die Sicherheit des geregelten und eingegrenzten Alltags dem Chaos eines von mehr als einem Hausstand belebten Raums vorzuziehen zu sein.
Dabei sind es nicht nur die Ansteckungsgefahren die uns abschrecken. Stattdessen ist es auch die Gewöhnung an das Regelbare, an ein Leben in dem nichts mehr gehört, gesehen oder besprochen werden muss, was nicht ausdrücklich erwünscht ist. Zuhause ist die Kontrolle groß, zumindest für diejenigen die das Glück haben am Drücker, genauer, an der Fernbedienung, zu sein. Netflix und Co. erlauben uns über immer weiter verfeinerte Begutachtungsalgorithmen unserer Vorlieben dauerhaft gut unterhalten zu bleiben ohne uns mit unbequemen Formaten auseinandersetzen zu müssen. Spotify und Co. liefern uns den Soundtrack unseres Lebens, den wir nie durch Nachrichten oder unserer Meinung widersprechende Stimmen unterbrechen müssen. In den sogenannten sozialen Netzwerken sind wir in unseren Communitys gut aufgehoben und können uns der Unterstützung Gleichgesinnter sicher sein, wenn uns in einer dieser unsäglich unsachlichen Diskussionen mal die Argumente ausgehen.
Aber vor unserer Tür? Da lauert die Gefahr Dinge sehen, hören und besprechen zu müssen, auf die wir einfach keinen Bock haben. Etwas weiter gespinnt könnte sich der Eindruck aufdrängen, dass das Leben in einer Nährlösung und mit konstant wohlgefälliger Unterhaltung, die beste Lösung ist um Unlust und Unangenehmes zu vermeiden.
Warum nicht? Warum nicht alles aufgeben, im Angesicht dieses Abgrunds an Unwägbarkeiten und tragischen Aussichten? Warum nicht dauerhaft zu Hause bleiben, die Welt Welt sein lassen und nur noch die Lust erleben, auf die man auch wirklich Lust hat?
Naja, einige Lüste kann all die Unterhaltungsindustrie nicht befriedigen: Abenteuerlust, Lust an Veränderung, Lust am Schaffen…
Ja, die Welt ist grausam und gemein und schert sich einen Dreck darum, was dieses social Distel-Ding will. Ja, die Vorstellung damit nicht mehr konfrontiert zu werden erscheint so wie ein vorgewärmtes Bett nach einem kalten, harten Arbeitstag. Nur ist es das was Menschsein auch ausmacht: Widrigkeiten überwinden, Zufälle erleben, Neues lernen, über sich hinauswachsen, aus der Konfrontation mit Unangenehmen neues Selbstbewusstsein ziehen, Selbstvertrauen aufbauen, dass man all das auch kann.
Gerade dieses Selbstvertrauen ist was fehlt. Nicht nur bei uns vereinzelten social Distel-Dingern. Auch gesamtgesellschaftlich.
Diese Krise ist einschneidend, nervig, zum Teil grausam, zum Teil bevormundend und vieles anderes mehr. Vermutlich hätte sie jede und jeder lieber gestern als morgen überwunden. Es ist sehr unangenehm auf ein Ende der Unsicherheit zu warten und dennoch noch so viele Stolperfallen auf dem Weg stehen zu sehen. Aber letztlich bleibt uns nichts anderes als das Wissen, was wir in unserem Leben schon überlebt und auch geschafft haben. Daraus lässt sich das Vertrauen ziehen, dass das Ende vielleicht nicht in einer großen Orgie kommen wird, aber wir aus dieser Situation hinauswachsen. Denn auch wenn es sich so anfühlt, als hätte sich die Welt die so bedrohlich an die Außenwände unserer Schutzräume drückt gegen einen verschworen, eine Verschwörung ist es nicht.
Es sind weiterhin die gesammelten Eigeninteressen jedes und jeder Einzelnen, die gemeinsam das verworrene große Ganze ergeben. Und wenn genügend von uns sich auch zur Aufgabe machen das große Ganze im Blick zu behalten, unsere Demokratie zu stützen, unsere Gegenüber zu schätzen und unsere Menschlichkeit zu erhalten, dann kommen wir da auch durch.
Aber so lustig wie neues bei Netflix wirds nicht.

Kommentare
09.10.2020 / 18:01 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 9.10.. Vielen Dank!