Das social Distel-Ding – Nihilistische Weihnachten

ID 106089
2. Teil
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Teil 62 der Kolumne aus dem social distancing. Diesmal mit nihilistischen Gedanken zur Weihnacht
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04:38 min, 4349 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 23.12.2020 / 15:03

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Umwelt, Politik/Info
Serie: Das social Distel-Ding
Entstehung

AutorInnen: Fabian Ekstedt
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 23.12.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Liebe social Distel-Dinger,
es ist so weit. Nach all dem Gerede darüber, nach all den frommen Hoffnungen, den scharfen Warnungen, den eindringlichen Appellen und den strengen Maßregelungen müssen wir jetzt nur noch einmal Schlafen und es ist Weihnachten. Das ist sicher. Was nicht ganz so sicher, aber sehr wahrscheinlich ist: nur noch einmal Schlafen und dann haben wir eine weitere Grenze eingerissen: 1000 registrierte Todesfälle mit oder an Covid-19 an einem Tag. Heute wurde schließlich einmal mehr der bisherige Rekord eingestellt und weitere 962 Plätze an der Familientafel bleiben leer. 962 Familien trauern heute und werden auch morgen nicht über den Verlust hinweg sein.
Nihilistische Weihnachten stehen an. Der Glaube daran, dass dieses größte soziale Experiment der Menschheitsgeschichte ein einigermaßen verträgliches Ende nehmen wird, ist erschüttert. Der Glaube daran, dass dieses gemeinsame Empfinden einer elementaren Bedrohungssituation uns Menschen in unserer fragilen und auf gegenseitige Rücksichtnahme angewiesenen Existenz solidarischer und auch gleicher werden lässt, ist zerrüttet. Der Glaube daran, dass eine Konzentration auf wissenschaftliche Evidenz uns in nüchterner Problemanalyse dazu veranlasst uns nicht nur von kurzfristigen Lösungen zum langfristigen Weiter-So zu hangeln, ist entgeistert.
Nihilistische Weihnachten also. Es hat alles keinen Sinn, es macht alles keinen Sinn, es gibt nichts Sinnhaftes, alles was wir glauben zu wissen ist Unwissen, es gibt kein Gut und kein Schlecht, wir leben und sterben und zwischendrin werden wir krank. Das sind vielleicht nicht die freundlichsten Worte zu diesem großen Fest der christlichen und/oder kitschigen Familien, könnte aber in den zahlreichen Telefonaten und Videokonferenzen mit der nicht ganz geistesverwandten Verwandtschaft hilfreich sein.
Letztlich hat sich schon in vorhergehenden sozialen Experimenten gezeigt, dass die emotionale Intensität der Wahrnehmung von Unrecht oder Schicksalsschlägen in keiner Verbindung zu objektiven Faktoren steht. Ein Kind kann beispielsweise in der gleichen Intensität betrauern, dass sein Lineal zerbrochen ist, wie es der verstorbenen Familienkatze nachtrauert.
Oder anders gesagt: Onkel und Tante können unfassbar empört darüber sein, dass der kleine Horst dazu gezwungen wurde im Unterricht eine Maske zu tragen, aber es als brutal aber notwendig erachten, dass in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln Kinder und Babys von Ratten gebissen werden und im Winter in Zelten auf der nackten Erde hausen müssen. Der Schwager mag lang und breit die aktuelle Infektionslage, die zu erwartenden Entwicklungen und die geeigneten Maßnahmen dagegen wie Christian Drosten darlegen können, aber die Bekämpfung des Klimawandels durch die Bundesrepublik ist seiner Meinung nach unnötig und das Tempolimit sowieso gegen jeden Menschenverstand, wofür hat sein Diesel-SUV sonst 600 PS. Die Geschwister können lang und breit das Sterben des Einzelhandels und der Kultur betrauern, bevor sie dann die Weihnachtsgeschenke von Amazon verteilen. Für den Großonkel mag es eine Sauerei sein, dass die Politik nur die Großen rettet, aber einen Großteil seiner Zeit bringt er lieber dafür auf sich über seine Mieter zu ärgern und die Verwandtschaft davon zu überzeugen doch zu ihm zu ziehen, damit er aus Eigenbedarf kündigen kann. Die Großeltern können lange erklären, dass die Welt sich so schnell ändert und dass sie nicht mehr genau wissen wo sie sich hin entwickelt, aber trotzdem von den Enkeln einen genauen Karriereplan fordern und möglichst bald endlich Urenkel! Die Politiker*innen mögen in ihren Weihnachtsansprachen von der Verantwortung sprechen, die sie und wir alle füreinander übernehmen, aber Andi Scheuer ist zugleich immer noch Bundesverkehrsminister.
Da hilft nur noch Nihilismus – die nackte Existenz, die sich das Weihnachtsessen oder die extra große Tüte Weihnachtschips reinstopft und spürt wie die übertriebene Kalorienzufuhr das Denken langsamer macht. Dann noch Nachspeise, Schokolade und ein Schnapserl… Weihnachten wie es früher war, fett und besinnlich. Das kriegen wir social Distel-Dinger schon irgendwie hin. Frohe Weihnacht.
Passt auf euch auf

Kommentare
24.12.2020 / 18:02 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 24.12.. Vielen Dank!