Kommentar zur nächtlichen Ausgangssperre in Halle

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In Halle gilt seit dem Wochenende eine Ausgangsbeschränkung. Direkt als diese in Kraft trat demonstrierten 140 Menschen auch gegen die Ausgangsbeschränkung, doch insgesamt bleibt die Reaktion der Bevölkerung eher Verhalten. Aljoscha von der Tagesaktuellen Redaktion kann dies nicht nachvollziehen. Ein Kommentar.
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06:36 min, 15 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.04.2021 / 15:18

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: CX - Corax - Geschichte/Gesellschaft - Dialektik
Entstehung

AutorInnen: Tagesaktuelle Redaktion
Radio: corax, Halle im www
Produktionsdatum: 06.04.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Vollständiger Text:



[Quelle: Stadt Halle] Folgende Maßnahme[…] g[i]lt[…]: Eine nächtliche Ausgangsbeschränkung von 21 Uhr bis 5 Uhr. Das Verlassen der eigenen Wohnung ist dann nur noch aus gewichtigem Grund erlaubt.

Mit diesen, sehr kurz gehaltenen Worten, gilt seit dem 5. April in Halle eine Ausgangssperre. Sie wird zwar Ausgangsbeschränkung genannt, mit geregelten Ausnahmen, doch effektiv ist es eine Ausgangssperre mit Passierschein für manche Zwecke, doch das klang nicht so gut, also folgte die Neubezeichnung als Ausgangsbeschränkung. Zwischen 21 Uhr abends und 5 Uhr morgens darf also nur noch die eigene Wohnung verlassen werden, wenn ein gewichtiger Grund vorliegt - etwa ein medizinischer Notfall oder Lohnarbeit, nicht jedoch Einkaufen oder reguläre Besuche oder sportliche Betätigung wie joggen. Als Strafe droht ein Bußgeld. Anlass für die Maßnahme sei, so zumindest die Stadtverwaltung, das Überschreiten des Grenzwerts von 200 bei der 7-Tage-Inzidenz. In ihrem FAQ schreibt die Stadt:

[Quelle: Stadt Halle] Um die Infektionszahlen zu senken und damit die Gesundheit der Menschen zu schützen, müssen die Kontakte – insbesondere die privaten – reduziert werden.

Doch ist dafür wirklich eine Ausgangssperre angebracht oder nötig? Mehrere Punkte lassen mich da stutzig werden. Zum einen, das die Ausgangssperre in Baden-Württemberg zum Beispiel erst vom Landesverfassungsgericht gekippt wurde, zum anderen, das noch vor wenigen Wochen von dem Bund-Ländern-Treffen kommuniziert wurde, das bei einer Überschreitung des Grenzwerts Lockerungen wieder zurückgenommen werden würden. Davon ist freilich nichts zu sehen, stattdessen bleiben Geschäfte geöffnet während neue, andere Beschränkungen eingeführt werden.

Die Ausgangssperre gilt nun statt Öffnungen von Läden und Schulen einzuschränken oder zurückzunehmen - von Regeln für Betriebe und Arbeitsplätze spricht wohlgemerkt weiterhin kaum jemand. Doch Ausgangssperren haben eine längere Geschichte. Grundsätzlich ist die Ausgangssperre ein Mittel des Notstandes, eingesetzt von Militär und Polizei zur Kontrolle der Bevölkerung allen voran bei der Aufstandsbekämpfung. Ausgangssperren haben eine lange Tradition in Diktaturen und Autokratien sowie eine unrühmliche Rolle zur Eindämmung von Protesten aus der Bevölkerung. Der Rückgriff auf die kollektive, allgemeingültige Ausgangsbeschränkung ist ein Rückgriff auf Repression durch militarisierte Gewalt. Eine der zentralen Funktionen der Ausgangssperre ist es dabei ein Klima der Angst und Einschüchterung zu erzeugen, dem sich die Bevölkerung fügt.

Im Kontext der Pandemiebekämpfung zeigt sich die Ausgangssperre als äußerst beliebt: Egal ob Frankreich, Italien, Spanien oder Deutschland. Überall findet sie Anwendung, sperrt Menschen in ihre Wohnung ein, außer sie gehen der angeblich wichtigen Lohnarbeit nach. Es scheint ja auch logisch: Wer seine Wohnung nicht verlässt, kann ja bestimmt auch niemanden Anstecken. Wie überzeugend das ist, muss jedoch jede*r selber Entscheiden, den der Faktencheck ist kompliziert. Studien zufolge ist die Ausgangsbeschränkung mal effektiv, mal weniger. Eines ist dabei aber interessant: Die Wirksamkeit von Ausgangssperren wird immer nur im Zusammenhang mit anderen Maßnahmen nachgewiesen - welche Maßnahme dabei wie relevant war bleibt derzeit schwierig zu belegen. Doch ein Ergebnis ist, das ein 2-Wöchiger konsequenter Lockdown Fallzahlen besser und schneller eindämmt als ein leichterer Lockdown mit 3-Wöchiger Ausgangssperre. Wenn also die Effektivität der Ausgangssperre nur da auftritt, wo private Zusammenkünfte auch eingeschränkt sind, Lockdown-Maßnahmen greifen und die Ausgangssperre noch genug Zeit lässt das nicht alle zur gleichen Zeit Einkaufen müssen, dann ist diese eher auf die anderen Maßnahmen als auf die Ausgangssperre zurückzuführen.

Zusätzlich gilt die rechtliche Frage zu bedenken: Eine Ausgangssperre ist ein massiver Eingriff in die persönliche Freiheit. Sie ist nur dann anzuwenden, wenn sie Verhältnismäßig ist und keine anderen Mittel sich eignen das Ziel zu erreichen. Genau deswegen wurde auch die Ausgangssperre in Baden-Württemberg zuletzt gerichtlich gekippt.

Zur Bewertung bleibt also nur die politische Entscheidung: Ist die Ausgangssperre wirksam und sinnvoll in der Bekämpfung der Corona-Pandemie? Die Begründung ist immer wieder, das angeblich die meisten Ansteckungen im privaten Stattfinden. Selbst wenn diese Aussage stimmt, belastbare Zahlen dazu bleiben schwierig zu bekommen, lässt sich stark bezweifeln, dass tatsächlich Spaziergänge und Treffen an der frischen Luft der Bereich des privaten sind, in dem es zu den Ansteckungen kommt, oder doch eher Treffen in geschlossenen Räumen. Ein Beispiel: Wer abends noch ein Spaziergang macht, eine Runde joggen geht, oder gar sich auf Abstand mit jemanden im park auf ein Bier trifft dürfte kaum das Problem sein. Viel mehr kommt es zu Ansteckungen wo Masken, Abstand und ausgiebiges desinfizieren nicht praktiziert werden - bei Versammlungen von Maskenmuffeln, im Gedränge von Einkaufsräumen, zu Hause bei privaten Zusammenkünften und an Arbeitsplätzen wo betriebliche Regeln entweder ignoriert werden oder von vornherein nicht zum Schutz der Angestellten ausreichen.

Nicht ohne Grund ist es auch die politische Linke die in Italien, Spanien und Frankreich massiv an Protesten gegen die Ausgangssperren beteiligt waren und sind. Ausgeblendet bei der Frage der Wirksamkeit wird immer wieder auch die Betroffenheit. Im Laufe des letzten Jahres hat sich immer wieder gezeigt, wen eine Ausgangssperre am härtesten trifft: Wohnungslose, migrantisierte Menschen, Menschen mit geringeren Einkommen und vor allem auch betroffene häuslicher Gewalt.

Die erstaunlich geringen Verstöße gegen die Ausgangssperre, die das Ordnungsamt in den ersten Tagen der Ausgangssperre meldet, zeigen entweder, dass aus Angst tatsächlich die Repression wirkt, oder die Menschen einfach schlauer im Ausgehen sind als die Ordnungskräfte im Kontrollieren. Allein wegen der Zeit von Ansteckung zur Entwicklung von Symptomen kann der Ausgangssperre auch definitiv noch keine Rolle in der Senkung des Inzidenzwertes zugeschrieben werden. Statt politisch und sozial auf Verhaltensweisen einzuwirken, endlich virologisch empfohlene Verhaltensweisen fest im Alltag zu verankern, schwingt wieder einmal die preußische Ordnungskeule. Aus einem Jahr Corona werden so bald zwei, Konsequenzen die zukünftig den Umgang mit Pandemien schneller und besser ermöglichen bleiben aus. Für die emanzipatorische Bewegung bleibt deshalb klar: Das Streben nach einer solidarischen, sozialen Welt muss verknüpft sein mit dem Kampf gegen eben solche ordnungspolitischen Maßnahmen wie die Ausgangssperre und die Alternativen müssen sichtbar gemacht werden - wie eben die Abschaffung des Patentes auf Impfstoffe. Solange die Pandemie jedoch nur im privaten bekämpft wird, werden wir keinen Ausweg finden.