We the people

ID 110017
 
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Zum 4. Juli kommen Anteile meiner amerikanischen Teil-Sozialisation zum Vorschein. Was unterscheidet 'we the people' von dem hiesigen 'wir sind das Volk'? Der 4. Juli ist in den USA ist nicht nur der Tag vieler roter und blauer Raketen und überlebter Paraden - er ist immer noch das lebendige Symbol dafür, dass die individuelle und kollektive Freiheit auch und gerade gegenüber der eigenen Regierung verteidigt werden muss.
'We the people' ist die Metapher für den Umstand, dass die Macht der Regierung nur geliehen ist und der wahre Souverän unveränderlich das Volk bleibt. Das libertäre Staatsverständnis von 'we the people' kann in Zeiten ausufernder staatlicher Bevormundung und Repression nicht hoch genug gehalten werden. Dem hiesigen 'wir sind das Volk' fehlt dagegen die konstitutive und gesellschaftliche Kraft und real wirksam zu werden.
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10:00 min, 9275 kB, mp3
mp3, 126 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.07.2021 / 15:49

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Mel
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 05.07.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es ist der Abend des 4. Juli und da ich einige Zeit meiner Jugend in den USA sozialisiert wurde, sind mir in nostalgischer Independenceday-Stimmung einige Texte untergekommen, die damals zu diesem Feiertag in der Schule gelesen wurden.

Dabei wurde einmal mehr der Bewusstseinsunterschied zwischen ‚we the people‘ und dem inzwischen hierzulande weitgehend verbrämten ‚wir sind das Volk‘ deutlich. In den USA, einer Nation, der die Freiheit nicht im Marschgepäck siegreicher Truppen mitgebracht wurde, ist das Bewusstsein für die Gefährdung individueller Selbstbestimmung wesentlich präsenter. Freiheit wird dort nicht als unveräußerlicher Besitz, sondern als stets neu erkämpfendes und gerade auch gegenüber der eigenen Regierung zu verteidigendes Gut verstanden.
Von Ronald Reagan stammt der Ausspruch:
“Freedom is never more than one generation away from extinction. We didn't pass it to our children in the bloodstream. It must be fought for, protected, and handed on for them to do the same"
(Freiheit ist nie weiter als eine Generation vom Ausssterben entfernt. Wir geben sie nicht unseren Kindern mit unserem Blutstrom weiter. Sie muss erkämpft werden, geschützt und ihnen [den Kindern] übergeben werden, damit sie dasselbe tun können)

Hierzulande glaubt man die Freiheit gesichert, im Grundgesetz unverrückbar verankert, von den Gerichten garantiert und von der Regierung zum Wohle aller verwaltet, geformt und – falls es opportun erscheint – eben auch beschnitten. Das uramerikanische Bewusstsein, dass jede Regierung der natürliche Feind der individuellen und kollektiven Freiheit ist, fehlt im deutschen Staatsverständnis völlig.

Hierzu nochmals der im deutschen Politbewusstsein häufig als tumber Reaktionär geschmähte 40. Präsident der USA:
We are a nation that has a government - not the other way around. And this makes us special among the nations of the earth. Our Government has no power except that granted it by the people. It is time to check and reverse the growth of government which shows signs of having grown beyond the consent of the governed.
(Wir sind eine Nation, die eine Regierung besitzt – nicht umgekehrt. Das macht uns zu etwas Besonderen unter der Staaten der Erde. Unsere Regierung hat keine Macht, außer jener, die ihr vom Volk gewährt wird. Es ist an der Zeit, das Ausufern der Regierung zu überprüfen und umzukehren, da es Anzeichen gibt, dass sie über die Zustimmung der Regierten hinaus gewachsen ist)

Wohlgemerkt, Reagan sagte dies ausgerechnet in seiner Antrittsrede nach seiner Wahl zum Präsidenten! Das Bewusstsein, dass die Regierung ihre Macht vom Volk lediglich unter Vorbehalt geliehen bekommt und diese ausschließlich im Sinne und zum Wohl der Regierten anzuwenden hat, ist in Deutschland kaum in der Gesellschaft angekommen.
Die Corona-Pandemie hat dieses nie erworbene Verständnis, dass eine Regierung dem Volk verantwortlich ist und nicht umgekehrt, wie unter einem gigantischen Brennglas überdeutlich werden lassen. Der freie Souverän mutierte innerhalb von Wochen zum potenziellen Krankheitsüberträger, über dessen Ausgang, Kontakte, Reisemöglichkeiten, Einkäufe und selbst Bekleidung der Staat nach Gutdünken seiner selbstgewählten Berater entscheidet.
Die allwissende Regierung definiert das Wohl ihrer Untertanen - und sollte diese mit dem weisen Ratschluss nicht einverstanden sein, so leisten Repressionskräfte die notwendige Überzeugungsarbeit.
Die Balance zwischen den unveräußerlichen Freiheitsrechten der Bürger und der unvermeidlichen temporären Abgabe von Macht an den Staat, ist in der deutschen Gesellschaft schon lange aus dem Lot. Die Coronapandemie hat den über die individuelle Freiheit seiner Bürger rigoros hinwegregierenden Staat plastisch vor Augen geführt. Diese Erfahrung kann nicht ohne gesellschaftliche Folgen bleiben.
Allerdings bleibt fraglich, ob das ohnehin schwach verankerte ‚wir sind das Volk‘ sich je zu dem die eigene Souveränität unzweifelhaft einfordernden und im Zweifel auch erkämpfenden ‚we the people‘ emporschwingen kann. Freiheit, das ist im deutschen Bewusstsein kaum verstanden, wird nicht gewährt, sondern stets aufs Neue erkämpft.
Hierzu noch ein Zitat zum amerikanischen Verständnis:
“Many countries of the world, have constitutions, but in almost every case they are documents in which governments tell their people what they could do. The United States has a constitution that is different from all the others because in it the people tell their government what it can do. Its three most important words are “We the people,” its most important principle, freedom.”
(Viele Länder der Welt haben Verfassungen, aber fast allen Fällen sind dies Dokumente, in denen die Regierungen ihrem Volk sagen, was sie [die Regierungen] tun können. Die Vereinigten Staaten haben eine andere Verfassung, weil hier das Volk seiner Regierung sagt, was sie tun kann. Die drei wichtigsten Worte darin lauten: ‚We the people‘, das wichtigste Prinzip darin ist, Freiheit)

Und ja, das stammt erneut aus der Feder des gern geschmähten Ronald Reagan. Der Grundgedanke individueller Freiheit, die vom Staat nur im minimal notwendigen Maße beschnitten werden darf, ist aber so alt wie die amerikanische Verfassung. Wir brauchen Reagan dafür nicht, sondern finden den gleichen Gedanken bereits bei Thomas Jefferson, einem der zentralen Gestalter der amerikanischen Verfassung und beliebten Lehrinhalt zum 04. Juli in den USA.

„I prefer dangerous freedom over peaceful and safe slavery."
(Ich bevorzuge gefährliche Freiheit gegenüber friedvoller und sicherer Sklaverei)

Schließlich noch pointierter vom nächsten amerikanischen Gründungsvater, Benjamin Franklin

They who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety.
(Wer essenzielle Freiheit aufgibt, um etwas vorläufige Sicherheit zu kaufen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit).

Soviel Freiheit und so wenig staatlich garantierte oder zumindest vorgegaukelte Sicherheit ist dem deutschen Staatsverständnis höchst suspekt. Der Staat, Frau Merkel, Herr Spahn werden schon wissen was richtig ist und in Deutschland ist nach wie vor der Bürger für den Staat da und nicht umgekehrt – wer auch nur geringste Zweifel an der letzten Aussage hegt, begebe sich mit einem Anliegen zu einer beliebigen deutsche Behörde.

‚Wir sind das Volk‘ ist hierzulande nicht der verbale Ausdruck eines Bewusstseins, selbst die souveräne Quelle aller Macht zu sein. Ohnehin teilt nur eine Minderheit die Erfahrung, über die Einforderung dieser unveräußerlichen Rechte, den Lauf der Geschichte und die gesellschaftliche Konstitution beeinflusst und verändert zu haben. Da wundert es wenig und betrübt anhaltend, dass der Slogan ‚Wir sind das Volk‘ in den letzten Jahren hauptsächlich von jenen bemüht wurde, denen es bestimmt nicht um individuelle und kollektive Freiheit geht.
Umso mehr wärmt das amerikanische ‚we the people‘ nicht nur an diesem 4. Juli das libertäre Herz.

If you want to undestand freedom and the constitution, read Thomas Jefferson, forderte damals die Lehrerin.
Daher enden mit diesem Kämpfer gegen staatliche Bevormundung und Willkür meine Reflexionen zum 4. Juli:
When government fears the people, there is liberty. When the people fear the government, there is tyranny
(Wenn die Regierung das Volk fürchtet, dann herrscht Freiheit. Wenn das Volk die Regierung fürchtet, dann herrscht Tyrannei.)

Ich wünschte Deutschland die Erfahrung und das Bewusstsein eines 4. Juli oder wenigstens das revolutionäre Bewusstsein eines 9. November.

Kommentare
07.07.2021 / 20:20 Attac-Magazin, radio flora, Hannover
Danke!
gesendet am 06.07.