Albert Jörimann - Das allgemeine Frankreich

ID 110844
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Die Beratungsfirma Ernst & Young hat für das Corona-Jahr 2020 in 44 Ländern Europas fünf­ein­halb­tausend private Direktinvestitionen im Ausland untersucht, was einigermaßen einen Anhalts­punkt für die Attraktivität der jeweiligen Länder für, na eben: ausländische Direkt­investitionen ergeben sollte. Der Europe Attractiveness Survey wurde am 7. Juni publiziert.
Audio
12:03 min, 11 MB, mp3
mp3, 121 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 31.08.2021 / 21:46

Dateizugriffe: 87

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 31.08.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Die Beratungsfirma Ernst & Young hat für das Corona-Jahr 2020 in 44 Ländern Europas fünf­ein­halb­tausend private Direktinvestitionen im Ausland untersucht, was einigermaßen einen Anhalts­punkt für die Attraktivität der jeweiligen Länder für, na eben: ausländische Direkt­investitionen ergeben sollte. Der Europe Attractiveness Survey wurde am 7. Juni publiziert. Die französische Agentur 6médias meldete mit dem gehörigen Nationalstolz, dass in dieser Rangliste Frankreich zum zweiten aufeinander folgenden Mal die Spitzenposition einnehme, obwohl die Anzahl der Inves­ti­tions­pro­jekte im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr um 18% abgenommen habe auf 985 Stück; im gesamten europäischen Raum habe der Rückgang nur 13% betragen. Im zweitplatzierten Eng­land hätten die Direktinvestitionen sogar nur um 12% abgenommen auf 975 Stück, womit England im Jahr 2020 den zweiten Platz belege. Was Frankreich anbelangt beziehungsweise die In­ves­ti­tionen ausländischer Unternehmen nach Wirtschaftssektoren, so stand Informatik an der Spitze, wogegen Raumfahrt, Automobilbau und Tourismus starke Einbussen erlitten hätten. Auch die Investitionen in die Bereiche Industriegüter und Transport und Logistik hätten sich halbiert. Trotzdem ist 6médias beziehungsweise das publizierende Portal L'Opinion ganz zufrieden mit der Bilanz und führt sie auf die Wirtschaftspolitik der Regierung zurück, welche den Standort Frankreich mit Vergünstigungen und Steuersenkungen attraktiv erhalten habe. Daneben nennt 6médias drei Länder, welche sich in der Corona-Krise gut gehalten hätten, nämlich die Türkei, welche einen Zuwachs ihrer auslän­di­schen Direktinvestitionen um 18% erlebte, sodann Polen, wo die Zunahme 10% betrug, und schließ­lich Portugal, das mit einem Rückgang um –3% vergleichsweise beschei­dene Einbußen erlitten habe. Deutschland belegt in der Rangliste übrigens hinter Frankreich und England Platz drei.

Frankreich – wer ist das überhaupt? Die Informationen über dieses Land sind in den letzten Jahren eigenartig verschwommen geblieben, oder vielleicht müsste ich genauer sagen: Ich habe sie wenig einheitlich empfunden. Einerseits hat man den Eindruck, die Französinnen würden unter der galop­pierenden Deindustrialisierung leiden, nachdem neben der Automobilindustrie auch Schwer­ge­wich­te wie Alstom Schlagseite zeigten. Die anhaltende Fixierung auf Atomenergie mit dem Sektor­riesen Areva bleibt ebenfalls rätselhaft. Dazu kommt der Ruf einer über­durch­schnitt­lich hohen Bereit­schaft des Staates zur Intervention, nicht nur in Afrika, sondern auch in der eigenen Wirt­schaft, was sich auch in einer engen Verflechtung der politischen und der wirt­schaft­lichen Elite ausdrückt. Einen wesentlichen Bestandteil dieser Elite macht auch der Kultursektor aus, durchaus im Gegensatz zum Beispiel zu Deutschland. Vielleicht hängt auch die Verbandelung der Kultur mit verschiedenen Rauch- und Petardenwerfer aus Philosophie und Soziologie damit zusammen. Die internationale Berichterstattung über das Land war aber in letzter Zeit besonders geprägt von den vielfältigen Unmuts­for­men, welche sich zum Beispiel in der Wahlenthaltung, vor allem aber auf der Straße manifestierten und weiterhin manifestieren.

Dabei bleibt auch die Wahrnehmung der Bevölkerung verschwommen. Unterhalb der fest gemauerten Elite vermute ich einen ziemlich breiten und apolitischen Harst an Ingenieurinnen, Facharbeiterinnen, Kleinunternehmerinnen und Beamtinnen, welche es sich nach Möglichkeit in ihrem Leben gut einzurichten versuchen. Hin und wieder regen sich gewisse Bestandteile dieser Klasse auf: Die Gilets jaunes sind zum global bekanntesten Standard für eine all­gemeine Empörung geworden, zu welcher vor fünfzehn Jahren der alte Rebell Stéphane Hessel aufgerufen hatte. Hessels Zorn hatte sich noch gegen den Kapitalismus gerichtet, welcher die elitäre Gesell­schafts­ord­nung bestimmte. Heute, nach den grausamen Niederlagen der sozialistischen Partei bei den letzten Parlamentswahlen, richtet sich die Empörungsenergie weniger gegen den Kapita­lis­mus als vielmehr ins Nichts, respektive gegen das jeweils gerade aktuelle Thema oder die jeweilige Regie­rung. Die Empörung ist zum Grundzustand geworden – nicht der gesamten franzö­si­schen Bevöl­kerung, aber jener Bewegungen, über welche uns die Berichterstattung erreicht. Noch vor zehn Jahren haben vor allem Streiks für Furore gesorgt, und zwar in der Regel Streiks in staatlichen oder halbstaatlichen Betrieben, Arbeitskämpfe, bei welchen irgendwelche emanzipatorische Forderungen schon längst verraucht waren, einmal abgesehen vom Vokabular, und die sich, wie man den Ein­druck hatte, auch in sich selber erschöpften, will sagen, in den paar Tagen arbeitsfrei, welche aus der Streikkasse bezahlt wurden, welche ihrerseits dann wieder von obligatorischen Mitglieder­bei­trägen gefüllt wurden. Immerhin erinnerte man sich bei solchen Gelegenheiten noch daran, dass der Streik das erste, authentische, sozusagen ursprüngliche Kampf- und Machtmittel einer Arbeiter­klas­se war, die es heute in ihrer ersten, authentischen und ursprünglichen Form allerdings nicht mehr gibt. In der Folge traten dann andere Bewegungen auf den Plan; im Moment sind es vor allem die Impf­gegne­rin­nen, die allerdings in Frankreich mit einem deutlich stärkeren Repressionswillen des Staates konfrontiert sind als anderswo. Was auch wieder phänomenal ist; im Gegensatz zu seinem Vor­gän­ger François Hollande, der zum Schluss seiner Amtszeit vor Angst fast paralysiert erschien, zeigt Emanuel Macron eine enorme Bereitschaft zum Gebrauch der ihm zur Verfügung stehenden Macht. Ich glaube, dass das im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen nicht die dümmste Strategie ist. Die Französinnen und Franzosen mögen anderer Meinung sein als er, aber sie wissen es zu schät­zen, dass er seine Meinung durchsetzt. Das ist übrigens keine französische Besonderheit.

Die politische Landschaft ist seit dem Aufstieg von Macrons Bewegung «La République en Marche» schwer zu lesen, mindestens nach herkömmlichen Kriterien. Nach dem Absturz des Parti Socialiste bei den letzten nationalen Wahlen hielt er sich bei den Regionalwahlen dieses Jahr durchaus ordentlich und stellt fast die Hälfte der Präsidenten, während Macrons République en Marche gerade mal einen Regionalpräsidenten vorweisen kann, nämlich Ary Chalus in Guadeloupe. Die herkömmliche Aufteilung in sozialistische und bürgerliche Strömungen lässt sich nur noch schwer erkennen, wobei sie in Frankreich wegen der starken Rolle des Staates schon immer anders war als in anderen Ländern. Aber jetzt bereitet es erhebliche Mühe, abgesehen von den unentwegten Nationalistinnen und Rassistinnen vom Front National, wobei auch diese Bewegung nicht so einheitlich ist, wie sie es gerne hätte. Dass er sich 2018 umbenannt hat in Rassemblement National, ist kein Zufall. Der große Schlager Auflösung der EU und Austritt aus dem Euro-Raum ist seit dem Abgang der Engländer kein wirkliches Thema mehr, eher im Gegenteil. Auf der anderen Seite, bei den radikalen Linken, vor allem bei den ununterwerfbaren Französinnen, wird die Klassenanalyse und der Antiimperialismus unterdessen eher aus Tradition gepflegt, als dass das politische Programm kurz-, mittel- und längerfristige Perspektiven aufzeigen könnte; aber diese Schwierigkeit ist ebenfalls nicht frankreichspezifisch.

Insgesamt gilt Frankreich als durch und durch modern und liberal, bis auf die paar Herde und Horden von Islamisten in einigen Vorstädten, von denen man im Moment nicht besonders viel hört; das kann sich selbstverständlich jederzeit wieder ändern. Der Islamismus erscheint hier in erster Linie als Problem der gescheiterten Integration, vor allem von Migrantinnen aus den ehemaligen Kolonien; aus der Distanz hat man den Eindruck, dass es der Durchschnittsbevölkerung deutlich wichtiger war, das persönliche Wohlergehen zu fördern, als dass ein republikanisches Bewusstsein für diese Integration vorhanden gewesen wäre. Zum persönlichen Wohlergehen gehören laut Cliché auch die sexuellen Freizügigkeiten, über welche berühmte Klageweiber wie Michel Houellebecq lauthals lamentieren und damit eine Menge Kohle machen und viel Aufmerksamkeit einheimsen, und auch hier weiß ich nicht, ob das wirklich gerechtfertigt ist. Denn die meisten Französinnen und Franzosen sind, wie gesagt, ganz einfach moderne Menschen, die sich von normalen Deutschinnen und Italienerinnen oder Spanierinnen und Niederländerinnen nicht wesentlich unterscheiden. Höchstens darin besteht noch ein Unterschied, dass es im ganzen Land weite Landstriche hat, um die man sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht wirklich gekümmert hat und die es eigentlich wert wären, eine innere Kolonisation in die Wege zu leiten.

Das CIA Fact Sheet zu Frankreich weist eine Bevölkerung von 67.8 Millionen Personen aus, deren ethnische Zugehörigkeit als keltisch-lateinisch angegeben wird neben ein paar Minderheiten wie Slawen, Nordafrikanerinnen, Indochinesinnen, Baskinnen – und Teutonen. Die Länder­bericht­er­statt­erin für Frankreich ist da offenbar sehr stark historisch belesen, dass sie die paar Elsässerinnen als Teutonen bezeichnet, ganz abgesehen vom keltischen Element, das aus der Mehrheit bis auf ein paar Regionen in der Bretagne und in der Normandie nicht erst seit vorgestern definitiv ver­schwun­den ist. Wer aber, möchte man die Berichterstatterin fragen, waren die für den Landesnamen ver­antwortlichen Franken? Für Deutschland jedenfalls weist das Fact Sheet die 80 Millionen Einwohnerinnen keineswegs als Teutonen aus, sondern als Deutsche. Das ist beruhigend.

Über 80% der Bevölkerung lebt in Städten, wobei Paris mit seinen 11 Millionen Einwohnerinnen mit großem Vorsprung an der Spitze steht vor dem zweitplatzierten Lyon mit 1.6 Millionen und dem drittplatzierten Marseille, das zusammen mit Aix-en-Provence 1 Million auf die Beine bringt. In Deutschland steht die Urbanisierungsquote etwas tiefer bei 77.5%, aber immer noch ungefähr im gleichen Bereich. Die Lebenserwartung liegt in Frankreich bei 79.31 Jahren für Männer und 85.61 Jahren bei Frauen, die Geburtenrate bei 2.04 Kindern pro Frau. Erneut zum Vergleich die Werte für Deutschland: Lebenserwartung der Männer 78.93 Jahre, für Frauen 83.8 Jahre, also unwesentlich niedriger, wogegen die Geburtenrate krass tiefer liegt bei 1.48 Kindern pro Frau. Die Ausgaben für das Gesundheitswesen machen in Frankreich 11.3% der gesamten Wirtschaftsleistung aus, in Deutschland 11.5%, auf 1000 Personen kommen in Frankreich 3.27 Ärztinnen und 6 Spitalbetten, in Deutschland sind es 4.25 Ärztinnen und 8 Spitalbetten.

Beim wirtschaftlichen Überblick klassiert das CIA Fact Sheet Frankreich als diversifizierte moderne Marktwirtschaft mit staatlicher Präsenz in verschiedenen strategischen Sektoren. Ein sozialer Ausgleich werde durch Gesetze und Steuern und Sozialausgaben geschaffen; daneben handle es sich um das meistbesuchte Land auf der Welt. Das Bruttoinlandprodukt zu Kaufkraft­pari­tät lag im Jahr 2017 bei 2.86 Billionen US-Dollar, pro Kopf bei 44'100 Dollar; Exporten von 550 Milliarden Dollar standen Importe von 600 Milliarden gegenüber. Die Jugendarbeitslosigkeit wird vom Fact Sheet mit 19.6% ausgewiesen

Wie gesagt: ein völlig normales Land, das mit einem reichen Angebot tatsächlich massenweise nicht Terroristinnen, sondern Touristinnen aus der ganzen Welt anlockt, wie das Fact Sheet ganz richtig festhält, in letzter Zeit nicht mehr nur nach Paris und an die Côte d'Azur, sondern vermehrt an die kühlen Strände der Bretagne und der Normandie. Die Freundinnen der Klassenkämpfe dagegen finden dort im Moment nicht viel Attraktionen; Unruhen und alle Sorten von Bewegungen und Empörten gibt es sehr wohl, aber eine ideologische Leitlinie ist für mich praktisch nicht mehr zu erkennen. Macht nichts; auch in dieser Beziehung kann man ruhig mal eine Pause einlegen.

Kommentare
02.09.2021 / 18:10 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 2.9.. Vielen Dank!