„Menschen als Waffe“ – Ein Kommentar

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Zunächst die Fakten: Tausende Menschen sitzen derzeit an der Grenze zwischen Belarus und Polen fest. Dort unter freiem Himmel herrschen, im kontinentalen Klima des November, eisige Temperaturen.
Schauen wir uns nun an, was in der hiesigen Presse- und Medienlandschaft über diese Situation verlautbart wird: Der belarusische Präsident Lukaschenko betätige sich als „Schlepper“, weil staatliche Behörden den Flüchtlingen offensichtlich die Reise bis an die EU- bzw. polnische Grenze erleichtern. Offenbar ist das angestrebte Reiseziel der in Eiseskälte schutzlos ausharrenden Menschen komplett unwichtig, der hiesigen Berichterstattung sind sie bloß willenlose Werkzeuge eines Bösewichtes. Tatsächlich dienen sie beiden Konfliktparteien, der Regierung Polens ebenso wie der von Belarus, gleichermaßen als Manövriermasse, das ist zynisch genug. Deutschland und der Rest der EU übt sich in gesalbten Worten, ohne aber die gebotene Hilfe tatsächlich zu bewerkstelligen. Es heißt, hier würden „Menschen als Waffe“ mißbraucht. Wer so redet, offenbart damit nicht nur, daß ihm jegliche Humanität abhanden gekommen ist, sondern darüberhinaus, daß sie auch schon gar nicht mehr vorgeschoben, sondern offen dementiert ist. Wieso sollen – und wie können – mittellose Flüchtlinge Waffen sein? „Waffen“ können die schutzlosen Menschen höchstens sein, um wahlweise der heiligen deutschen Volkswirtschaft oder dem polnischen Fiskus Schaden zuzufügen – oder dem gesunden Volksempfinden empathieloser Wutbürger. So ist der Wortgebrauch denn wohl auch ganz unverhohlen gemeint. Wer Menschen „Waffen“ nennt, hat mehr über sich selbst preisgegeben als über die Lukaschenkos und Erdogans dieser Welt.

Dauer: 5'20 Minuten

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mp3, 80 kbit/s, Mono (48000 kHz)
Upload vom 15.11.2021 / 17:35

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Kultur, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Redaktion Sachzwang FM
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 15.11.2021
CC BY-NC-SA
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Skript
Der Kommentar im vollständigen Wortlaut:

Schauen wir uns zunächst die Fakten an, nüchtern und leidenschaftslos: Tausende Menschen, seien dies Flüchtlinge, „Geflüchtete“ oder anderweitig reisende, sitzen derzeit an der Grenze zwischen Belarus und Polen fest. Dort unter freiem Himmel herrschen, im kontinentalen Klima des November, eisige Temperaturen. Die Grenze zwischen beiden Ländern ist gleichzeitig eine Außengrenze der Europäischen Union (EU). Was humanitäre Hilfe betrifft, hält sich der belarusische Staat ebenso vornehm zurück wie der polnische. Polen hat den Grenzverlauf martialisch mit Stacheldraht-Barrieren aufgerüstet („gesichert“). Die EU hält sich – im internationalen Vergleich und „nach zwei Weltkriegen“ – viel auf ihre moralischen und humanitären Werte zugute, nicht umsonst gilt in den meisten Staaten ein Recht auf politisches Aysl oder auch auf subsidiäre Hilfe z.B. für Bürgerkriegs- oder Elendsflüchtlinge. Die aktuelle polnische Regierung (wie auch die Ungarns oder Kroatiens) ist einschlägig dafür bekannt, daß seit einigen Jahren Grundrechte geschliffen und Rechtsstaatlichkeit autoritär ausgehöhlt wird.
Schauen wir uns nun an, was beinahe unisono in der hiesigen Presse- und Medienlandschaft über diese Situation verlautbart wird: Der belarusische Präsident Lukaschenko betätige sich als „Schlepper“, weil staatliche Behörden den Flüchtlingen offensichtlich die Reise bis an die EU- bzw. polnische Grenze erleichtern. Schlepperei, so weiß das Lexikon, ist das „wiederholte, gesetzwidrige Einschleusen von Menschen“. Eine solche – rechtspositivistische – Definition macht sich automatisch den juristischen Rahmen des menschenfreundlichsten wie auch des menschenfeindlichsten Regimes zueigen, taugt also rein gar nichts zur moralischen Bewertung dessen, was – völlig willkürlich – entweder humanitär oder aber illegal zu nennen wäre, je nachdem, ob die betreffende Migration erlaubt oder verboten, erwünscht oder unerwünscht ist.
Offenbar ist das angestrebte Reiseziel der in Eiseskälte schutzlos ausharrenden Menschen komplett unwichtig, der hiesigen Berichterstattung sind sie bloß willenlose Werkzeuge eines Bösewichtes. Tatsächlich dienen sie beiden Konfliktparteien, der Regierung Polens ebenso wie der von Belarus, gleichermaßen als Manövriermasse, das ist zynisch genug. Deutschland und der Rest der EU übt sich in gesalbten Worten, ohne aber die gebotene Hilfe tatsächlich zu bewerkstelligen; folgerichtig sind die Menschen auch den zertifizierten Menschenfreunden in Europa nur Manövrier- und Räsoniermasse. Wenn nun die deutsche Presse schreibt, „Lukaschenko schickt Flüchtlinge“, dann erinnert das nicht zufällig an den mittelalterlichen Geisteshorizont von Fantasy-Freunden: Sauron schickt Orks, der internationale Finanzjude schickt Bolschewisten, Luzifer schickt eine Heuschreckenplage, der Rotchinese schickt Coronaviren, Nosferatu schickt Wölfe und Fledermäuse. Der deutschen Suggestion kommt dabei zugute, daß der Name des belarusischen Präsidenten einem Anagramm des Wortes Schurke ähnelt.
Den Abschuß stellt aber die wiederholt aufgeschnappte Rede dar, hier würden „Menschen als Waffe“ mißbraucht. Wer so redet (und denkt), offenbart damit nicht nur, daß ihm jegliche Humanität abhanden gekommen ist, sondern darüberhinaus, daß sie auch schon gar nicht mehr vorgeschoben, sondern offen dementiert ist. Waffen verletzen oder töten sogar, wieso sollen – und wie können – mittellose Flüchtlinge Waffen sein? Jeder dieser Menschen eine Waffe, der Schutz sucht oder die „Einwanderung in unsere Sozialsysteme“ (Seehofer) bezweckt? Was freilich „bis zur letzten Patrone“ zu unterbinden sei (wie Seehofer sich 2011 nicht schämte zu formulieren)? „Waffen“ können die mittellosen Menschen höchstens sein, um wahlweise der heiligen deutschen Volkswirtschaft oder dem polnischen Fiskus Schaden zuzufügen – oder dem gesunden Volksempfinden empathieloser Wutbürger. So ist der Wortgebrauch denn wohl auch ganz unverhohlen gemeint. Man hat sich einen bornierten volks- oder betriebswirtschaftlichen Standpunkt oder gleich den der offenen Menschenverachtung zueigen gemacht. Wer Menschen „Waffen“ nennt, hat mehr über sich selbst preisgegeben als über die Lukaschenkos und Erdogans dieser Welt.