Es gab mehr als ein Menetekel vor der großen Corona-Welle

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Die deutsche Politik sieht sich im November ebenso plötzlich wie unvorbereitet von einer Corona-Flutwelle überrollt. Nur leider stimmt das nicht. Der Kommentar zeichnet nach, wie wir alle in diese Lage gekommen sind.
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06:55 min, 6500 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (48000 kHz)
Upload vom 25.11.2021 / 17:14

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Serie: Mittagsmagazin
Entstehung

AutorInnen: Jan Keetman
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 25.11.2021
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Niemand konnte das wissen, dass die Infektionszahlen Mitte Oktober plötzlich so hochgehen würden. Wir wussten nicht, dass wir eine Booster-Impfung brauchen werden. So und so ähnlich erklären führende Politiker*innen, dass das Land völlig unvorbereitet in die vierte Corona-Welle geschlittert ist. Doch dass es wahrscheinlich so kommen würde wie es nun gekommen ist, hätten alle Verantwortlich wissen müssen. Ein kleiner Rückblick:

Mai 2021: Bei einer Kohortenstudie wird festgestellt, dass der Antikörperspiegel bei Personen über 80 Jahren 10 bis 11 Wochen nach der 2. Impfung um deutlich mehr als die Hälfte zurückgegangen ist. Die Studie bezieht sich auf Fälle, in denen die Erst- und Zweitimpfung nahe beieinander lagen. Außerdem sind die Antikörper nur ein Teil der Immunreaktion des Körpers. Trotzdem macht es die Studie wahrscheinlich, dass eine Boosterimpfung im Spätsommer und Herbst notwendig wird. Im Juli bestätigt eine Studie von Pfizer in den USA einen starken Rückgang auch bei Jüngeren.

5. Juli 2021: Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht vorab online einen Artikel mit der Überschrift: „Welche Impfquote ist erforderlich, um Covid-19 zu kontrollieren?
Im Fazit der Studie heißt es, eine vierte Welle im Herbst und Winter sei unwahrscheinlich, wenn bei über 60-jährigen eine Impfquote von 90 % und bei 12- bis 59-jährigen eine Impfquote von 85 % erreicht werde und weitere Maßnahmen ergriffen würden. Gleichzeitig warnt das RKI dringend vor einer Überlastung der Intensivstationen, falls diese Quoten nicht erreicht werden. Auch wird darauf hingewiesen, dass eine dritte Impfung im Herbst notwendig werden könnte.

Die genannten Impfquoten werden in den Medien häufig zitiert. Dass sie offensichtlich verfehlt werden, hat dann aber keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen.

13. Juli: Angela Merkel besucht das RKI und betont in Abgrenzung zu Macron, in Deutschland werde es keine Impfpflicht geben

14. Juli: Das Bundeskabinett will 200 Mio. Euro für Luftfilter an Schulen und Kitas bereitstellen. Bei 650 000 Klassenzimmern im Land ist das nicht üppig. Allerdings ist ohnehin nur ein kleiner Teil förderfähig. Am 21. September stellt sich heraus, dass noch kein Euro abgerufen wurde. Einen Monat haben Bund und Länder über die Verwaltungsvereinbarung verhandelt, bis dato haben erst 8 von 16 Ländern unterschrieben.

Ende August: Markus Söder sagt mit Hinweis auf eine Impfquote von 60 %, es werde keinen Lockdown mehr geben.

7. September: Kanzlerkandidat Olaf Scholz sagt in der ARD-Wahlkampfarena: „Corona ist ja bald vorbei“.

15. September: Nach Änderung des Infektionsschutzgesetzes soll die Hospitalisierungsrate der wesentliche Maßstab für Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche Covid-19 sein. Es werden aber keine Grenzwerte und keine Maßnahmen festgelegt. Dies geschieht erst am 18. November unter erheblichem Druck durch das Virus selbst. Kritisiert wird die Fokussierung auf die Hospitalisierung von Anfang an auch deshalb, weil sie ein nachlaufender Indikator ist. Wer erkrankt landet nicht sofort in einer Klinik und von Anfang an war bekannt, dass es einen erheblichen Meldeverzug gibt. Letztlich heißt das Insistieren auf der Hospitalisierung, dass nichtmehr die Krankheit selbst, sondern die maximale Belastbarkeit des deutschen Gesundheitssystems zum Maßstab wird. So lange auf Intensiv noch Betten frei sind, kein Problem.

Ende September: die letzten Impfzentren werden geschlossen, weil der Bund seine Beteiligung an der Finanzierung einstellt. Zwar sollen die Impfzentren notfalls rasch wieder eröffnet werden, daran dass das qualifizierte Personal hierfür nicht jederzeit rasch verfügbar ist, denkt man nicht. Die Boosterimpfungen hatte man wohl vergessen. Die Schließung der Impfzentren bestärkt außerdem den Eindruck, es sei im Grunde vorbei mit Covid-19.

1. Oktober: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Deutsche Lehrerverband lehnen die Aufhebung der Maskenpflicht an Schulen ab. Die Länder machen es trotzdem, NRW sogar noch am 1. November.

Spät im November: Noch immer wurde kein Euro für die Luftfilter abgerufen. Das liegt zum Teil an der Bürokratie der Länder. Einige Gemeinden haben bereits Filter angeschafft, müssen das Geld aber vorstrecken. Eine Recherche der Taz zeigt, dass der neue Finanzminister den größten Teil der 200 Mio. wohl behalten kann. Aber so war es nicht gedacht. Die Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen gehen derweil durch die Decke.

Spät im November: Nachdem es ein Mantra der deutschen politischen Klasse war, eine Impfpflicht grundsätzlich auszuschließen, wird plötzlich eine allgemeine Impfpflicht gefordert. Dabei kann sich jede und jeder ausrechnen, dass sie zu spät kommt und nicht gerade einfach durchzusetzen ist. Naja, vielleicht ist es auch gut, dass sich die Leute dran gewöhnen, als die Anschnallpflicht im Auto kam, ist ja seinerzeit auch das halbe Land schier durchgedreht, musste sich halt dran gewöhnen. Ganz allmählich ist auch wieder von einem Lockdown die Rede. Auch das wurde im Sommer 2021 wie schon im Sommer 2020 unzählige Male ausgeschlossen. Merkel findet zwischen all ihren Abschiedsbesuchen beim Vatikan und sonstwo mal Zeit, ihren Pressesprecher sagen zu lassen, dass wir uns hierzulande auf dem Weg in eine Notlage befinden wie wir sie noch nie hatten. Kam ja alles ganz plötzlich. Von ihrem höchstwahrscheinlichen Nachfolger Olaf Scholz hört man weiter so gut wie nichts zur Corona-Krise. Stand ja auch nicht im SPD-Wahlprogramm. Offenbar fühlt sich weiter niemand so richtig verantwortlich in der Krise.

Einziger Lichtblick: Die Ampel will nun einen Krisenstab einrichten, etwas was der alten Regierung in fast zwei Jahren nicht eingefallen ist. Es wirkt aber etwas aufgesetzt, denn gerade erst hat man mit dem Auslaufen der Epidemischen Notlage von nationaler Relevanz, Kompetenzen an die Länder abgegeben. Und ob man sich Karl Lauterbach als Gesundheitsminister antun will, ist auch noch nicht so richtig klar.

Eigentlich ist so ein Virus ja ein dummes Ding. Aber um die deutsche Politik beim Schach zu besiegen müsste es nur den Schäferzug lernen: Bauer vor, Dame nach rechts, Läufer nach links, Dame schlägt Bauer und setzt den König matt. Würde beim hiesigen Staat immer wieder funktionieren. Über den allernächsten Zug hinaus, denkt da ja niemand.

Kommentare
26.11.2021 / 18:01 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 26.11.. Vielen Dank!