Weihnacht ... Charity ... Benefit ... Wohltätigkeit ... Drei, vier Songs von 1984/85 im Vergleich

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Weil (wie schon anno 2020) „diesmal Weihnachten so anders ist“, ist Weihnachten auch im Hörsturz anders, nämlich präsenter als sonst.
Während es also dieses Jahr überall etwas weniger weihnachtet als sonst, weihnachtet es hier im dialektischen Musikmagazin ausnahmsweise etwas mehr:
Und zwar werden wir den Benefit-Heulern des Winters 1984/85 auf den Zahn fühlen.
Was ästhetische und noch mehr: ideologische Fragen betrifft. Wir gehen 37 Jahre* back in time:

1. Akt:
Band Aid „Do they know it's christmas“
(Nov. 1984)

2. Akt:
USA For Africa „We are the world“
(Jan. 1985)

3. Akt:
Band für Afrika „Nackt im Wind“
(Jan. 1985)

4. Akt:
Hear 'n' Aid „Stars“
(rec. Mai 1985, VÖ Jan. 1986)

Die einzig richtige Frage bei dem selbstreferentiellen Spektakel der Mainstream-Musiker, die doch für das Gute streiten, stellt – fünf Jahre später – die britische Band I,LUDICROUS.

I, Ludicrous „How much money should I give to charity“
(1990)


„Nicht die Weichheit, sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig."
(Adorno/Horkheimer)


*) im Audio-Beitrag ist die Rede von 36 Jahren (statt 37), dies erklärt sich dadurch, daß das Feature bereits vor einem Jahr produziert wurde.


Dauer: 25 Minuten

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Audio
25:26 min, 23 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (48000 kHz)
Upload vom 20.12.2021 / 17:48

Dateizugriffe: 16

Klassifizierung

Beitragsart: Feature
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Religion, Musik, Jugend, Kultur
Serie: Hörsturz - dialektisches Musikmagazin
Entstehung

AutorInnen: der radiotrinker
Radio: Querfunk, Karlsruhe im www
Produktionsdatum: 20.12.2020
CC BY-ND-NC
Creative Commons BY-ND-NC
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
1. Akt:
Band Aid „Do they know it's christmas“
(Nov. 1984)
Rein musikalisch ist „Do they know it's christmas“ noch derjenige der folgenden Benefit- und Weihnachtssongs, der weder mit bizarrem Zuckerguß aufwartet noch mit unglaubwürdiger Sozialkritik sich in radikale Pose wirft. Muß daran liegen, daß das Lied aus dem Stammland der Popmusik kommt, wo man noch am längsten die Nachwehen jener musikalisch-kritischen Explosion namens New Wave auch im Mainstream spüren und hören konnte: Großbritannien. Hier geht es also einigermaßen dezent und halbwegs nachdenklich zu, außerdem gibt es gedämpfte Weihnachtsstimmung.


2. Akt:
USA For Africa „We are the world“
(Jan. 1985)
Den Höhepunkt der moralischen Hybris markiert allerdings, wie sollte es bei der christlich-konservativen Dominanz in Reagans USA der 80er anders sein, der Songbeitrag aus den Vereinigten Staaten; er schießt wirklich den Vogel ab:
Soo gut gelaunt ist man hier angesichts der verhungernden Kinder in Afrika, daß man ein vollends selbstgerechtes und selbstgenügsames Machwerk aufgenommen hat, und das in hemmungslosem Dur. Unbekümmert schmettert der Chor die Herzenswärme, als wenn das den darbenden Menschen, den starving children irgend helfen würde. War das britische Stück – immerhin mit einem Anflug von Problembewußtsein – angemessenerweise in mobilisierendem mid-tempo gehalten, so verstört „We are the world“ mit zufriedener Langsamkeit, so als könne man sich entspannt zurücklehnen, so als wäre den hungernden Menschen schon geholfen und alle wären gerettet.
Doch muß man das wohl dialektisch sehen: Ein Stück in moll – oder gar ein atonales – hätte möglicherweise niemand hören wollen, damit hätte man also auch nicht die nötigen Dollars einnehmen können. Und ergo wäre niemandem geholfen worden; was doch das Ziel war, das Helfen! Je mehr Gefälligkeit also, desto mehr Umsatz, desto mehr Hungerhilfe. Und außerdem unterschätzt man, wenn man sich am inbrünstigen Dur im Benefit-Song stört (und das ganze für ideololgisch, ja bigott hält), die Tradition des unverkrampften Gospels in den USA, zu dieser musikgewordenen Zuversicht gibt es hier schlicht kein Äquivalent.
Die groteske Diskrepanz zwischen an Hunger verreckenden Menschen und jubilierenden Rock- und Popstars in diesem Machwerk fiel seinerzeit sogar dem Mainstream selbst auf und verdarb vielen den Appetit, natürlich aber wie immer ohne verbindliche Folgen. Ein Zuwachs an glaubwürdiger radikaler Gesellschaftskritik, die nicht vor der Verfaßtheit des eigenen Alltags halt macht, war nicht zu verzeichnen. Vielmehr war die neoliberale Ideologie, daß jeder seines Glückes (und vor allem Unglückes) Schmied sei, 1985 längst in allen maßgeblichen Ländern „alternativlos“ durchgesetzt, wie man heute (über ein drittel Jahrhundert später) immer noch konstatieren muß, ohne doch wirklich weiter zu sein als damals.
Der springende Punkt, der das Lied so verstörend novelty-mäßig macht, ist der: Die Musikerinnen und Musiker scheinen nicht im Ansatz einen Begriff davon zu haben, daß die Menschen ja nicht deshalb leiden und hungern und sterben, weil das globale System namens Konkurrenzgesellschaft nicht gut genug funktioniert – sondern weil es so reibungslos funktioniert.
Die musikalische Form des Rührstücks offenbart eine Ignoranz, die an Königin Marie Antoinette erinnert, die im Vorfeld der Französischen Revolution gesagt haben soll, „Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch Kuchen essen!“
Und nich heute werden ja oft die Hungerkatastrophen des Weltmarkts bejammert wie unvorhersehbare Naturkatastrophen.
Den eminent propagandistischen Charakter des schnulzigen Liedes hat aber aufs Treffendste eine israelische Satiregruppe bloßgestellt, als vor 10 Jahren, anno 2010, aus “We are the world” „We con the world“ („Wir verarschen die Welt“) wurde. Die Rolle der so selbstgerecht, pardon: selbstlos Helfenden fällt in dieser Persiflage den Islamfaschisten der Hamas zu, die sich hier säuselnd als Menschenfreunde in Szene setzen. Anlaß war die vermeintliche Hilfsaktion der sog. Gaza-Flotille anno 2010, der es doch nur darum ging, möglichst öffentlichkeitswirksam die israelische Seeblockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen.


3. Akt:
Band für Afrika „Nackt im Wind“
(Jan. 1985)
Der zeitgleich erschienene deutsche Beitrag scheint auf der Hut gewesen zu sein vor allzu offenem „amerikanischem Kommerz“, hier gibt man sich etwas ernster. Doch wie gutherzig Deutsche im allgemeinen sind, weiß die Welt 1985 (40 Jahre nach dem Niederringen des Nazi-Faschismus) noch ganz genau; weshalb natürlich die deutsche Popmusik in erster Linie immerhin aus Juso-Rock besteht ... noch, 1984/85. Hier gibt’s noch kein Modern Talking, kein Camouflage, kein Snap – sondern BAP, Lindenberg, Ina Deter und ein paar Überbleibsel der seit 2 Jahren mausetoten Neuen Deutschen Welle.
Der Text ist, dem Juso-Rock-Habitus gemäß, betont ernsthafter gehalten als der US-Zuckerguß, Mainstream ist er gleichwohl. Interessanterweise sind die bedrückenden Strophen in moll gehalten, bevor auch hier – in den Strophen nämlich – wieder das versöhnlerische Dur einzieht. „Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.“ … schrieb Adorno und hatte wohl Recht. Die Lüge besteht diesmal darin, sich selbst einzureden, man würde den Menschen aufrichtig und konzertiert helfen wollen. Egal seien sie doch nur den anderen.
Und auch die Bandnamen scheinen – wie die musikalischen Beiträge – dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu genügen. Viele Köche verderben offenbar den Brei, weshalb dann so nichtssagende, un-originelle Namen wie BAND AID oder U.S.A. FOR AFRICA oder BAND FÜR AFRIKA dabei herauskommen.


4. Akt:
Hear 'n' Aid „Stars“
(rec. Mai 1985, VÖ Jan. 1986)
Und ein Jahr später wollten auch die HardRocker und Mettler nicht mehr abseits stehen: Ihr Projekt hieß originellerweise HEAR'n'AID („höre & helfe“), und musikalisch ist das ganze noch nicht mal unerträglich. Im sich dahinschleppenden Hardrock, der ja Urenkel des Blues ist, hören wir immerhin noch eine Ahnung von Elend und Verzweiflung, wenn auch weniger von deren gesellschaftlicher Produziertheit.
Am albernsten mutet sicher der Refrain an, „We're stars“! Ganz so, als wollte man – in einem Akt satirischer Darbietung – die Selbstgerechtigkeit der Zeile „We are the world“ noch übertreffen.
Aber ein paar Songzeilen treffen doch ins Schwarze … Wenn sie also singen „But singers and songs will never change it alone / We are calling you, calling you“, so kann man hier nur beipflichten.


Die einzig richtige Frage bei dem selbstreferentiellen Spektakel der Mainstream-Musiker, die doch für das Gute streiten, stellt – fünf Jahre später – die britische Band I,LUDICROUS.

I, Ludicrous „How much money should I give to charity“
von der LP „Light & Bitter“ (rodney, rodney! records, 1990)


Adorno/Horkheimer: „Nicht die Weichheit, sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig.
Wie die stoische Apathie, an der die bürgerliche Kälte – das Widerspiel des Mitleids – sich schult, dem Allgemeinen (von dem sie sich zurückzog) noch eher die armselige Treue hielt, als die teilnehmende Gemeinheit (die dem All sich adaptierte), so bekannten, die das Mitleid bloßstellten, negativ sich zur Revolution. Die narzißtischen Deformationen des Mitleids – wie die Hochgefühle des Philantropen und das moralische Selbstbewusstsein des Sozialfürsorgers – sind noch die verinnerlichte Bestätigung des Unterschieds von arm und reich.“
(Dialektik der Aufklärung, 1944)