Albert Jörimann - Zwanzigeinundzwanzig in Afrika

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Zum Jahreswechsel veröffentlichte die Redaktion von «Le Monde Afrique» auf ihrer Webseite eine Auswahl von vierzehn Artikeln aus dem letzten Jahr, die ihren Autorinnen besonders viel bedeu­teten.
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12:08 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.01.2022 / 12:02

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.01.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Zum Jahreswechsel veröffentlichte die Redaktion von «Le Monde Afrique» auf ihrer Webseite eine Auswahl von vierzehn Artikeln aus dem letzten Jahr, die ihren Autorinnen besonders viel bedeu­teten. Frédéric Bobin schrieb über die autokratischen Tendenzen des tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed, Noé Hochet-Bodin spürte den Kämpfen zwischen den Tigray-Rebellen und der äthiopischen Armee nach, Laurence Caramel beschrieb die Widersprüche, denen der britische Wissenschaftler und Umweltaktivist Lee White als Klima- und Umweltminister in Gabun ausgesetzt ist, namentlich als Teil der autoritären und kleptokratischen Regierung von Ali Bongo, Mathilde Boussion erzählte von «Kabelfressern» im südafrikanischen Johannesburg, nämlich von Kupferdieben, welche die Fahrleitungen der Eisenbahn abmontieren, weshalb 80% des Netzes in der entsprechenden Provinz lahmgelegt sind; Morgane Le Cam beschäftigte sich mit der Frage, ob man im Mali mit den Dschi­ha­disten einen Dialog führen könne oder solle, unter anderem vor dem Hintergrund des Abbaus der französischen Militärpräsenz im Land; die Odyssee der Vergessenen und Unsichtbaren, nämlich der afrikanischen Frauen auf ihrem Weg nach Europa zeichnete Mustafa Kessous nach; Sandrine Ber­thaud-Clair verfasste ein Porträt der kamerunischen Feministin Marthe Wandou, die im Dezember mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden war; Sophie Douce befasste sich mit der Frage nach Gerechtigkeit und Justiz in Burkina Faso, namentlich im Zusammenhang mit den isla­mis­tischen Anschlägen im Land; Pierre Lepidi porträtierte die Genozid-Gedenkstätte Gisozi im ruandischen Kigali, in einem Land, in dem auch heute noch überall unbekannte Tote aus der Zeit des Bürgerkrieges ausgegraben werden; der Titel von Josiane Kouagheus Beitrag heißt «In Kame­run setzen die Pygmäen alles auf die Ausbildung, um ihren Urwald vor der Zerstörung zu schüt­zen»; sie beziffert den Verlust an unberührtem Regenwald im Jahr 2020 in Kamerun auf über 100'000 Hektaren. Coumba Kane erzählte von Frauen und Kindern in den Goldminen der Demo­kra­ti­schen Republik Kongo und von sexueller Gewalt und Prostitution; Marie de Vergès feierte den Erfolg einer lokalen Umweltschutzgruppe in Kenya, konkret in Lamu am indischen Ozean, die mit Unterstützung verschiedener nationaler und internationaler Organisationen den Bau eines riesigen Kohlekraftwerkes verhindert hat; Elliott Brachets Artikel behandelte die Opposition gegen die Militärjunta im Sudan, die verschiedenen Massaker an zivilen Demonstrantinnen, das letzte am 17. November des letzten Jahres in Jebel Moon im Darfur und die Kundgebungen gegen die Macht­ha­ber. Olivier Herviaux zeichnete für die Kulturberichterstattung mit der Reportage über den Foto­gra­fen Omar Victor Diop in Dakar, der im November an der Fachausstellung Paris Photo seine neue Serie «Allegoria» vorgestellt hatte, eine Arbeit über Umwelt und Natur, die man bald nur noch in den Handbüchern für Naturgeschichte betrachten könne.

Afrika 2021 in vierzehn Tableaux – ein Reigen der Depression; noch nicht mal der obligate Kultur­teil mit den Fotografien kommt um die Umweltzerstörung herum. Nun – ich bin sicher, dass alle vierzehn Berichte seriös recherchiert und hoch wahrheitshaltig sind; ich spreche an dieser Stelle eben­falls hin und wieder von den verschiedenen Katastrophen und Kapitalisten, welche diesen Kon­ti­nent befallen, nicht zuletzt deshalb, weil ich eben regelmäßig einen Blick in «Le Monde Afrique» werfe. Und trotzdem erhalte ich hier und allgemein mit dieser solidarisch-kritischen Bericht­er­stat­tung, welche in hoher Kadenz Missstände aufdeckt oder auflistet, keine auch nur halbwegs ange­mes­sene Vorstellung von diesem Kontinent. Stattdessen liegt vor mir das Afrika-Bild des europäischen und sozial­demo­kratischen Medienkonsens. Der europäische Journa­lis­mus ist kritisch, bewegt sich aber stets im Einflussbereich von PR-Abteilungen, was bekanntlich nicht zuletzt in Frankreich ein großes Thema ist mit all den Milliardären, welche in Fernsehen und Zeitungen machen. Dahinter lauern nicht nur das Pressestrafrecht mit zahlreichen Klage­mög­lichkeiten, sondern auch ganz plumpe wirtschaftliche Druckmöglichkeiten, über die man sich mittlerweile nicht einmal mehr zu unterhalten pflegt. In Afrika dagegen können die engagierten Berufsleute mit dem großen kritischen Pinsel malen und die Stereotype des Antikolonialismus und der verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus bis in die kapillaren Strukturen der Gesellschaft hinein bedienen, bis hin zum post­ko­lo­nia­len ethnologischen Klischee. So publizierte «Le Monde Afrique» am 30. Dezember einen Artikel über eine bedrohte matriarchale Gesellschaft auf dem Bijagos-Archipel vor Guinea-Bissao. Abgesehen vom Wahrheitsgehalt, den ich auch hier nicht in Zweifel stelle, passt diese romantische Berichterstattung einfach allzu wunderbar in den gerade herrschenden Konsens, dass die kolonial-imperial-kapitalistisch-patriarchalen Strukturen das gesamte Welt-Elend verursacht haben, ja, eben, jetzt zerstören sie auch noch dieses kleine, übrig gebliebene Matriarchat im Atlantik.

Die Königinnen und Priesterinnen auf dem Bijagos-Archipel haben übrigens Nachwuchssorgen, weil die Girls seit mehreren Jahren zur Schule gehen und ein Leben in der Stadt und, wer weiß, im fernen Europa oder Amerika bevorzugen gegenüber dem Leben als Königin oder Priesterin unter den Bedingungen eines Matriarchates unter halt doch recht primitiven Lebensbedingungen.

Die wahre Geschichte und die ganze Realität des Kontinentes Afrika kenne ich sowieso nicht. Das Gebilde ist sowieso disparat: Der Norden bildet seit fünftausend Jahren einen wesentlichen Teil unserer Kultur, hat sie über weite Strecken geprägt und kann sie auch in Zukunft prägen, während südlich der Sahara im Lauf der Zeit verschiedene Königreiche entstanden und vergangen sind, die sich aber nie zu Strukturen verdichteten, welche die spätere Entwicklung einer Zentralmacht begünstigten, wie wir sie kennen oder wie wir sie in China und Japan sehen. In diesem Bereich findet gegenwärtig ein Aufbau von null auf statt, wobei «gegenwärtig» sicher mehr als fünfzig Jahre zurückreicht. Aus den Brückenköpfen der Kolonialzeit entwickelten sich spezifische Formen der Modernität, vor allem in Landwirtschaft und später im Bergbau, zum Teil auch mit der Ausbeutung von Erdölvorkommen; die industrielle Phase ist mir mit Ausnahme Südafrikas unbekannt, wobei es sie natürlich ebenfalls gibt, aber eben außerhalb meines Horizonts. Ich nehme die Perspektive Afrikas eher wahr als eine, welche recht schnell von der landwirtschaftlichen in eine digitale und Dienstleistungs-Gesellschaft wechselt, was zweifellos sehr eigenartige Ergebnisse hervorbringen muss. Und vor allem seine Zeit dauert. Selbstverständlich war die wichtigste Erfindung für den afrikanischen Kontinent die Mobiltelefonie, und was die mittelfristig für Konsequenzen haben wird, darüber spekuliere ich dann später.

Aber eigentlich halte ich die Entwicklung in Afrika für eine positive, sie beruht wie überall sonst auf der Welt auf Bildung und dem Streben nach Wohlstand und Glück auf der Grundlage des vorhandenen globalen Reichtums; und dass die Jungs und Mädels dies so tun, wie sie es für richtig halten und nicht so, wie ich es empfehlen würde, das ist konsequent und richtig. Und dass sie dabei Phasen durchlaufen, die uns in Europa als schmerzhaft und zum Teil widerwärtig erscheinen, damit haben wir uns abzufinden, will sagen: Wir sollten die afrikanische Entwicklung nicht in Begriffen des europäischen Entsetzens abhandeln. Was uns anderseits nicht davon abhalten soll, weiterhin «Le Monde Afrique» zu lesen. Oder die Jeune Afrique, in welcher Kevin Urama, der Vizepräsident der Afrikanischen Entwicklungsbank anfangs Jahr sagte: «Wir Afrikaner sind uns unserer Erfolge eigentlich gar nicht bewusst.» Und gleichzeitig meldet die Zeitung die Übernahme der Leitung der Afrikaunion durch Senegal beziehungsweise seinen Präsidenten Macky Sall. Auch auf institu­tio­neller Ebene gehen die Dinge vorwärts, auch wenn man oft den Eindruck hat, die Afrikaner:innen würden eher seltsame Kopien europäischer Institutionen anfertigen als selber welche entwerfen. Aber vielleicht ist es wie in der Physik: Die Naturgesetze kennen keine Landesgrenze und gelten in England genauso gut wie in Frankreich, obwohl England aus der EU ausgetreten ist. Und jetzt dies einfach auf Afrika gespiegelt. Oder so.

Manchmal muss man tiefer seufzen, zum Beispiel in der Frage der Atomenergie. 25 Jahre hat es gedauert zwischen Tschernobyl und Fukushima. Zehn Jahre nach Fukushima sind die Französ:in­nen, Finn:innen und weitere Trantüten wieder daran, auf die strahlenden Abfall produzierende Energieproduktion in der EU zu setzen, weil sie einen billigeren Ausweg aus der Klimakrise verspricht als die Herstellung von Alternativ­ener­gien. Wieder einmal bedaure ich, dass es keinen internationalen Ohrfeigen-Gerichtshof gibt und ich nicht dessen Präsident bin. Vielleicht tut uns die Natur oder die Technik den Gefallen und jagt das nächste Atomkraftwerk in die Luft, bevor die entsprechenden Richtlinien angenommen werden. Immerhin haben die Österreicher:innen angekündigt, bei Gericht gegen entsprechende Vorhaben auf EU-Ebene vorzugehen.
Dann haben wir noch gelesen, dass Nayib Bukele, der junge Präsident von El Salvador, sein Land zu einem Paradies für Krypto-Währungen machen will. Es gibt also auch noch Weltgegenden außerhalb des Kantons Zug, wo man den richtigen Fortschritt vorantreibt. Bitcoin ist in El Salvador auf jeden Fall bereits als offizielle Währung zugelassen neben dem US-Dollar. Die Partei Bukeles heißt folgerichtig «Nuevas Ideas» und versucht jetzt zur Abwechslung mal die Krypto-Strategie, um das Land aus der endemischen Misere zu reißen, welche das Trio El Salvador, Honduras und Guatemala seit Jahren prägt und viele Menschen in die Flucht treibt. Die Energiequelle für die Währung soll nicht ein neues Atomkraftwerk bilden, sondern die Gewinnung von Strom aus den Vulkanen Mittelamerikas, also aus Geothermie. Aus neutraler Sicht brummle ich zu diesem Projekt nur «Why not?», merke aber mit der reflexartig kritischen Objektivität gleich an, dass ich noch nicht sehe, welche Auswirkungen ein Krypto-Boom auf die sozialen Probleme im Land haben wird. Es heißt, dass es Bukele gelungen sei, ein Friedensabkommen mit den Straßengangs in der Hauptstadt zu schließen; das erscheint mir ein Fortschritt, der aber noch nicht ausreicht. Aber immerhin, mal was anderes.

Für Menschen mit einem Bedarf an intellektueller Ergänzungsnahrung, also an hoffnungsvollen Nachrichten neben den kritischen, empfehle ich die Webseite reasonstobecheerful.world, welche einhundertzweiundneunzig echte Fortschritte im Jahr 2021 auflistet, unter anderem die Meldung, dass 40'000 Coiffeursalons in den Vereinigten Staaten die in ihren Lokalen geschnittenen Haar-Abfälle zur Verfügung stellen, damit daraus Matten produziert werden, die man zur Bekämpfung von Erdöl-Verschmutzung einsetzen kann; sie sollen in der Lage sein, bis zum Neunfachen ihres Gewichtes an ausgetretenem Erdöl zu absorbieren. Ebenfalls aufgeführt wird das Projekt in Deutschland, bei dem 843 ausgeloste Personen ein Jahr lang ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten. Bei einem ähnlichen Experiment in Stockton in Kalifornien erhielten verschiedene Bewohner:innen in prekären Lebenslagen ein Grundeinkommen von 500 Dollar pro Monat, worauf der Anteil der Personen, die eine Vollzeit-Beschäftigung ausübt, um 12 Prozent zunahm. Was auch immer das für das Grundeinkommen bedeutet. Und dann ist da noch dieser Bericht über das italienische Dorf Camini in Kalabrien, dessen Einwohnerzahl auf 300 gesunken war und das jetzt dank dem Zuzug von Immigrant:innen und der Errichtung einer Landwirtschafts- und Handwerks-Genossenschaft wieder über 700 BewohnerInnen zählt. Oder die Meldung von Microsoft, dass die Arbeitsproduktivität um 40% zugenommen hat nach der Einführung der 4-Tage-Woche. Wobei letztere Meldung in einem oder in zwei Jahren noch überprüft werden muss, nehme ich an.