Albert Jörimann - Trauerspiel in Rot

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In der Januar-Ausgabe des «Monde Diplomatique» findet sich ein Dossier zur Linken in Europa, dessen Hauptartikel «Trauerspiel in Rot» übertitelt ist und den Charakter einer Enzyklika oder mindestens einer päpstlichen Bulle hat, stammt er doch aus der gemeinsamen Feder des Diplo-Direktors Serge Halimi und des Chefredakteurs Benoît Bréville.
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09:21 min, 21 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.01.2022 / 14:01

Dateizugriffe: 118

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 18.01.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
In der Januar-Ausgabe des «Monde Diplomatique» findet sich ein Dossier zur Linken in Europa, dessen Hauptartikel «Trauerspiel in Rot» übertitelt ist und den Charakter einer Enzyklika oder mindestens einer päpstlichen Bulle hat, stammt er doch aus der gemeinsamen Feder des Diplo-Direktors Serge Halimi und des Chefredakteurs Benoît Bréville.
Die beiden Herren geben ihrer Ernüchterung über den Niedergang dieser Linken Ausdruck, was insofern ein Verdienst ist, als dieser Niedergang in der Regel unterstellt, aber kaum einmal thematisiert wird. Einleitend stellen sie fest, dass die verschiedenen Strömungen innerhalb der linken Familie nicht mehr viel gemein­sam haben – der Hinweis wäre am Platz, dass dies spätestens seit der Spaltung in Kommunisten und Sozialdemokraten vor hundert Jahren der Fall ist, aber das wäre offenbar zuviel der Historie. Der Sündenfall der Linken wird hier nicht Sündenfall genannt, aber er existiert trotzdem, und zwar im Griff nach der Macht beziehungsweise in der Politik, sobald die Linke die Macht einmal erobert hatte. Zitat: «Zum einen ist die Linke nicht einfach dabei gescheitert, ihr eigenes Programm zu verwirklichen, sie hat vielmehr das ihrer Gegner umgesetzt. Und zum anderen erfolgte jedes Mal – so sie nicht vorschnell kapitulierte wie Präsident Hollande vom allerersten Tag seiner Amtszeit an – weder ein Staatsstreich noch der Einmarsch fremder Truppen, sondern die finanzielle Strangulierung.» Zur Illustration wird sogleich der Fall Griechenland aufgeführt mit der Syriza, die vor der Troika kapitulieren musste; sie steht also für die Le-Monde-Diplomatique-Chefs historisch auf gleicher Stufe wie François Hollande, nur dass sich der von Beginn weg nicht gegen die finanzielle Strangulierung gewehrt hat.

Nun ist das ein offensichtlicher Blödsinn, aber das Problem liegt tiefer, nämlich dort, wo behauptet wird, dass die Linke ein eigenes Programm hätte verwirklichen wollen. Das ist eine reine Behaup­tung. Tatsache ist, dass die revolutionäre Linke, also jene, welche den bürgerlichen Staat in einen sozialistischen umbauen wollte, in den letzten fünfzig Jahren niemals den Hauch einer Chance hatte, eine Mehrheitsregierung zu bilden, in welcher sie dieses Programm an die Hand hätte nehmen können. Die nichtrevolutionäre Linke dagegen, also die Sozialdemokrat:innen, haben in jenen Phasen, in welchen sie selber an der Macht waren, tatsächlich viele Bestandteile des Programmes ihrer Gegner:innen umgesetzt, sei es mit Hartz IV in Deutschland, bei der Deregulierung und so weiter; aber sie haben daneben auch sozialdemokratische Politik betrieben, also eine Politik eines gemäßigten Ausgleichs zwischen den gegensätzlichen Klassen und Interessen in der modernen Gesellschaft. Und vor allem: Wenn sie nicht an der Macht waren, haben ihre Gegner dieses Programm umgesetzt. Die letzten Jahrzehnte waren die Jahrzehnte der sozialdemokratischen Politik, welche oft von bürgerlichen Regierungen umgesetzt wurde.

Wie gesagt: eine revolutionäre Politik kam nie auch nur ansatzweise in die Nähe der Macht. Das kann man damit erklären, dass das etablierte System der Interessenlagen sich mit allen Mitteln dagegen wehrte – selbstverständlich, das braucht man nicht zu erklären. Aber dies allein reicht nicht aus. Die linke revolutionäre Linie hat sich deshalb nicht durchgesetzt, weil sie an den Realitäten scheiterte und konkret einfach nicht benennen konnte, welche Institutionen von Gesellschaft und Staat in revolutionärer Form neu zu schaffen wären und worin sie sich von den bestehenden sozialdemokratischen Institutionen unterscheiden; wie die Menschen unter revolutionierten Bedingungen zu ihrem Geld, ihren Waren und Dienstleistungen, zu Wohnungen, zu Mobilität und Bildung kommen sollten.

Ist auch keine einfache Aufgabe, solch ein Programm zu formulieren. Aus diesem Grund blieb die revolutionäre Linke immer wieder bei den Einkommens- und Vermögensunterschieden stecken, bei der ungerechten Verteilung, die sie kritisierte und womit sie in jedem Falle Recht hatte und hat, wie es die Zahlen belegen, die praktisch jeden Tag zwei Mal publiziert werden. Nur den Weg zur Umverteilung konnte sie nicht aufzeigen, weder auf nationaler Ebene, wo wirksame Steuerreformen immer wieder scheitern an der Drohung der reichen Menschen und ihrer Firmen, in ein anderes Land auszuziehen; somit würde sich eine internationale Regelung aufdrängen, und damit hatte die revolutionäre Linke erneut nichts am Hut bis auf ein paar griffige Parolen und einige publikums­wirksame Protestaktionen gegen globale Spitzentreffen. Schön, aber wirkungslos. Und diese Klassierung gilt somit für die gesamte Linke, für die revolutionäre ebenso wie für die sozialdemokratische. Schön, aber wirkungslos.

Bréville und Halimi greifen kurz die soziopolitischen Analysen des Wahlverhaltens nach Schichten von Thomas Piketty auf, ohne ihn als Quelle anzugeben, notabene. Piketty hat in seinem Schunken «Kapital und Ideologie» berechnet, dass sich die Wählerschaft der linken Parteien zwischen den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends von den proletarischen Schichten verlagert hat zu den akademischen. Wer will, kann hier noch anfügen: zu den akademischen Eliten; Bréville und Halimi fügen immerhin noch an, dass unterdessen fast ein Drittel der Bevölkerung über einen höheren Schulabschluss verfügt im Gegensatz zu den fünfziger Jahren, wo es nur etwa 5 Prozent waren. Und was bei dieser Debatte schon gar nie zu einem Argument gedeiht, ist der Lebensstandard, der heute in allen entwickelten Ländern drei, vier, fünf Mal so hoch ist wie in den fünfziger Jahren, und zwar auch für die Menschen mit tiefen oder prekären Einkommen. Dass es daneben immer noch Gruppen gibt, die in Armut leben, ist im Wortsinn ein Armutszeugnis; dahinter stecken nicht zuletzt die Probleme rund um die Migration. Darauf gehen Bréville und Halimi allerdings nicht ein; sie fügen Pikettys Diagnose von der Akademisierung der linken Wählerschaft noch die Verstädterung der gleichen Wählerschaft an, für Frankreich namentlich die Verpariserung, denn dort steigt der Wähler:innenanteil der Linken zusammen mit den Mietpreisen.

Die Analyse des Trauerspiels in Rot bringt nichts Neues und somit per Saldo überhaupt nichts. Am Schluss muss noch etwas Hoffnung her, so, wie man seinerzeit in die Syriza Hoffnung gesetzt hatte; jetzt ist es der neue linke Präsident in Chile, von dem man noch so wenig weiß, dass er sich als Projektionsfläche für all das eignet, was das Konstrukt einer roten Linken halt an Visionen hergibt. Schon jetzt kann man sagen, dass dieser Präsident solchen absurden Erwartungen nicht gerecht werden wird; schließlich hat er ein Land zu regieren, und zwar unter den Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie, was heißt, dass seine Entscheidungen wie in jedem anderen parlamentarisch-demokratischen Land auch der Genehmigung durch die Interessenvertretungen unterliegen. Das ist vielleicht der größte Knackpunkt in der ganzen Debatte: diese ewige praktische Demokratie, welche den Phantasie­vor­stel­lungen einer echten Volksdemokratie immer wieder in die Quere kommt.

In der gleichen Ausgabe des Monde Diplomatique habe ich gelesen, dass der Europäische Gerichtshof am 29. September des letzten Jahres ein Agrar- und ein Fischereiabkommen zwischen Marokko und der EU kassiert hat weil die Zustimmung des Volkes der Westsahara fehlte. Der EUGH hatte damit nicht nur den Vertrag annulliert, sondern auch die Frente Polisario als völkerrechtlich legitimierte Klägerin zugelassen. Das ärgert einerseits Marokko, wo die Auseinandersetzung um die Westsahara seit einiger Zeit wieder mit den Waffen ausgetragen wird; anderseits besteht ein Zusammenhang mit dem Konflikt mit Marokkos Nachbarstaat Algerien, welcher die Frente Polisario mindestens tendenziell unterstützt. Dort verschärft sich der Ton, sodass der Monde Diplomatique schon von einer Kriegsgefahr spricht. Ende Oktober hatte Algerien zum Beispiel die Erdgas-Pipeline geschlossen, durch welche seit 25 Jahren algerisches Erdgas über Marokko nach Spanien und Portugal fließt, eine Art von South Stream also; nun wird das Erdgas direkt über eine Mittelmeer-Pipeline nach Spanien geliefert, Marokko erhält keine Entschädigung für Durchleitungsrechte mehr. Ein Krieg zur Beilegung des Konfliktes – solche spätmittelalterlichen Wege gehen die beiden Kontrahenten hoffentlich nicht mit ihren jeweils ungefähr gleich starken Armeen. Es reicht ja schon, wenn die Aserbeidschaner:innen sich mit den Armenier:innen um Bergkarabach prügeln.

Aber kurz zurück zum Abgesang auf die Linke: Es versteht sich leider fast von selber, dass die beiden Spitzenvertreter des Monde Diplomatique kein Wort darüber verlieren, dass in Deutschland die SPD mit Bundeskanzler Olaf Scholz als eindeutige Siegerin aus den Wahlen im Herbst hervorgegangen ist. Gut möglich, dass die SPD für zwei Franzosen gar nicht zur Linken zählen; diese, also eben die Partei Die Linke, wird erwähnt auf der Liste der im Krebsgang befindlichen Organisationen. Die anhaltende Wahrnehmungstrübung im deutsch-französischen Verhältnis könnte tatsächlich Gegenstand einer eigenen Satiresendung bilden. Davon abgesehen findet man Material auch in Deutschland. In der Januar-Ausgabe der «Titanic» wirbt das Magazin «Konkret» mit folgendem Titel: «Willst Du so dumm bleiben, wie Du bist?» und dem dazu gehörigen Text: «Oder suchst Du Lektüre, die Deine Vorurteile stört und Dich zum Denken neuer Gedanken provoziert?» Ohne dass ich die neue Ausgabe von «Konkret» gelesen habe, vermute ich, dass in diesem Magazin nach wie vor felsenfest gemauerte Vorurteile gepflegt und uralte Gedanken in uralten Formulierungen aufgelegt werden. Der ganze Werbetext kann sich nur an die Redaktion selber und an ihre Leser:innen wenden, welche so in den Genuss des Prädikates «nicht dumm» kommen, auf relativ günstige Weise, möchte ich meinen.

Kommentare
18.01.2022 / 18:03 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 18.1.. Vielen Dank !