Albert Jörimann - Uniformierung

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Hurra, es gibt eine Lösung für die Klimakrise! Chinesischen Wissenschaftlerinnen ist es gelungen, eine Reissorte zu züchten, was heißt da zu züchten, mit der Gen-Schere eine Reissorte herzustellen, die auch im Salzwasser wächst. Somit ist die Reisproduktion auch bei einem Anstieg des Meeresspiegels gesichert. Nimm dies, kapitalistischer Westen!
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11:19 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.03.2022 / 08:22

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.02.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Hurra, es gibt eine Lösung für die Klimakrise! Chinesischen Wissenschaftlerinnen ist es gelungen, eine Reissorte zu züchten, was heißt da zu züchten, mit der Gen-Schere eine Reissorte herzustellen, die auch im Salzwasser wächst. Somit ist die Reisproduktion auch bei einem Anstieg des Meeresspiegels gesichert. Nimm dies, kapitalistischer Westen!
Eine weitere gute Nachricht aus China erreicht mich über einen Artikel aus «Les Echos» vom 17. Februar dieses Jahres. Pierre Sel von der Universität Vienne befasst sich mit dem Sozialkredit in China, dieses System von Plus- oder Minuspunkten aufgrund bestimmter Verhaltensweisen, die auf allen Stufen registriert werden. Das Sozialkreditsystem wird generell als Vollendung der allgemeinen Volksüberwachung angesehen. Pierre Sel, der trotz seinem Namen nicht in die Forschung rund um das Salzwasserreis involviert ist, versucht uns zu beruhigen: Dieses Sozialkreditsystem diene vor allem der Sanktionierung von Unternehmen; nur 0.2% der Maßnahmen, die wegen des Punktesystems verhängt würden, beträfen Einzelpersonen.

Das System als solches sei eine Plattform, auf welcher verschiedene Daten gesammelt werden, zum Beispiel von den Steuerbehörden, von der Finanzaufsicht, vom Umweltschutz und so weiter. Damit gekoppelt ist ein Belohnungs- und Bestrafungs-Mechanismus. 73% der entsprechenden Daten würden von Unternehmen erhoben. Macht umgekehrt 27% für die Einzelpersonen. Diesen gegenüber seien die härtesten Bestrafungen jene für die Nichtrückzahlung von Krediten, obwohl die betreffende Person dafür eigentlich in der Lage wäre. Es gäbe aber keine Plus- oder Negativpunkte zum Beispiel für das individuelle Kaufverhalten. Pierre Sel schließt mit der Feststellung, dass es bei der Einführung des Sozialkredits in erster Linie um die Digitalisierung der chinesischen Bürokratie gehe. Man dürfe die echte Beurteilung der Bedrohung der öffentlichen und individuellen Freiheiten durch die Sammlung und Verarbeitung von Daten in China – und wohl nicht nur in China – nicht auf der Grundlange mangelnder Kenntnisse der Systeme vornehmen.

So weit, so gut. In meinem von Vorurteilen vollgestopften Kopf führe ich die geringe Anzahl an Sanktionen gegen Einzelpersonen sofort darauf zurück, dass in China die Uniformisierung der Gesellschaft halt schon weit fortgeschritten ist, respektive dass sie sogar Bestandteil einer tausendjährigen Geschichte ist, wobei ich hier sofort relativiere: Die Geschichte der Massen beginnt natürlich nicht vor tausend Jahren, sondern erst in jenem historischen Moment, da die Massen als Summe von Individuen zu existieren beginnen, also mit dem Hervortreten des einfachen Menschen gerade aus jener Masse, die seit Urzeiten regiert, ausgebeutet, benutzt, aber auch unterhalten und geschützt wurde, aber niemals als Ansammlung von Subjekten existierte. Subjekte waren immer nur die da oben, von denen man in den Geschichtsbüchern liest, und zwar leider nicht zufällig. Und in dieser Überlegung entsteht Raum für einen Kalauer, den ich euch nicht ersparen kann: Im Feudalismus bezeichnete man bekanntlich die Untergebenen und Rechtlosen als Subjekte, und auch im Wort selber liegt die Unterwerfung begraben.

Aber zurück! Es findet geschichtlich gesehen also nicht nur in China der Schritt statt von der identitätslosen Masse hinaus ans Tageslicht einer Existenz als autonome Individuen. Genau diese Entwicklung ist ein zentraler Bestandteil der Emanzipation, die von der Aufklärung und dann vor allem von Sozialistinnen und Kommunistinnen gefordert wird. Relativ schnell wird das Individuum aber wieder in die Masse zurückgeführt, respektive es wird auf höherer Stufe in eine qualitativ neuartige Masse eingeführt, zum Beispiel unter dem Titel der Solidarität. Dass der Massencharakter des neu erschaffenen Individuums nicht immer nur Quelle von Begeisterung ist, zeigen ver­schie­dene seltsame Massenorganisationen, sowohl bei den Nationalsozialisten als auch im Vaterland der Werktätigen. Das einzige, was ich zu diesem Gebiet abschließend sagen kann, ist, dass hier eine Spannung besteht zwischen Individuum und Masse, die auch heute noch nicht aufgelöst ist, oder in anderen Worten: geheilt oder aufgehoben. Es ist, mit anderen Worten, eine Spannung, die unheilbar ist, die zwangsläufig besteht und die man aushalten muss. Immerhin speist diese Spannung wie jede gute Stromquelle verschiedene politische Bewegungen. So ist die Frage rund um die Identität nichts anderes als das verzweifelte Ringen um Individualität im Rahmen der Masse, oder auch umgekehrt: um Zugehörigkeit zu einer Masse, welche ums Verrecken aus den richtigen bestehen soll, also aus Individuen wie ich. Die Identität ist sozusagen der Pin am Revers des Massen-Individuums. – Da kommt mir übrigens in den Sinn, dass in der Schweiz die zwei Regierungsmitglieder, welche der rechtsnationalistischen Volkspartei angehören, einen Schweiz-Pin am Revers tragen. Ich bin stolz darauf, Schweizer zu sein, wollen diese beiden Männer damit wohl zum Ausdruck bringen; in Tat und Wahrheit kann es nichts anderes bedeuten, als dass sie im Innersten nicht so genau wissen, zu welcher Nation sie gehören. So ein Pin ist, strikt genommen, der pure Landesverrat. Ein souveränes Individuum braucht keinen Pin! – Und das möchte ich auch dem dritten Mitglied der Landesregierung immer wieder mitteilen, komme aber nie dazu, nämlich unserem Außenminister, dem aktuellen Bundespräsidenten Ignazio Cassis, dessen innere Unsicherheit ihn dazu bewegt haben mag, sich wie seine nationalistischen Kollegen eine Landesflagge an den Anzug zu stecken. Aber ich schweife ab.

Im Westen haben Uniformen und Uniformität keine gute Presse. Wir distinguieren uns gerne und im Bewusstsein des Erfolgs von unseren chinesischen Mitmenschen. Wir finden es auch absurd, dass man im Land der Uniformierten überhaupt ein Sozialkreditsystem zur Anwendung bringt. Denn dieses Sozialkreditsystem ist in der Praxis eben doch die vollständige Überwachung, wie dies Professor Salz mit dem Verweis auf die Digitalisierung der chinesischen Administration nicht widerlegt, sondern erst recht belegt. Ich gehe davon aus, dass es Proteste hageln täte, wenn sich die Parteiführung in Peking darauf kaprizieren würde, die Durchschnittsmenschen in der Praxis nach diesem System zu maßregeln, also zum Beispiel Steuern für Vielfraße und Dickleibige zu erhöhen wegen höherer Belastung des Gesundheitssystems; dass solche Maßnahmen auch bei uns jeden Tag gefordert werden, versteht sich von selber. Und dass die Überwachung auch bei uns stattfindet, wissen wir unterdessen alle. Ein Artikel von Klaus Wedekind auf der N-TV-Webseite vom 18. Februar führt dies wieder einmal vor Augen. Er beschäftigt sich mit der Frage, ob Smartphone-Apps heimlich die Gespräche ihrer Besitzer:innen mithören und an die Konzernzentrale weiterleiten beziehungsweise ans Datencenter, wo sie umgehend ausgewertet und in Form von Werbe­nach­rich­ten an die Kunden verarbeitet werden; es kann sich übrigens auch um politische Werbenachrichten handeln, wie wir ebenfalls spätestens seit Barack Obama wissen. Klaus Wedekind sagt, dass die Audio-Spionage technisch ohne weiteres möglich sei. Lustig fand ich dabei folgenden Hinweis, ich zitiere: «Um nicht dadurch aufzufallen, große Audiodateien an die Server der Auftraggeber zu schicken, könnten Angreifer versuchen, die Sprache noch auf dem Smartphone in Text umzuwandeln, wie es beispielsweise Google mit seiner Rekorder-App macht». Aber Wedekind hält es für unwahrscheinlich, dass die Audio-Spionage im großen Stil gehandhabt wird, weil die Datenkraken auch andere Möglichkeiten hätten, effizienter und völlig legal an die entsprechenden Informationen ihrer Kund:innen zu kommen, in erster Linie mit den digitalen Spuren im Internet, zum Beispiel bei Suchanfragen, aber auch über die Daten von Kolleg:innen aus der Kontaktliste. Noch ein Zitat: «Der ehemalige Google-Mitarbeiter Tristan Harris sagte 2019 auf einer Podiumsdiskussion, Facebook oder Google könnten mit all den gesammelten Informationen praktisch Avatare erzeugen und mithilfe maschinellen Lernens das Verhalten beziehungsweise die Wünsche der Nutzer nachvollziehen.» Da ist es dann konsequent, in das Metaversum zu investieren – dort kann die Userin dann ihre eigene Avatarin programmieren und feststellen, dass sie nur eine kümmerliche Version jener Avatarin produziert, welchen das maschinelle Lernen von ihr bereits produziert hat. Noch eine Spannung, noch ein Gegensatz, schon wieder etwas, das nicht geheilt werden kann! Hurra!
Mit anderen Worten: Im Westen wird das Individuum genauso überwacht wie in China, aber halt nicht vom Staat, obwohl der Staat bei Bedarf auf die Daten der Individuen zugreifen kann, das versteht sich von selber. Aber sind wir deswegen uniform, denken wir alle das Gleiche, verhalten wir uns alle gleich? Selbstverständlich nicht, das Beispiel jener Saftköpfe, über welche ich mich an dieser Stelle regelmäßig aufrege, reicht schon aus. Und anderseits, weil wir ja in einer Welt der Einheit der Gegensätze leben, eben doch. Verschiedene Teile, ja der Großteil der Informationen, mit welchen unsere individuellen Denkapparate arbeiten, sind identisch. Mit anderen Worten: Wir haben nicht nur so zirka 98% des Genpools gemeinsam mit unseren biologisch nächsten Verwandten, den Menschenaffen, sondern wir sind, Rasse hin oder her, genetisch sowieso zu 100% identisch mit allen anderen Menschen auf der ganzen Welt. Das ist jetzt sowieso gelogen, wir unterscheiden uns von allen, sonst hätte die DNA-Analyse keinen Sinn. Und wir unterscheiden uns auf der biologischen Ebene auch noch nach Geschlechtern, was man übrigens beim Gendern oft vergisst: In 99% aller Fälle ist ein Mensch entweder Mann oder Frau, biologisch gesehen. Dass sich ein Mann als Frau fühlen kann oder umgekehrt, ist dann wieder ein anderes Kapitel, und dass in der Kulturgeschichte die Geschlechterrollen weit jenseits der biologischen Grundlagen ausgestaltet wurden, ebenfalls. Also, es gibt sehr wohl Unterschiede; aber sie betreffen nur vergleichsweise geringfügige Details. Ansonsten sind wir Menschen tatsächlich gleich, was auch eine biologische Grundlage für Dinge wie die allgemeinen Menschenrechte hergibt, soweit es eine solche braucht.

Dass aber auch der Denkapparat bei den meisten Menschen gleich funktioniert, ist wieder eine andere Geschichte, man möchte fast sagen, so eine Aussage hat zunächst erst die Qualität eines Axioms. Ich selber habe dieses Axiom hier schon verschiedentlich formuliert, auch mit einer gewissen Trauer darüber, dass ich damit meine eigene Individualität mindestens zum Teil in die Tonne trete; aber wenn ich im öffentlichen Raum jeweils höre, wie andere Menschen jene Gedankenfetzen als Gesprächsfetzen formulieren, die mir wörtlich gleich durch den Kopf rauschen, weiß ich jeweils, dass es eben stimmt. Ich ergänze mein Axiom noch um die Vermutung, dass die Uniformität unserer Köpfe ebenfalls eine kulturelle Komponente aufweist, dass also die Menschen, sagen wir mal in Russland, eine andere Uniformität mit sich herum tragen als wir in Westeuropa. Das macht die Sache nicht besser. Nur die erwähnten Saftköpfe und Vollidioten halten mich von der Verzweiflung ab, also jene, welche sich gegen die offensichtlichsten Tatsachen sperren und von Verschwörungstheorien faseln. Für sie an dieser Stelle wieder einmal kurz der abschließende Hinweis, dass der Kapitalismus keine Verschwörung ist, sondern das System, in dem wir leben. Aber der Dialog mit Gurken ist in der Regel ziemlich aussichtslos.