Albert Jörimann - Das Höllen-Gericht

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Einen Krieg kann man nicht aus neutraler Sicht kommentieren, sondern nur aus der Sicht des Militärberichterstatters, und dafür habe ich weder Lust noch auch nur entfernt verlässliche Informationen, ebenso wenig wie die zehntausend Fachleute, die sich momentan allein im deutschen Sprachraum zur Invasion Russlands in die Ukraine äußern.
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10:59 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.03.2022 / 08:24

Dateizugriffe: 67

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 01.03.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Einen Krieg kann man nicht aus neutraler Sicht kommentieren, sondern nur aus der Sicht des Militärberichterstatters, und dafür habe ich weder Lust noch auch nur entfernt verlässliche Informationen, ebenso wenig wie die zehntausend Fachleute, die sich momentan allein im deutschen Sprachraum zur Invasion Russlands in die Ukraine äußern. Zum Krieg als globales Phänomen im einundzwanzigsten Jahrhundert bleibt ebenfalls wenig zu sagen; die Bandbreite ist groß, vom mehr oder weniger lokalen Konflikt mit Messern und Macheten über ausgefeilte Militäroperationen bis hin zur verdeckten Kriegsführung ist alles Teil der Zeitgeschichte, nicht gerade in Europa, aber auch nicht besonders weit entfernt. Auf 500'000 Tote wird der Blutzoll in Syrien geschätzt in den letzten 10 Jahren, dazu kommen 13 Millionen Flüchtlinge, wovon die Hälfte im eigenen Land, der Rest in den Nachbarländern und zu einem kleineren Teil in Europa. Wir hatten die Auseinander­setzung um Berg-Karabach, die auch nicht besonders weit weg lag und vor allem noch nicht beendet ist; in lebendiger Erinnerung ist den meisten Erwachsenen der Krieg in Jugoslawien, der 100'000 Todesopfer forderte, die meisten in Bosnien und Herzegowina. Und natürlich befanden sich wichtige Steuerzentralen für den Afghanistan-Krieg in Deutschland, zum Beispiel. Und, und.

Krieg ist Scheiße. Man sollte alles tun, um Krieg und Kriege zu vermeiden. Die Vermutung steht im Raum, dass, solange es das Militär und die Rüstungsindustrie gibt, Kriege unvermeidlich sind. In der Regel wird der offene Konflikt dadurch vermieden, dass man die militärischen Kräfte­ver­hält­nisse hypothetisch durchrechnet und für die Zeit der Gültigkeit dieser Rechnung eine hypothetische Machtsymmetrie einhält. Das war während dem Kalten Krieg die Grundregel, welche für eine längere Zeit den Frieden mindestens in Europa garantierte, zum Teil aber im Rahmen des Gleichgewicht des Schreckens auch in anderen Weltgebieten. Der Fall des Eisernen Vorhangs und die Auflösung des Warschauer Paktes haben dieses Gleichgewicht ordentlich durchgeschüttelt, und in der Ukraine sehen wir aktuell die, hoffentlich letzte Auseinandersetzung um die Herstellung oder Sicherung des neuen Gleichgewichtes.

Krieg ist Scheiße, und wer einen Krieg auslöst, den soll der Teufel holen; im konkreten Fall sprechen wir von der russischen Regierung unter Wladimir Putin. Immerhin haben sie das Recht, sich vor dem Gerichtshof der Hölle zu verteidigen, und dabei werden sie darauf verweisen, dass sie die Ukraine nicht aus einer Psychose von Wladimir Putin heraus angegriffen haben oder um von innenpolitischen Problemen abzulenken, sondern weil die Ukraine seit Jahrzehnten mit allen Arten von Versprechungen von Russland weg und in Richtung EU und USA gelockt wird und zuletzt unter dem Titel des Selbstbestimmungsrechts der Völker auch zum Nato-Beitritt aufgefordert wurde. Selbstverständlich nicht offiziell; aber ebenso wenig wollte die Nato irgendwelche Garan­tien darüber abgeben, dass dies in absehbarer Zeit nicht erfolgen werde. Das unterliege ganz und gar dem souveränen Willen des ukrainischen Volkes. Das ist allerdings eine wunderbare Argu­men­tation: Seit wann unterliegen die globale Sicherheitsarchitektur und das Gleichgewicht des Schreckens dem Selbstbestimmungsrecht der Völker? Das ist allzu doof. Und indem die EU und die Nato diese Optionen einfach ums Verrecken nicht ausschließen wollten, werden die Verteidiger Russlands und Putins vor dem Gericht der Hölle ausführen, war es für Russland nicht möglich, die Entwicklung tatenlos hinzunehmen; schließlich hängen für Russland im Süden mit Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenien und Kirgisien noch eine ganze Perlenkette von ehemaligen Sowjetrepubliken am seidenen Band, welche das Verhalten ihres übermächtigen Alliierten ganz genau beobachten.

Ja, das werden die Verteidiger vor dem Höllen-Gericht ausführen, und es wird dem Teufel schwer fallen, diese Argumente einfach zu verneinen. Vorderhand aber nützt das den Überfallenen herzlich wenig und den Todesopfern noch viel weniger. Auch die Überlegung nützt ihnen nichts, dass Russland kein Interesse daran haben kann, die Ukraine zu zerstören; in einem Krieg wirkt neben den echten Beweggründen immer eine Portion teuflische Unberechenbarkeit mit, zum Beispiel die Aktivierung der russischen Atomwaffen; was soll das denn? Den Ukrainerinnen eine Atombombe auf den Kopf schmeißen? Oder eine angebliche Abschreckung gegen den Truppenaufmarsch der Nato? Wenn er einen Nuklearkopf zündet, kann sich Putin gleich selber die Kugel geben, das weiß auch er. So viel Drohung, so viel Kulisse, es wäre zum Lachen, wenn dabei nicht gestorben würde. Aber so haben wir halt einfach abzuwarten, welchen Verlauf die Kriegshandlungen innerhalb der Grenzen der Ukraine nehmen. Immerhin kann sich die Rüstungsindustrie freuen. Und noch etwas ist interessant: Kaum sind die Grünen in Deutschland zum zweiten Mal an der Macht, läuten sie zum zweiten Mal die Kriegs­glocken, und auch dieses Mal wieder mit soviel Herzblut, wie es nur bei echten Novizinnen vorkommt. Robert Habeck und Annalena Baerbock zeigen mit riesigem Engagement, dass sie die Welt nicht der Klimakatastrophe allein aussetzen wollen; es gibt auch noch andere Optionen, für welche man jetzt einen 100-Milliarden-Etat bereitstellen wird. Rot-grün schreibt da wirklich eine ganz eigene Geschichte. Ich kann es ihnen unter den gegebenen Umständen nicht wirklich verdenken, aber ein bisschen weniger Engagement, etwas mehr Zurückhaltung wäre ja grad noch denkbar gewesen.

Auf jeden Fall wird man sich auf die Phase vorbereiten müssen, wenn der Krieg dann zu Ende ist. Gehen wir mal davon aus, dass sich die internationale Lage in etwa einem Monat einrenkt und in einem halben Jahr soweit stabilisiert; dann wird das, was man als «der Westen» bezeichnet und was wie alles andere auch durchaus nicht immer eine Einheitsfront für oder gegen was auch immer ist, dieses Gebilde also wird in seinem eigenen Interesse versuchen müssen, gegenüber Russland klarzumachen, dass man nicht nochmals dreißig Jahre Konfrontation sucht, sondern eine Basis für eine vernünftige Zusammenarbeit, was selbstverständlich Vernunft auf beiden Seiten voraussetzt. Diese Vernunft bleibt übrigens während allen Kriegshandlungen wirksam, auch wenn die beteilig­ten Parteien einen großen Krach veranstalten für ihr jeweiliges Publikum.

Vorderhand aber ist und bleibt es schwierig. Ich schreibe diese Worte am Montagmorgen, bis zur Ausstrahlung kann noch viel geschehen. An der ukrainisch-weißrussischen Grenze sind die Verhandlungsdelegationen eingetroffen. Ein rasches Ergebnis wäre überraschend, aber immerhin wird diskutiert. Vorderhand bleibt das Hauptproblem bei den Militäroperationen für Russland, dass wie erwähnt weder seine Führung noch seine exekutiven Kräfte die Ukraine zerstören wollen; es geht um den politisch-wirtschaftlichen Einfluss, den sich Moskau mit dem Mittel des Militärs sichern will. Deshalb bin ich auch etwas irritiert darüber, dass die russischen Truppen nicht einfach übers Land gefahren sind und die Dörfer eingenommen und einen Bogen um die Städte gemacht haben; dort drohen intensive Kämpfe und Verluste auf beiden Seiten, und genau das soll doch vermieden werden. Insofern bleiben im Moment die geringen Geländegewinne und das strategische Vorgehen des russischen Militärs etwas rätselhaft. Aber der Verlauf der Woche wird den Schleier lüften.

Und noch ein Wort zu Gospodin Wladimir Wladimirowitsch: dass der im Moment auf Donald Trump macht, ist zwar nicht notwendig, aber es ist nun mal so. Das ist eine Variante, wie man sich in Kriegszeiten geben kann, zumal als Aggressor. Und noch ein Wort zu den Sanktionen: alles verständlich, alles in Ordnung, aber as long as wind blows, grass grows and gas flows, werden sie weder mir noch Russland einen bleibenden Eindruck machen. Und wenn sie nach Abschluss des Krieges bestehen bleiben in dem Sinne, dass der bereits erwähnte Westen eine richtige wirt­schaft­liche Attacke auf Russland reitet, dann muss man sich sowieso verschiedene Fragen neu stellen.

Wenn wir unseren Blick zur Abwechslung vom Osten weg in den Süden richten, so sehen wir dort ebenfalls verschiedene militärische Ereignisse, die uns natürlich weniger beeindrucken, weil wir dort tendenziell immer damit rechnen; diese Gesellschaften sind mindestens im Süden der Wüste Sahara nach wie vor in voller Entwicklung begriffen, und da verschieben sich die Interessenlagen oft schnell und mit Gewalt. Die Präsenz der französischen Armee und in ihrem Gefolge von Truppeneinheiten anderer europäischer Länder soll einigermaßen für Stabilität oder mindestens eine Einschränkung der Gewalt sorgen. Die Postkolonial-Garden sind im Moment stärker unter Druck geraten in Mali und in Zentralafrika. In Burkina Faso ist eine Putschisten-Regierung an der Macht, man hat den Eindruck, in der Region folge wieder mal ein Staatsstreich auf den anderen. Dann sind da noch die Rebellen, die sich islamistisch nennen, aber eigentlich nur bestimmte Kräfte und Tendenzen in den jeweiligen Ländern zum Ausdruck bringen und sich dabei dessen bedienen, was ideologisch gerade auf der Straße herum liegt; das war schon vor fünfzig Jahren so, bloß war es damals das sozialistische Vokabular, das in Afrika, in Lateinamerika und auch im Nahen Osten für die jeweilige Unabhängigkeitspolitik benutzt wurde. Unabhängig vom Unabhängigkeitsvokabular oder vom Religionsvokabular geht der Kontinent oder, wie die ehemalige US-Vizepräsidentschafts­kandidatin Sarah Palin sagen würde: das Land Afrika seinen Weg in die Zukunft auf Pfaden, denen wir in der Regel nicht folgen können, die wir aber wirtschaftlich und politisch begleiten, zwangs­läufig nur schon wegen der Ströme an jungen Menschen, die ihr Glück bei uns suchen oder auf der unendlich großen britischen Insel in vollkommener Erfüllung deren kolonialer Vergangenheit. Und ich benutze die Gelegenheit, um erneut darauf hinzuweisen, dass es strategisch viel klüger wäre, die afrikanische Nordküste des Mittelmeers auszubauen statt zu versuchen, die Ukraine dem Zugriff der Russen zu entziehen und sie in die EU und in die Nato zu locken. Es ist einfach idiotisch, wie der Westen Politik betreibt, und erneut sage ich «der Westen» mit spöttischem Unterton; die Interessen sind offensichtlich nicht einheitlich. Was man aber vereinheitlichen könnte, das wären der politische Diskurs und die Aufklärung der europäischen Öffentlichkeit über die echten historischen Priori­tä­ten. Davon lassen die Eliten hierzulande lieber die Finger, weil sie befürchten, dass sie den Rechts­natio­nalisten Auftrieb verleihen könnten, wenn sie in dem ganzen Gemengelage aus Interessen­politik, Investitionen und Wanderbewegungen eine klare Position beziehen. Der Krieg in der Ukraine eignet sich doch um einiges besser für markige Worte. Aber irgendwann mal wird man auch in Bezug auf Afrika nicht um klare Aussagen herum kommen, und warum nicht jetzt? Vielleicht kann man schon in vier Jahren mit einer solchen klaren Linie sogar Wahlen gewinnen. Sogar in Deutschland. Wie das in Frankreich funktioniert, werden wir demnächst sehen, wobei eines schon feststeht, nämlich dass Gospodin Wladimir Wladimirowitsch dem französischen Präsidenten Emanuel Macron die Wahlkampagne gründlich versaut hat, eine Wahlkampagne, zu welcher die französische EU-Ratspräsidentschaft viele schöne Beiträge hätte leisten sollen. Davon kann sich nun niemand eine Scheibe abschneiden. Aber er wird es trotzdem schaffen, unser Emanuel, und sei es nur wegen seiner Frau Brigitte.

Kommentare
01.03.2022 / 17:59 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 1.3.. Vielen Dank !