Albert Jörimann - Jean-Luc Mélenchon

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Am Sonntag hat Jean-Luc Mélenchon diesen Beitrag für das Freie Radio Erfurt International in eine andere Richtung gebeugt. Ursprünglich wollte ich mich mit der Frage beschäftigen, weshalb bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich nur noch Rechtsextremistinnen eine Chance haben in der Wählergunst, neben dem Miniatur-Napoléon Macron natürlich, der es locker in eine zweite Amtszeit schaffen wird, eben gerade wegen seiner indiskutablen Gegnerinnen.
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10:57 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.03.2022 / 10:01

Dateizugriffe: 65

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.03.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Am Sonntag hat Jean-Luc Mélenchon diesen Beitrag für das Freie Radio Erfurt International in eine andere Richtung gebeugt. Ursprünglich wollte ich mich mit der Frage beschäftigen, weshalb bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich nur noch Rechtsextremistinnen eine Chance haben in der Wählergunst, neben dem Miniatur-Napoléon Macron natürlich, der es locker in eine zweite Amtszeit schaffen wird, eben gerade wegen seiner indiskutablen Gegnerinnen. Eine sozial­demo­kra­tische Linke scheint es nicht mehr zu geben. Das hat sicher damit zu tun, dass die Politik in Frankreich, wie überall in den entwickelten Ländern, sowieso eine sozialdemokratische ist, wie wäre es anders möglich, den Wohlstand halbwegs vernünftig unter die Leute zu bringen und damit das System nicht zum Vornherein zusammenkrachen zu lassen. Auch die Rechtsextremen haben mehr oder weniger sozialdemokratische Wahlprogramme, bloß sind sie rassistisch und anderweitig ideologisch eingefärbt. Zum anderen besteht ein eigenartiger Widerspruch zwischen dem Geschehen in den Präsidentschaftswahlen und den politischen Realitäten eine Stufe weiter unten; auf der lokalen Ebene gegen die Sozialistinnen und zum Teil auch schon die Grünen durchaus den Ton an, was übrigens auch Thomas Piketty in seinen Ausführungen über das linke Brahmanentum mit Statistikdaten unterlegt hat. Diese Kluft zwischen urbanen Verhältnissen und dem politischen Diskurs auf nationaler Ebene ist wirklich eigenartig; nach meiner Einschätzung hängt das in erster Linie mit dem Benzinpreis zusammen oder anders gesagt mit den fehlenden Transport-Infrastrukturen, was die Französ:innen viel stärker abhängig macht von der Entwicklung der Energiepreise als andere Länder. Wobei der entscheidende Unterschied gegenüber anderen Ländern der ist, dass sich die Französ:innen Stéphane Hessels Aufruf «Empört euch!» zu Herzen genommen haben und der Benzinpreis-Abhängigkeit auch einen politischen Ausdruck verschafft haben mit den Gelbwesten, was der Benzin-Frage eine ganz andere Gestalt verleiht. Das ist ja dann auch schon wieder eine Kunst; bisher war mir nur aus der Schweiz eine Auto-Partei bekannt, die ihr Leben nach einer kurzen Blütephase vor vierzig Jahren bald wieder ausgehaucht hat, während die reine Automobil-Nation Deutschland niemals eine solche Ausstülpung des öffentlichen Bewusstseins erfahren hat.

Ein Automobil ist übrigens nicht per se rassistisch, damit das auch noch gesagt ist; bei den Gelbwesten laufen ja alle mit, vom Links- bis zum Rechtsradikalen, vor allem aber jene Menschen, denen kein politisches Bewusstsein, aber doch ein großes Empörungspotenzial im Hesselschen Sinne eigen ist. Damit ist die Frage nach dem Grund für das rechtsextreme Kandidatenfeld bei den französischen Präsidentschaftswahlen noch nicht beantwortet. Eine Erklärung liegt sicher darin, dass es die Sozialisten nicht geschafft haben, den Spagat zwischen emanzipatorischen und klassen­kämpferischen Forderungen einerseits, der Realität der politischen Macht im Falle der Regierungs­verantwortung zur Zufriedenheit der Bevölkerungsmehrheit zu vollziehen. Vor allem François Hollande zeigte einen vollkommenen Widerwillen dagegen, jene Unverfrorenheit an den Tag zu legen, den die Macht bei ihrer Ausübung eben erfordert, einschließlich des Vorbringens von völlig idiotischen Argumenten im Brustton der Überzeugung. Bei jenen Politikerinnen, die aus der bürgerlichen Ecke stammen, verzeiht die Bevölkerung den Mangel an Kohärenz zum Vornherein, weil man zum Vornherein genau weiß, dass sie den Status quo und vor allem die Privilegien der Privilegierten im Staate Frankreich verteidigen; die Sozialisten müssen da anders voltigieren, und so muss man behaupten, dass sie am Mangel zirzensischer Fähigkeiten gescheitert sind.

Die Grundfrage lautet aber: Ist es der Mehrheit der Bevölkerung scheißegal, mit welchen Grundsätzen man durchs Leben stolpert, oder genauer: Sind die Grundvermutungen von Gleichberechtigung, Emanzipation, Vernunft, Wohlstand und freier Liebe außer Kraft gesetzt? Es sieht so aus, als ob die Kandidatinnen sich von der Bewirtschaftung von Unvernunft und religiöser Hetze tatsächlich Erfolg versprechen können. Dann stellt sich die Anschlussfrage: Was tut man, bitteschön, dagegen? Wie setzt man sich gegen die Verrohung der Bevölkerung oder mindestens eines ansehnlichen Teils davon in den entwickelten Ländern zur Wehr? Ich nehme gerne entsprechende Hinweise entgegen, im Bewusstsein davon, dass es dafür keine statistischen Unterlagen gibt, mit anderen Worten, ich erwarte sie nicht vom Team um Thomas Piketty.
Nun hat aber wie gesagt Jean-Luc Mélenchon für eine völlig andere Sicht auf Frankreich gesorgt. Auch gegenüber Jean-Luc Mélenchon hatte und habe ich meine Vorbehalte; er ist ein Nationalist, was bei mir zur Bildung von Zornesfalten auf der Stirn führt, und seine Rhetorik ist in vielen Fällen nicht weniger unvernünftig als jene der Gelbwesten, denen man übrigens immerhin ein kritisches Verhältnis zum Staat nicht absprechen wird, und das ist auch schon wieder ein Pluspunkt für sie. Und eben für Mélenchon, der jetzt aber seinen Anspruch bei den Präsidentschaftswahlen in eine neue Gestalt gegossen hat: Mélenchon fordert jetzt die Sechste Republik, also eine gründliche Reform des Staates – ja, eine Reform, keine Revolution – mit besseren Institutionen, unter anderem der Einführung von Initiativ- und Referendumsrechten sowie der Möglichkeit, Abgeordnete abzuwählen. Das sind keine absoluten Neuerfindungen, die Abwählbarkeit war schon ein wichtiges Kriterium in der Pariser Kommune, die Initiativ- und Referendumsrechte gibt es in der Schweizer Republik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, einmal abgesehen davon, dass sie auch von der politischen Rechten gefordert werden; allerdings wollen die Rechten Initiativen und Referenden in der Regel nur dann durchführen, wenn sie sicher sind, sie zu gewinnen, was dem Zweck dieser Institution zu hundert Prozent entgegen läuft. Dass Mélenchon eine vernünftige Verteilung des bestehenden Wohlstandes fordert, versteht sich dagegen schon von selber, und zwar fordert er die Verteilung eben nicht nur für Französinnen, die ihre Abstammung bis ins zwanzigste Glied nach oben nachweisen können.

Am Sonntag, dem 20. März 2022, führte Jean-Luc Mélenchon in Paris einen Marsch für diese sechste Republik durch, und es kamen 100'000 Teilnehmerinnen. Das hat nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Verstand erfreut und erleuchtet. Mélenchon liegt im Moment auf dem dritten Platz der Anwärter:innen auf die Präsidentschaft hinter Macron und Frau Le Pen, welche jene Gewinne in der Wählergunst, die sie durch die Anbiederung beim Publikum in der politischen Mitte erzielt, durch Verluste bei den Rechtsextremen wieder verspielt und deshalb nicht ernsthaft mit dem Gewinn der Wahlen rechnen kann. Na gut, es handelt sich um ein Zwei-Phasen-Programm; sollte sie wieder in die Schlussrunde kommen, dann könnte sie versuchen, mit ein paar markigen rechtsextremen Ausfällen auch das rechte Publikum wieder zu mobilisieren. Allerdings scheint diese Taktik schon durchsichtig, bevor sie auch nur aufgeschrieben wird.

Auch deshalb bin ich gespannt, ob Jean-Luc Mélenchon mit seinem Marsch beziehungsweise mit seinem griffigen Slogan von der sechsten Republik es schaffen wird, Marine Le Pen aus dem zweiten Wahlgang zu verdrängen. Ich hoffe es natürlich und schreibe diesem seltsamen Land schon mal ein paar Punkte gut, allein aufgrund dieser schönen Großdemonstration vom letzten Sonntag.

Daneben wird man nach wie vor nicht nur von den Kriegsnachrichten aus der Ukraine bombardiert, wenn man das so sagen kann, sondern vor allem von einem Strom von sinnlosen Spekulationen, hirnlosen Einschätzungen und vor allem von einer wahren Eruption von Antikriegsmanifestationen, die sich mit Vorliebe in der Forderung nach massiver Aufrüstung äußern. All das ist ebenso verständlich wie ärgerlich oder ebenso ärgerlich wie verständlich. Natürlich gibt es keine schönere Gelegenheit für einen Ausbruch all der tief liegenden antirussischen Emotionen als der Überfall Putins auf die Ukraine. Man hat ein paar Staatschefs gesehen auf Besuch bei Wladimir Selenski, wobei vor allem der halbe Zwilling Katschinski hervorstach, der sich strahlend vor Russen­feind­lich­keit die Hände rieb: endlich!, sagte sein Gesichtsausdruck, endlich mobilisieren wir die Welt gegen unseren Erbfeind. Dass ich das noch erlebe! Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt zeigte sich der französische Präsident und Präsidentschaftskandidat im Selenski-Look und unrasiert und sendete so nicht nur eine Solidaritätsadresse an seinen Amtsbruder in Kiew, sondern auch ein Wahlsignal aus. So ein Krieg kommt wirklich manchen Menschen gelegen. Macron hat sich allerdings schnell wieder eingekriegt, vielleicht hat ihn die Stilberaterin an seiner Seite zur Ordnung gerufen.

Es ist wirklich ein Kreuz. Die militärische Lage in der Ukraine scheint sich nicht groß zu verändern, das kann also noch Wochen so weitergehen; das heißt aber auch, dass wir uns darauf einstellen müssen, noch Wochen Beiträge wie jenen von Francis Fukuyama zu lesen, der im Ernst damit rechnet, dass die Ukrainer:innen die russische Armee aus eigenen Kräften besiegen können. «Russland steuert auf eine klare Niederlage in der Ukraine zu», las ich in seinem Beitrag am Freitag in der Neuen Zürcher Zeitung. Er hat aber auch schon andere Sachen geschrieben, zum Beispiel hat er vor dreißig Jahren «Das Ende der Geschichte» ausgerufen, ohne dass sich die Zeit die Zeit genommen hätte, anzuhalten, wie zum Beispiel der Ukraine-Krieg zeigt. Alle sondern jetzt ihr Sekret ab zu diesem Thema, in der Regel ist es nichts anderes als das, was sie sowieso seit eh und je absondern, bloß jetzt auf den Ukraine-Krieg angewendet. Daneben reiben sich all die Menschen, die sich für Kriegsopfer, Flüchtlinge und Vertriebene aus anderen Weltregionen einsetzen, die Augen über die massive Solidaritätswelle für die ukrainischen Flüchtlinge. Allerdings wissen auch sie, dass uns der Ukraine-Krieg näher geht als jener in Syrien oder in Afghanistan oder die Kriege in Afrika; immerhin steht die Frage im Raum, ob sich hier tatsächlich eine Auseinandersetzung zwischen den Supermächten selber anbahnt, wofür die Nato einige Gründe hätte, weniger in der Ukraine als vielmehr im Norden, wo die aktuellen Manöver ja auch stattfinden; das Nordmeer ist von der internationalen Allianz der Energieverbraucherinnen, also von uns allen, notabene, derart gründlich vom Eis befreit worden, dass jetzt um den Zugang zu den Ressourcen gekämpft wird. Und wenn die Nato-Staaten den Eindruck haben, sie seien in der stärkeren Position, dann könnten sie ohne jeden Aufwand von der Politik der Nadelstiche, die sie in der Ukraine verfolgt haben, zur Politik der offenen Auseinandersetzung übergehen; ein Anlass dafür ist immer schnell gefunden, und der Schuldige steht selbstverständlich jetzt schon fest. Wenn man aber die Russen allzu stark in die Defensive drängt, dann ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass sie vor der Vernichtung ihrer Macht noch ihre Machtmittel einsetzen, und das bedeutet nichts weniger als einen Atomkrieg. All das schwingt im Moment mit in den Sorgen um den Ukraine-Krieg.