"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kann man Erkenntnis gewinnen?

ID 114900
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Der Weltgeist ist ein echter Schweinehund. Ich bin ständig auf der Suche nach möglichen Erkennt­nissen und stelle mir oft grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnissen, aber der Weltgeist lässt dauernd irgendwelche Nebelgranaten vor mir explodieren...
Audio
11:37 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.04.2022 / 11:57

Dateizugriffe: 70

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 05.04.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Weltgeist ist ein echter Schweinehund. Ich bin ständig auf der Suche nach möglichen Erkennt­nissen und stelle mir oft grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnissen, aber der Weltgeist lässt dauernd irgendwelche Nebelgranaten vor mir explodieren, zum Beispiel in der Form der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung, welche in der Erscheinungsform eines Herrn namens Albert Steck mir vorrechnet, dass die Bevölkerung allein in der Schweiz durch die Inflation bereits 20 Milliarden Franken eingebüßt hat; in einer anderen Erscheinungsform, nämlich eines Herrn namens Hansjörg Schöchli, teilt sie mir mit, dass nun auch im Rahmen der AHV, also der obligatorischen minimalen Altersrente für die ganze Bevölkerung, die Jungen zu viel blechen für die Alten. Besonders der zweite Fall ist spektakulär, weil die obligatorische Altersrente tatsächlich im Umlageverfahren von den Jungen mit ihren Lohnbeiträgen finanziert wird, die dann direkt als Renten ausbezahlt werden. Spektakulär ist also nicht die Finanzierungsform, sondern die Tatsache, dass ein gestandener Wirtschaftsredaktor eines gestandenen Wirtschaftsblattes darob aus der Fassung gerät. Im ersten Fall, also mit dem Kaufkraftverlust von 20 Milliarden Franken bei einer Inflation von gegenwärtig knapp 3% in unserem Alpenreich, ich weiß nicht einmal mehr, ob Herr Steck von einem halben Jahr schreibt oder von einem ganzen oder, weniger wahrscheinlich, von nur einem Monat oder gar nur einem halben Tag, fällt das Erstaunen aber auch nicht geringer aus, denn eine Woche zuvor hat das Bundesamt für Statistik die neuen Angaben zum Medianlohn in der Schweiz publiziert, er lag im Jahr 2020 für eine Vollzeitstelle bei 6666 Franken brutto pro Monat, also 80'000 Franken im Jahr. Auch ohne dass man das weiter verrechnet, zum Beispiel auf den Anteil der Erwerbseinkommen am Bruttosozialprodukt der Schweiz, der zwischen 300 und 400 Milliarden Franken beträgt, sieht man auf Anhieb, dass eine gewisse Inflation keine statistisch relevante Auswirkungen auf die Kaufkraft hat, sondern allenfalls auf das Sparpotenzial; auf dieser Seite aber wirken andere Kräfte, zum Beispiel die in den letzten Jahren um, was weiß ich, um 30% gestiegenen Aktienkurse, über die sich Albert Steck meines Wissens noch nie mit dem gleichen Anflug von Entsetzen geäußert hat wie hier mit diesem völlig nutzlosen, noch nicht mal theoretisch haltbaren Artikel.

Über diese beiden Herren ärgere ich mich allerdings schon lange, vor allem, weil beide dauernd behaupten, dass in der zweiten Säule der Altersvorsorge, nämlich bei den Pensionskassen, welche nicht im Umlageverfahren arbeiten, sondern im Kapitalbildungsverfahren, die Jungen viel zu viel Beiträge bezahlen und die alten reichen Säcke subventionieren, während ihre eigene Konten bei der Altersversicherung ausbluten. Aus diesem seit Jahren anhaltenden Dauer-Lamento kommt auch der Artikel von Schöchli über die AHV; er hat vor lauter Jammern einfach die beiden Versicherungs­typen verwechselt, das kommt nun auch nicht mehr darauf an, vor allem, wenn man sich verge­gen­wärtigt, dass bei den Pensionskassen pro Jahr 45 Milliarden Franken an Beiträgen eingehen, wäh­rend 30 Milliarden an Renten ausbezahlt werden. Zu den 45 Milliarden Franken Beitrags­ein­nah­men kommen noch mindestens 15 Milliarden Franken an Kapitalerträgen dazu, weil nämlich das gesamte angesparte Kapital in der beruflichen Vorsorge unterdessen 1 Billion Franken erreicht hat, also eintausend Milliarden. Mit anderen Worten: Die Pensionskassen nehmen 60 Milliarden Fran­ken ein und zahlen 30 Milliarden Franken aus, und der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung fällt nichts gescheiteres ein, als zu schreiben, die Jungen würden die Alten jedes Jahr mit 7 Milliarden Franken quersubventionieren. Das heißt auf Deutsch: Die Pensionskassen dürften pro Jahr nur 23 Milliarden Franken auszahlen. Das heißt ebenfalls auf Deutsch: Es reicht nicht, wenn die Pensionskassen pro Jahr 30 Milliarden Franken Surplus einstreichen, sie sollten sogar 37 Milliarden Franken einstreichen oder, das habe ich unterdessen natürlich begriffen und insgesamt von der NZZ als Leibblatt des dummen alten Kapitals aus der Frühzeit des Kapitalismus auch nicht anders erwartet, die Pensionskassen würden am besten überhaupt keine Renten ausbezahlen und die ganze Knete für sich behalten. Dann wäre die Welt super in Ordnung für die Wirtschaftsredaktion der NZZ und die Herren Schöchli und Steck. Oder anders gesagt: All die Vorwürfe an das gesamte Pensionskassensystem stammen ganz selbstverständlich aus der Quelle der PR-Agenturen der Versicherungsgesellschaften, welche mit der beruflichen Vorsorge das Geschäft ihres Lebens machen, gemacht haben und machen werden. Die Leistung der NZZ-Wirtschaftsredaktion ist es nur, diese PR-Kampagne zu verinnerlichen, ohne auch nur einmal das Rechenprogramm auf ihrem Computer in Betrieb zu setzen. Wenn man einmal eine fixe, durchaus außerökonomische Idee zur eigenen Ideologie verwandelt hat, spielt der Rest keine Rolle mehr. Und so bestätigen diese beiden Ökonomen meine massiven Vorbehalte gegenüber der bürgerlichen Wirtschaftslehre.

Ihr seht, in welch perfider Form der Weltgeist meinen Blick, ja meinen höchstpersönlichen Geist vernebelt. Und es geht mir nicht viel anders mit der Berichterstattung über Kriege generell und im speziellen natürlich über den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Es darf sich aus westlicher Sicht dabei niemals einfach um einen Krieg handeln, sondern er muss immer gespickt sein mit Gräueln und Völkermorden auf der russischen Seite; gleichzeitig bläst ein konstanter Wind von Meldungen über Niederlagen der russischen Seite, mangelnde Ausrüstung und Motivation der Truppen, gefallene Generäle, kurz die gesamte Artillerie der ukrainischen Propaganda, welche immerhin verständlich ist und insofern inoffensiv für Geist und Verstand, im Gegensatz zu den eingebetteten westlichen Nachrichten, was mich insgesamt komplett rat- und wehrlos geschossen hat. Es ist mir unmöglich, einen Überblick zu gewinnen, und vernünftigerweise bleibt mir nur, auf ein möglichst baldiges Ende dieses Krieges zu hoffen, übrigens wie jeden Krieges im Grunde genommen. Und mir bleibt immer wieder der Verweis darauf, dass hier nicht eine schlecht ausgebildete Kinder­garten­truppe eines psychotischen Massenmörders gegen ein hoch motiviertes Heer an patriotischen Widerstandskämpfern im Feld steht, sondern dass es im Hintergrund um Einflusszonen geht, um globale und regionale Machtbereiche, welche die EU seit der Brühwurst Barroso und die Nato seit, ich weiß nicht wann, kontinuierlich in den Osten auszudehnen versucht haben. Selbstverständlich wird das in den westlichen Medien immer als der authentische und legitime Wunsch des ukrai­ni­schen Volkes dargestellt, was ich aber auch in dieser schwierigen Situation einfach bestreite. Um dieses ukrainische Volk ging es nie, es ging immer darum, ein paar Oligarchen-Milliardäre, welche sich in der Regel gerne von beiden Seiten bestechen ließen, in das westliche Lager zu locken. Erst jetzt, in der Kriegssituation, entsteht in der Ukraine eine Nation. Vielleicht ist dies im Hinblick auf die Zukunft der einzige richtige Fortschritt in diesem Land, unabhängig von den Bedingungen eines möglichst baldigen Friedensschlusses.

Bis es soweit ist, blättere ich in den Zeitungen die Meldungen und Spekulationen über den Krieg weg und begnüge mich damit, zur Unterstützung der paar Flüchtlingsfamilien beizutragen, die unterdessen auch bei uns eingetroffen sind.

Die Afrika-Meldungen der Zeitung «Le Monde» informieren mich dahingehend, dass im Osten des Kongo Einheiten der Rebellenarmee des 23. März, die vor bald zehn Jahren zerschlagen worden war, wieder Angriffe gegen die kongolesische Armee geführt hätten. Der Kongo beschuldigt Ruanda, die Rebellen zu unterstützen; an seiner Seite greifen ugandische Truppen in den Konflikt ein. Damit flammt ein bald 20-jähriger Konflikt in dieser Region im Norden des Kivu-Sees wieder auf. Die M23 hatte bereits im November vorübergehend zwei Dörfer erobert. In der Praxis sind die Ordnungskräfte von Ruanda und Uganda viel näher bei dieser instabilen Region im Osten des Kongos als dessen zentrale Staatsgewalt, wobei diese nach den Auseinandersetzungen vor zehn Jahren auch von UNO-Truppen unterstützt wird. Diese erheben ebenfalls Vorwürfe an die Adresse von Ruanda. Es ist allerdings nicht einfach, aus dem Kampf um ein paar Dörfer, so strategisch bedeutend sie auch sein mögen, auf die Gesamtsituation im Nord-Kivu und in Ituri zu schließen.

In Tunesien hat Präsident Kaïs Saïed am 30. März das Parlament aufgelöst, nachdem 120 Parla­mentarier in einer Zoom-Sitzung die Aufhebung des von Saïed angeordneten Aus­nah­mezustandes beschlossen hatten. Bisher steht noch kein Datum für Neuwahlen fest. Im Zentrum des Interesses steht die Chefin der größten Oppositionspartei PDL, Abir Moussi, welche schon vor einem Jahr Neuwahlen gefordert hatte. Die PDL gilt als Nachfolgeorganisation der Partei des vorherigen Machthabers Ben Ali, liegt aber im Moment bei Wählerinnen-Umfragen mit 33% an der Spitze der Wählergunst, deutlich vor der islamischen Ennahda. Deren stellvertretender Chef Noureddine Bhiri wurde im Januar verhaftet, aber Mitte März ohne Erhebung einer Anklage wieder freigelassen.

Und dann schreibt auch Le Monde von der Inflation, diesmal aber in Marokko, die Rede ist von 5.5% für Grundnahrungsmittel, die Gesamtinflation soll dieses Jahr 4.7% erreichen. Da in diesem und auch in verschiedenen anderen Ländern der Brutto-Medianlohn deutlich unter 6666 Franken pro Monat liegt, hat die Inflation eine andere Bedeutung; welche dies genau ist, kann ich nicht sagen, ich erinnere mich einfach daran, dass in Europa während langer Zeit eine Inflationsrate von 3 bis 4 Prozent eher die Regel war als die Ausnahme, oder anders gesagt: die lange anhaltende Zeit mit einer Inflationsrate von 0% in den letzten Jahren war im Sinne der klassischen Ökonomie abnormal, so wie es abnormal war, dass die Zentralbanken Negativzinsen verlangten für die Einlagen bei ihnen. Auch in dieser Beziehung stehe ich in meinem Ringen um Erkenntnis und Einsicht am Berg. Was ich weiß, ist, dass der Wert der industriell erzeugten Produkte tendenziell gegen null geht oder dort schon angelangt ist, womit der einzige verbleibende Wertfaktor beim Transport und beim Verkauf und Vertrieb liegt; damit ist auch diese uralte Frage nach der Produktivität der Transport- und Verkaufs-Aktivitäten beantwortet. Es hat also während einer gewissen Zeit eine nicht nominelle, sondern innere Inflation stattgefunden, indem in der gleichen Ware immer weniger Arbeit vergegenständlicht war, wenn ich mich hier ausnahmsweise der marxistischen Terminologie bedienen darf. Das mag eine Null-Inflation noch zum Teil erklären. Aber da diese Reise gegen den Nullpunkt vermutlich in weiten Teilen der produzierenden Industrie an ihr Ende angelangt ist, besteht zusätzlicher Erklärungsbedarf. Dieser muss sich zweifellos auf die neuen Teile der Ökonomie konzentrieren, in ihrem digitalen Bereich und bei den Dienstleistungen. Hierzu stehen mir aber im Moment keine vernünftigen Untersuchungen zur Verfügung. Hat jemand einen nützlichen Hinweis? Ich bedanke mich zum Voraus.