Verheerendes Urteil: VGH Mannheim lehnt Eilantrag auf Stilllegung des AKW Neckarwestheim ab

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Das Schrott-AKW Neckarwestheim im Landkreis Heilbronn darf weiter am Netz bleiben. Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim wies einen Eilantrag von AtomkraftgegnerInnen ab, die den Betrieb wegen gefährlicher Risse untersagen lassen wollten.
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Upload vom 09.05.2022 / 22:50

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Klassifizierung

Beitragsart: Nachricht
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Arbeitswelt, Wirtschaft/Soziales
Serie: Burning Beds
Entstehung

AutorInnen: Klaus Schramm
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 09.05.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Verheerendes Urteil:
VGH Mannheim lehnt Eilantrag auf
Stilllegung des AKW Neckarwestheim ab

Das Schrott-AKW Neckarwestheim im Landkreis Heilbronn darf weiter am Netz bleiben. Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim wies einen Eilantrag von AtomkraftgegnerInnen ab, die den Betrieb wegen gefährlicher Risse untersagen lassen wollten.

Die AntragstellerInnen, darunter die Anti-Atom-Initiative '.ausgestrahlt', hatten bereits Ende 2020 - also vor über 16 Monaten - vor dem VGH Klage gegen den Weiterbetrieb eingereicht. Zuvor hatte das baden-württembergische "Umwelt"-Ministerium in seiner Funktion als Atomaufsicht ihren Antrag auf Stilllegung abgelehnt. Über diese Klage ist noch nicht entschieden. Den Eilantrag vom vergangenen Juni hatten die AktivistInnen damit begründet, daß es wegen des enormen Risikos unzumutbar sei, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten. Mit der Dauer von neuneinhalb Monaten für ein "Eilverfahren" hat der VGH einen neuen Negativ-Rekord aufgestellt. In dieser Frist ist mehr als die Hälfte der zum Antragszeitpunkt gültigen restlichen AKW-Betriebszeit verstrichen.

In seiner Urteils-Begründung argumentiert der VGH, ein Erfolg im Hauptsacheverfahren sei "nicht überwiegend wahrscheinlich". Außerdem könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß den AntragstellerInnen existenzielle Gefahren für Leib und Leben drohten. Der VGH-Beschluß ist unanfechtbar (Az.: 10 S 1870/21).

Das hochriskante AKW Neckarwestheim befindet sich rund 11 Kilometer südlich von Heilbronn und soll Ende 2022 stillgelegt werden. Die Risse im Dampferzeuger sind schon lange bekannt und können auch von der baden-württembergischen Landesregierung nicht geleugnet werden.

Die Umweltschutz-Organisationen BUND und '.ausgestrahlt' sowie der Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) warnen vor dem zunehmenden Risiko eines schweren Unfalls. Diese dramatische Gefahr wurde auch von einem ehemals höchsten Atomaufseher im Bundesumweltministerium, Diplom-Ingenieur Dieter Majer, bestätigt. Im Jahr 2020 hatten 38 Umweltschutzinitiativen und -verbände mit der "Neckarwestheimer Erklärung" die sofortige Stilllegung gefordert.

Armin Simon von '.ausgestrahlt' erläuterte: "Jahrelang hat das baden-württembergische Umwelt-Ministerium die von den korrosiven Bedingungen im AKW Neckarwestheim ausgehende Gefahr durch mögliche Rohrbrüche bestritten. Als im März sogar der ehemals höchste Atomaufseher im Bundesumweltministerium, Diplom-Ingenieur Dieter Majer, vor einem drohenden Atomunfall warnte, schaltete das Ministerium nicht etwa den Reaktor ab, sondern gab eigens zwei Gegengutachten in Auftrag, die Majer widerlegen sollten. Wie jetzt herauskommt, konnten diese Gutachten Majers Vorwurf, daß wichtige Sicherheitsnachweise gar nicht vorliegen, jedoch nicht entkräften. Im Gegenteil: Beide im Auftrag der Behörde erstellten Gutachten bestätigen unabhängig voneinander und explizit: »Einen Nachweis, daß Rohre nicht aufgrund der Risse brechen können, gibt es nicht. Ein solcher ist, wie der eine Gutachter ergänzend ausführt, auch gar nicht möglich.« Nichts anderes hatte Majer in seiner Stellungnahme im März dargelegt."

Die Argumentation der baden-württembergischen Landesregierung ist damit aus Sicht der UmweltschützerInnen widerlegt. "Solange die korrosiven Bedingungen nicht restlos entfernt sind, besteht schon bei einer bloßen Betriebsstörung die akute Gefahr, daß diese einen schweren Atomunfall mit Freisetzungen größer als in Fukushima auslöst", so Franz Wagner vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN).

Grafik: FlexRisk-Studie - Berlin ausradiert

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Weil das Ministerium den Stilllegungs-Antrag auf offensichtlich falscher Grundlage abgelehnt hat, gehen die UmweltschützerInnen seit 2020 auch gerichtlich gegen den AKW-Betrieb vor. Gemeinsam mit AnwohnerInnen des AKW und mit Unterstützung des BBMN – und parallel zur eingereichten Klage – wurde zusätzlich beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim der Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt, um den weiteren Betrieb des Reaktors zu untersagen.

"Die Rohre in Neckarwestheim sind auch deswegen brüchig, weil sie Jahrzehnte alt sind," erklärt Dieter Majer, ehemaliger Leiter der Abteilung Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen des Bundesumweltministeriums. Die metallischen Röhren eines Dampferzeugers, durch den radioaktiv kontaminiertes Wasser des Primärkreislaufs fließt, haben einen Durchmesser von nur 2,2 Zentimeter. Ihre Wandstärke beträgt 1,2 Millimeter. Diese 1,2 Millimeter Wandstärke der Rohre sind bis zu 91 Prozent von Rissen durchdrungen. Dies bedeutet, daß an manchen Stellen nur noch ungefähr ein halber Millimeter Wandstärke verbleibt. In den vier Dampferzeugern von Reaktor 2 des AKW Neckarwestheim befinden sich jeweils über 4000 solcher Rohre. Ein Dampferzeuger ist rund 20 Meter hoch und wiegt knapp 400 Tonnen.

Armin Simon von .ausgestrahlt und Franz Wagner vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) kommentieren das aktuelle VGH-Urteil:

"Die Physik richtet sich leider nicht nach den juristischen Abwägungen baden-württembergischer Verwaltungsrichter in einem Eilverfahren. Die Rißgefahr im AKW Neckarwestheim ist durch die Entscheidung des VGH Mannheim keineswegs gebannt – ganz im Gegenteil: Der Weiterbetrieb des AKW vergrößert die Gefahr weiterer Risse. Nach wie vor herrschen in dem Reaktor korrosive Bedingungen, die zu immer neuen Rissen führen. Es besteht weiter die akute Gefahr, daß rissige Rohre schon beim Auftreten von Betriebsstörungen spontan bersten. Ein derartiger Kühlmittelverlust-Störfall könnte sich bis zum Super-GAU entwickeln."

Nach Ansicht der UmweltschützerInnen führt der Strom-Konzern EnBW mit der von ihm praktizierten "Flachrechnerei" der Rissen im AKW Neckarwestheim seit Jahren Aufsichtsbehörden und Gutachter an der Nase herum. Durch diese Mittelung der Riß-Tiefe über den gesamten Rohrumfang verwandeln sich gefährlich tiefe echte Risse auf dem Papier in harmlose flache fiktive Risse. Dieses von EnBW selbst erfundene Verfahren mißachtet gleichermaßen geltende Sicherheitsvorschriften wie physikalische Gesetze.

Die baden-württembergische Atomaufsicht hat diese Flachrechnerei gefährlich tiefer Risse stets ohne jeden Nachweis akzeptiert. Erst aufgrund des Eilantrags vor dem VGH legte EnBW dann Rechenmodelle vor, welche nachträglich eine ausreichende Stabilität der Riß-Rohre nachweisen sollten. Diese Modelle gehen allerdings irreführend von einer mehr als dreimal so dicken Restwandstärke der Rohre aus wie tatsächlich gemessen (14 % bzw. 0,17 mm angenommene Restwandstärke gegenüber 0,1–4 % bzw. 0,001–0,05 mm real gemessene Restwandstärke). Als Sicherheitsnachweis für die Riß-Rohre in Neckarwestheim sind diese Rechenmodelle schlicht unbrauchbar. Die baden-württembergische Atomaufsicht nahm dies nicht zur Kenntnis.

Die Richter am VGH waren im Eilverfahren nicht willens, diese Täuschung zur Kenntnis zu nehmen. Mit Blick auf die vom AKW Neckarwestheim weiterhin
ausgehende akute Gefahr eines schweren Atomunfalls sei dies fatal, kritisieren die UmweltschützerInnen. Die vorläufige Gerichtsentscheidung im Eilverfahren entbindet die Atomaufsicht aber nicht von ihrer Pflicht, die Behauptungen der AKW-Betreiber kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen und den Betrieb des Reaktors zu unterbinden, solange keine gültigen Sicherheitsnachweise vorliegen. Dieser Pflicht ist das "Umwelt"-Ministerium in Stuttgart bislang nicht nachgekommen.

Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof mißachtet mit seinem Entscheid darüber hinaus die Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts (Wyhl-Urteil 1985), wonach ein AKW nicht bis an die Gefahrengrenze betrieben werden darf und die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden stets auf der sicheren Seite sein müssen. Genau dies ist in Neckarwestheim aber nicht der Fall: Statt den Schadensmechanismus abzustellen und für rißfreie Rohre zu sorgen, begnügt sich die Atomaufsicht damit, die Rohre einmal im Jahr auf Risse abzusuchen und darauf zu hoffen, daß in der Zwischenzeit nichts passiert. "Bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge", wie sie das Bundesverfassungsgericht bereits im Kalkar-Beschluß von 1978 gefordert hat, sieht auf jeden Fall anders aus.

Hätte das "Umwelt"-Ministerium in Baden-Württemberg seine Aufgabe in den vergangenen Jahren ernstgenommen, dann hätte es schon beim ersten Auftreten der Korrosion 2017 darauf bestehen müssen, daß die Vorschriften zur vorbeugenden Instandhaltung der Rohre in Neckarwestheim eingehalten werden und also die systematische Ursache der Korrosion beseitigt wird. Dies ist bis heute nicht geschehen.

Der bis März 2021 amtierende pseudo-grüne "Umwelt"-Minister Franz Untersteller agierte stattdessen im Interesse der EnBW und behauptete, daß trotz weiterhin vorhandener korrosiver Bedingungen im Reaktor keine Gefahr durch Rohrbrüche bestehe. Seine Amtsnachfolgerin, Thekla Walker, setzt diese unverantwortliche Politik nahtlos fort.

Kommentare
10.05.2022 / 17:59 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 10.5.. Vielen Dank !