"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Wahlen überall

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Im Januar habe ich an dieser Stelle über den Abgesang des Mode Diplomatique über die Sozial­demo­kratie gesprochen, der ausgerechnet in jenem Moment erfolgte, als in Deutschland die Sozial­demokratie nach langen Jahren wieder an die Macht gekommen war. Das nimmt eine französische Zeitung, welche sich «Welt» nennt, natürlich gar nicht erst wahr.
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11:55 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.05.2022 / 15:29

Dateizugriffe: 52

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.05.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Im Januar habe ich an dieser Stelle über den Abgesang des Mode Diplomatique über die Sozial­demo­kratie gesprochen, der ausgerechnet in jenem Moment erfolgte, als in Deutschland die Sozial­demokratie nach langen Jahren wieder an die Macht gekommen war. Das nimmt eine französische Zeitung, welche sich «Welt» nennt, natürlich gar nicht erst wahr. Es gibt insofern auch nicht viel wahrzunehmen, als die deutsche Sozialdemokratie tatsächlich keinen radikalen Bruch mit der sozialdemokratischen Politik der Vorgängerregierung Merkel vollzogen hat, an welcher sie sowieso mit beteiligt war. Nun liegen die Ergebnisse der zwei neuesten Landtagswahlen in Deutschland vor, und aus dem neutralen Süden nimmt man die Ergebnisse als Bestätigung der bisherigen Verhält­nisse wahr, auch wenn die SPD in Nordrhein-Westfahlen Stimmen an die Grüne Partei verloren hat; wir rechnen nicht wirklich mit fundamentalen Änderungen. Etwas mehr Spannung herrscht in Frankreich vor den Parlamentswahlen im Juni; die Linke hat sich zur Neuen Volks- und Sozial­union zusammengeschlossen, was für die Anhänger:innen der linken Grundsätze eine gute Nach­richt darstellt; weniger positiv ist sie beim Partei-Establishment der Sozialdemokraten ange­kom­men, die sich in Frankreich immer noch Sozialist:innen nennen und nach wie vor zahlreiche Regionalpräsident:innen stellen, also immer noch einen ansehnlichen Zugriff auf die Honigtöpfe der Macht haben, auch wenn sie bei den letzten nationalen Parlamentswahlen nur noch 7 Prozent der Stimmen ergattern konnten. Sollten sich diese Kaziken oder Brahmanen oder wie auch immer man die Machtelite der Sozialisten nennen will dazu entschließen, die neue Volksfront zu sabotieren, was angesichts der jahrelang kultivierten Ressentiments gegen die unbeugsamen Gallier nicht auszuschließen ist, dann kann die linke Volksfront nicht auf die Unterstützung der entsprechenden Netzwerke zählen, was im Endergebnis fünf bis zehn Prozent der Stimmen ausmachen kann, also einen Unterschied von bis zu zwanzig Prozent, wenn man den besten Fall mit plus zehn Prozent und den schlechtesten Fall mit minus zehn Prozent einsetzt. Die Spannung steigt; neben den pro­gram­ma­tischen Verhandlungen wird es auch um personelle Entscheide gehen, die vielleicht am Schluss den Ausschlag geben dafür, ob sich Emanuel Macron in eine Cohabitation mit einem linken Parla­ment begeben muss oder ob er relativ einfaches Spiel mit einer deutlich zersplitterten Abgeord­ne­ten­versammlung haben wird. Dass seine République en Marche wieder 30 Prozent erzielt und damit eine solide Basis für Parlamentsentscheide erringt, scheint mir eher unwahr­scheinlich.

Sollte es aber sogar für eine linke Mehrheit reichen, was ebenfalls nicht besonders wahrscheinlich ist, dann würde sich – wohl auch nicht umwerfend viel ändern, bis auf die Rhetorik, was man auch nicht unterschätzen sollte; es macht durchaus einen Unterschied, ob das gleiche Programm mit den Slogans rassistischer Hetze oder mit halbwegs vernünftigen Begründungen aufgesetzt wird. Aber groß abweichen vom präsidialen Kurs wird auch Jean-Luc Mélenchon nicht; die Akzente werden grüner sein, die Sozialprogramme etwas üppiger dotiert, aber von Vereinfachungen in der Verwaltung oder von Dezentralisierung, welche wir in unserer Alpenrepublik schon fast fetischhaft verehren, habe ich bisher nichts gelesen, und wie man den Agrarstaat Frankreich in eine moderne Digitalwirtschaft überführen will, das entscheidet sich wohl ebenso wenig auf der Ebene der Parteiprogramme als vielmehr in den zuständigen Firmen und in den Ministerien. Und so sind wir auch in Zukunft vor allem auf schönes Wetter angewiesen, wenn wir Frankreich besuchen. Meine persönliche nächste Visite ist auf Ende Mai geplant, allerdings bleiben wir in der Nähe der Schweizer Grenze, unweit des Stammhauses des französischen Autoherstellers Peugeot, der 2017 als Groupe PSA mit den Marken Peugeot, Citroën und Opel hinter VW die Nummer zwei in Europa war und im Januar 2021 mit Fiat Chrysler Automobiles fusionierte zum neuen Konzern Stellantis, die nach verkauften Fahrzeugen der viertgrößte Autoproduzent der Welt ist und vom Fiat-Spross John Elkann und dem Manager Carlos Tavares geleitet wird. Aber der Sitz befindet sich längst nicht mehr in Sochaux, sondern in Hoofddorp in den Niederlanden, der Deutschland-Hauptsitz ist aus Opel-Gründen in Rüsselsheim. Wir werden allerdings nicht die Peugeot-Fabrik in Sochaux besuchen, sondern ein Baumhaus in der Nähe von Delle an der Schweizer Grenze beziehen, ohne Strom und Internet. Wir haben vor, dort von früh bis spät die französische Nationalhymne zu singen, von der ich persönlich allerdings nur die erste Strophe auswendig kann, aber immerhin – die deutsche Nationalhymne zum Beispiel kenne ich nur von der Melodie her, im Gegensatz zur Nationalhymne der ehemaligen DDR, deren erste Strophe mir ebenfalls in Erinnerung ist: Auf­er­stan­den aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Besten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint, denn es muss uns doch gelingen, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint. Dass man diese Hymne in der Praxis nicht mehr gesungen hat, weil sie ein einiges Deutschland unterstellte, was gegen die Politik der zwei unabhängigen Staaten verstieß, hatte ich lange nicht gewusst, aber das sind auch nur Randnotizen. Dass ich mich überhaupt dafür interessiere, hängt damit zusammen, dass einer der Kardinalmängel der schweizerischen Alpenrepublik jener ist, dass unsere Nationalhymne völlig untauglich ist. Eigentlich könnte man ja diejenige der DDR übernehmen, die jetzt ja frei ist, habe ich mir gedacht, wobei man den Text schon etwas anpassen müsste, aber immerhin. Diejenige, die wir im Moment jeweils spielen und singen, ist eine Notlösung, da wir Ende der 1950-er Jahre unsere ursprüngliche Nationalhymne aufgeben mussten, weil die Engländer die Alleinrechte an der Musik für sich reklamierten, weil das nämlich auch ihre Ode an die Queen war. Diesen Text kann ich aber nicht auswendig bis auf «God save the Queen», wo in unserer alten Version «freudvoll zum Streit» oder so erklang.

Die Internationale kann man im Moment nicht singen, sie ist allzu eng mit der Sowjetunion verbunden, obwohl Stalin im Jahr 1944 eine eigene Nationalhymne einführte, die heute auch jene der russischen Föderation ist. Also beschränkt man sich, einmal abgesehen von der französischen Nationalhymne, am besten auf die Lieder von Schubert, Schumann, den Beatles und Lady Gaga. Was mich auf die Frage stößt, was eigentlich Felix Blume unterdessen so treibt, also der Rapper Kollegah? Letztes Jahr kam ein neues Album raus, das Zuhältertape, und daraus zitiere ich aus der Rotlichtsonate: «Yo, mein Name ist Kollegah, ich bin hobbymäßig Pusher, lese Tolstoi im Rolls-Royce und ficke deine Mutter. Diese Rapper und ihrn Modemarkenfetisch check ich leider wenig, wie die Cops mein Drogenfachchinesisch. Ich komm Rotlichtpaten-mässig, dominante Gestik, und die Vögel knicken schneller ein als Origamischwäne. Du machst Club-Hits für kleine Kinder? Ich stech dir auf die Brust mit dem Zeigefinger. Schluss mit der Scheiße, Spinner. Rap kann jeder Vollidiot, der sich ne Roli holt. Auf einmal kommen unbekannte Schwänze aus ihrn Löchern – Glory Holes. Zuhältertape, wenn ich ankomm mit Uzi, gibt es blutige Fehden wie bei deim Tampon, du Pussy. Wieder typisches Ratata, lyrisches Massaker; der Rest macht nur Fake-Streams wie mein künstlicher Wasserfall.» Und so weiter. Ich entschuldige mich ja auch schon. Ich wollte einfach mal wissen, ob vielleicht Kollegah in der Pandemie einer ähnlichen Gehirnwäsche unterlaufen ist wie der Xavier Naidoo, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Er ist, wie er selber sagt, ganz einfach «Back in alter Zuhältermanier, doch so fresh, als wär ich Rookie of the Year» – und daran, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer, habe ich nun doch meine Zweifel. Frisch ist das wie eine zehn Jahre lang im Kühlschrank verwahrte Banane. Und mehr fällt mir dazu auch wieder nicht ein.

Was fällt mir sonst noch ein: In Brasilien finden im Oktober Wahlen statt, und so, wie es im Moment aussieht, gibt es ein Duell zwischen Bolsonaro und Lula. Wo meine Sympathien liegen, ist eh klar, aber eines muss ich doch noch sagen: Allein die Tatsache, dass die Brasilianer:innen diesen Bolsonaro gewählt haben, hat dieses Land in meinem Rating auf CCC minus herabgestuft, und daran wird auch eine eventuelle Wiederwahl von Lula nichts ändern. So etwas macht man einfach nicht, auch wenn man noch so evangelikal und sonstwie bekloppt ist. Das Bolsonaro-Fritzfratz ist eine derart missliche Märchenfigur, dass es mich nur schon ärgert, mich über ihn aufzuregen. Klischees sind zwar nötig, aber gleichzeitig schlecht für den Verstand, und genau aus diesem Grund ist der Fritzfratz als Verkörperung sämtlicher reaktionärer Klischees ein absoluter Gräuel, eben, vor allem deswegen, weil die Brasilianer:innen ihn gewählt haben. Das ist ungefähr so, wie wenn sich ein oder eine Abiturient:in ins Abiturzeugnis selber lauter Sechser eintragen würde. So etwas kann man mit der Vernunft nicht mehr fassen, da muss man einfach die Augen schließen davor und darum bitten, dass einen irgendwer dann mal informiert, wenn er weg ist. Aber eigentlich müsste man darum bitten, dass auch die ganze Wählerschaft von Bolsonaro weg ist, und dabei handelt es sich leider um die Mehrheit der brasilianischen Wahlberechtigten. Das ist dann wieder schwierig, vor allem für unsereinen als echten Fetischisten der Volksrechte. Brasilien ist ein Beispiel dafür, in welch ungeheurem Ausmaß sich so ein Volk irren kann.

Falls Lula zurückkehrt, kann er auf jeden Fall gleich mit hohen Energiepreisen zurückkehren und damit sowohl die Sozialprogramme wieder finanzieren, die er verdienstvollerweise eingerichtet hat, wenn auch unter dem irreführenden Namen eines Grundeinkommens, aber egal; weniger verdienstvoll, das kann man jetzt schon abschätzen, wird es sein, dass er die sprudelnden Einnahmen von Petrobras wieder unter seine Schützlinge verteilen wird. Wenn die Korruption erst mal so richtig eingeführt ist in einem Staatswesen, dann ist nicht mehr viel zu machen. Was mich wiederum daran erinnert, dass am Wochenende auch im, nicht mehr korrupten, sondern unterdessen bankrotten Libanon gewählt wurde. Ich hatte noch keine definitiven Informationen zum Ausgang der Wahlen, gehe aber mit der «Zeit» davon aus, dass sich am aktuellen Kräfteverhältnis im Parlament nichts ändern wird, dass also die Hisb'Allah ihren Zugriff auf das Parlament behalten wird. In der Praxis hat das nichts mehr zu bedeuten, der Staat ist am Arsch, nicht zuletzt wegen der Hisb'Allah, deren Glaubwürdigkeit im Konflikt mit Israel nicht mal mehr mit Klopapier zu vergleichen ist, was wiederum zurückfällt auf die Verbündeten in Teheran. Das wiederum erinnert mich daran, dass ich am Wochenende den iranischen Film «A Hero» gesehen habe, der am Festival in Cannes mit dem Grand Prix du Jury ausgezeichnet wurde. Ich zitiere aus dem Werbetext der Verleihfirma: «Asghar Farhadi, der zwei Oscars gewonnen hat für The Salesman und A Separation, kehrt mit diesem feinfühligen Drama zurück in seine iranische Heimat. Gekonnt zeigt der Meisterregisseur die Bereitwilligkeit einer Gesellschaft, Menschen willkürlich zu verherrlichen und zu verurteilen. Abgerundet wird Farhadis so scharfsinnige wie fesselnde Geschichte durch Amir Jadidis herausragende Performance in der Rolle von Rahim, für den alles auf dem Spiel steht.» Dem halte ich entgegen: Ich bin nach zwanzig Minuten aus dem Kino geschlichen. Das passiert mir nicht oft, aber derart gelangweilt habe ich mich noch selten. Das Thema der mittelalterlichen Schuldhaft, die Aktivierung jeglichen schauspielerischen Klischees, die Abwesenheit von allen Bezügen zu irgendetwas, was ich für relevant halte im modernen Leben, und vor allem die unglaublich fade Performance dieses auf Jesus geschminkten Rahim, all das war zu viel für mich und mein Gemüt. Zurück blieb nur die Frage: Weshalb kriegt so ein Film den Grand Prix du Jury in Cannes? Sind das die bekannten französischen anti-amerikanischen Reflexe? Der Film als solcher müsste doch nach 15 Minuten mindestens eine Andeutung auf eventuell vorhandene Qualitäten aufblitzen lassen. Ich habe nichts gesehen.