"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Alle reden von Inflation

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Im Jahr 1971 hob der damalige US-Präsident Richard Nixon die direkte Anbindung der US-Währung ans beziehungsweise die Konvertibilität des Dollars in Gold auf. Der Preis pro Unze Gold kletterte darauf von 40 Dollar auf 190 Dollar im Jahr 1975, fiel zwei Jahre später kurzzeitig wieder zurück auf 120 Dollar und etablierte sich in den 1980-er Jahren bei etwa 400 Dollar pro Unze, zehn Mal soviel wie vor dem Ende des Vietnamkriegs und dem anschließenden Ölpreisschock.
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11:22 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 31.05.2022 / 20:23

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 31.05.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Im Jahr 1971 hob der damalige US-Präsident Richard Nixon die direkte Anbindung der US-Währung ans beziehungsweise die Konvertibilität des Dollars in Gold auf. Der Preis pro Unze Gold kletterte darauf von 40 Dollar auf 190 Dollar im Jahr 1975, fiel zwei Jahre später kurzzeitig wieder zurück auf 120 Dollar und etablierte sich in den 1980-er Jahren bei etwa 400 Dollar pro Unze, zehn Mal soviel wie vor dem Ende des Vietnamkriegs und dem anschließenden Ölpreisschock.
Das schien vielen Ökonomen so etwas wie ein natürliches Niveau des Goldpreises zu sein; sie rechneten damit, dass die Feinunze Gold im Lauf der Zeit ungefähr parallel zur Teuerung an Wert gewinnen würde. Aber ihre Prognosen wurden enttäuscht. Ende der 1990-er Jahre gab das Gold nach auf 250 Dollar und legte erst nach der Dotcom-Krise wieder zu, von 2002 an, jetzt aber endlich mehr oder weniger kontinuierlich auf etwa 1600 Dollar pro Unze, erreichte während der Finanzkrise 2008 ganz kurz fast 2000 Dollar, rutschte nochmals ein paar Jahre lang ab auf etwa 1300 Dollar und notiert seit etwa zwei Jahren bei 1800 bis 2000 Dollar pro Unze. In Euro steht der Goldpreis aktuell bei 1700 pro Unze, nachdem er 2002 bei unter 400 Euro begonnen hatte und ebenfalls während der Finanzkrise einen etwas länger dauernden Höhenflug auf fast 1400 Euro getätigt hatte.

Was sagt uns das? Nichts oder nicht viel. Ich führe den Goldpreis hier nur aus dem Grund auf, weil Gold allgemein als inflationssichere Anlage angesehen wird. Nun – die USA weisen für das Jahr 1982 eine Inflationsrate von 6.16% aus nach den gewaltigen Inflationsschüben von 13.3%, 13.5% und 10.38% zwischen 1979 und 1981. 1983 lag die Rate dann bei 13.6%, 1984 bei 4.37%, 1985 bei 3.16%, und 1986 sank die Rate auf unter 2%. Nicht ohne sich umgehend zu erholen: 1987 stand sie wieder bei 3.58%, 1989 bei 4.79% und 1990 bei 5.42%. Dann pegelte sich der Wert etwas unter 3% ein. In all diesen Jahren erwies sich der Goldpreis in dem Sinne als inflationsresistent, als er sich wie gesagt praktisch nicht veränderte, also in den 22 Jahren bis 2002 70 bis 80 Prozent seiner Kaufkraftsub­stanz verlor, wenn man mal eine durchschnittliche Inflationsrate von 3% unterstellt.

Und? Und nichts weiter. In den 2010-er Jahren betrug die Teuerung zwischen 0 und 2%, sodass wir für den Zeitraum zwischen 1980 bis 2020 eine Geldentwertung von, sagen wir mal 200% annehmen können; in dieser Zeit stieg der Goldpreis nach dem Substanzverlust von fast drei Vierteln in der ersten Hälfte, dann doch noch auf fast das Fünffache, was jene Ökonominnen in den Irrsinn treiben müsste, welche nach einem empirisch belegbaren Verlauf der Inflation beziehungsweise der sie verursachenden Triebkräfte suchen.

Selbstverständlich liegen die Triebkräfte der Teuerung nicht zuerst im Verhältnis von Dollar zu Gold, sondern bei den Entwicklungen in der Gesamtwirtschaft. Hier wird man für die letzten vierzig Jahre verschiedene Ursachen oder Treiber finden, zum Beispiel die Globalisierung mit der Ver­la­ge­rung und vollständigen Automation der Produktion, was zum inneren Wertzerfall der Produkte führte und damit auch auf eine gewisse Weise ihrer Geldsubstanz, abgesehen von einer völlig neuen Dimension an globalen und lokalen Geldflüssen und von der Verschiebung von Macht- und Einflusssphären; Globalisierung und Automatisierung finden wir allerdings in den Inflationsraten nicht direkt gespiegelt. Die Explosion der Digitalisierung hatte ihre Folgen in der Waren- und Konsumwelt, die wir ebenfalls nur annähernd auf ihre Auswirkungen auf die Inflation beurteilen können; hier wäre die Entwicklung der Automobilpreise bei einer riesigen Verbesserung der Ausstattung ein mögliches Beispiel. Jene Produktions- und Konsumfaktoren, die nicht direkt globalisierbar sind, also vor allem die Energie, hat eine eigene Dynamik; wir erinnern uns daran, dass der Erdölpreis vor der Finanzkrise 2009 mal bei 150 Dollar pro Fass WTI stand, während der Finanzkrise auf unter 50 Dollar fiel, sich dann fünf Jahre lang bei knapp 100 Dollar hielt, um wieder in die Region von 50 Dollar zu plumpsen und dann während der Pandemie für ein paar Tage lang absurderweise auf unter null fiel. Da musste man 40 Dollar bezahlen, um ein Fass Erdöl zu verkaufen. Jetzt steht er wieder bei über 100 Dollar. Parallelen zum Goldpreis? Nicht wirklich; zur Inflation? Kaum. Für 2007, also das Jahr des Erdöl-Höchstpreises, weist die Statistik für die USA eine Inflationsrate von 2.87% aus, also einen schönen Durchschnittswert.

Was will ich damit sagen: nicht besonders viel, außer dass ich das Lamento verschiedener Mei­nungs­mechaniker:innen über die aktuelle Inflationswelle für wenig zweckdienlich halte. Die meisten sehen sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass die Notenbanken viel zu viel Geld gedruckt haben nach der Finanzkrise. Ob es zuviel war, kann ich nicht sagen, da ich nicht über ein Standard-Mess- und -Eichgerät dafür verfüge; aber viel war es auf jeden Fall, und ich sehe einen direkten Zusammenhang mit der Aufblähung des Finanzkapitals, während es in der Konsumwelt, also in der realen Teuerungssphäre, eigentlich zu überhaupt keinen Veränderungen kam, und das ist bereits die Antwort auf das erwähnte Wehklagen: Nonsense, die offenen Geldschleusen der Notenbanken hatten keinerlei Auswirkungen auf die Inflation. Was allerdings sehr erstaunlich ist, auch im Nach­hinein. Aber die aktuell hohe Geldentwertung lässt sich damit nicht erklären. Für diesen Teuerungs­schub liegt die Erklärung auf der Hand, sie wird auch oft korrekt abgegeben; es sind die Aus­wir­kun­gen der Pandemie auf die globalen Handelsflüsse, die selbstverständlich vielfältiger Natur sind, bis hin zur Zurückhaltung im Konsum, von den Verwerfungen im Lohn- und Einkommensbereich gar nicht zu sprechen. Bis sich so etwas wieder eingerenkt hat, sind Inflationsraten von 5% und, vorübergehend, auch mehr kein Anlass zu Sorge und Betrübnis. Sorge und Betrübnis lösen höchstens jene intelligenten bürgerlichen Ökonominnen und Ökonomen aus, welche in einem Stammhirn-Reflex davor warnen, jetzt höhere Löhne zu fordern und gar zuzugestehen, weil dann die Wirtschaft unweigerlich in Schieflage käme und Schiffbruch erlitten. Wenn ihr irgendwo solche, in der freien Natur durchaus noch häufig vorkommende Exemplare ortet, dann fangt die bitte ein und bringt sie ins Raritäten- und Antiquitätenkabinett der Universität Leipzig. Wirklich, die traditionelle oder konservative Hälfte der Ökonominnen lässt unsereinen nur noch in Tränen ausbrechen: Solche Gegnerinnen haben wir nicht verdient!

Es ist ja wahr, dass auch auf der linken Seite des politischen Spektrums nicht gerade der Olymp oder das Walhalla der Ökonom:innen zu finden ist. Thomas Pikettys wichtigste Leistung war die statistische Untermauerung der These, dass die Reichen reich und die Armen arm sind, um das mal etwas schnippisch zu sagen; vom zweiten Band, Kapital und Ideologie, ist mir vor allem haften geblieben, dass er die Verwandlung der linken Parteien und Bewegungen von Arbeiterparteien in Parteien der intellektuellen Elite ebenso beschreibt wie kritisiert. Das ist selbstverständlich stich­haltig, führt aber nicht allzu weit, denn diese Verwandlung hat nicht nur mit der Machtergreifung und Machterhaltung der Sozialist:innen und Sozialdemokrat:innen zu tun, sondern auch mit der grundlegenden Verwandlung der Arbeiterklasse in eine, zum Beispiel, Arbeiter:innen-Klasse, welche geprägt ist von der Proletarisierung universitärer Berufe zum einen, der massiven Verbes­se­rung der Arbeitsbedingungen der Produktivarbeiter:innen zum anderen, nämlich in Europa, und dies nicht zuletzt deswegen, weil die sinntötenden repetitiven Arbeiten schon längstens abgewandert sind, zuerst nach China und dann nach Malaysia und Bangladesch, soweit sie eben nicht ratio­na­lisiert und automatisiert wurden. In Europa ist es längst nicht mehr sinnvoll, Politik und Gesell­schaft unter dem Hauptgegensatz von Kapital und Arbeit zu analysieren, auch wenn die beiden Pole nach wie vor existieren. Und genau das wäre die Leistung, nicht so sehr einer Ökonomin als vielmehr einer politischen Ökonomin: die aktuellen Kraftlinien in unseren Gesellschaften nach­zu­zeich­nen und auf dieser Grundlage dann die Zukunft zu skizzieren. Eine Zukunft notabene, die bereits Realität ist, soweit es die materiellen Umstände betrifft; grundsätzlich sind unsere Gesellschaften dank der Automatisierung befreit von den Arbeitszwängen, und dies äußert sich dann auch in zum Teil recht fortgeschrittenen Arbeits­bedin­gun­gen und auch in zahlreichen Möglichkeiten der Berufswahl und ganz allgemein der Lebensgestaltung.

Dies ist die echte Misere der linken politischen Ökonomie: dass sie sich nicht mit der Zukunft beschäftigt, sondern sich an alte Gesellschaftsbilder klammert und gerade mit der permanenten Beschwörung der Schere zwischen Reich und Arm von wirklichen Lösungen eher ablenkt als dass sie welche entwirft. Für die Menschen im deindustrialisierten Norden Frankreichs zum Beispiel ist die Kapitalismuskritik auf Dauer demoralisierend, weil sie sie in ihrer Opferrolle festhält. Ihnen ist nur zu helfen mit einer tragfähigen Beschäftigungspolitik, also mit der Bereitstellung von Arbeitsplätzen in der Informatik zum Beispiel oder generell im Startup-Bereich, wo sehr viel Kreativität freigesetzt wird, zugegebenermaßen auch für authentischen Nonsense, aber immerhin. Wie man in Gegenden wie im Norden Frankreichs ein entsprechendes Umfeld schafft, das ist die Frage. Sie entscheidet am Schluss auch darüber, ob man im Norden Frankreichs den Front National wählt oder nicht, vielleicht sogar eine noch zu gründende Partei mit einem fortschrittlichen Programm. Notwendig dafür ist eine anständige Menge an Kapital sowie eine kritische Masse an kreativen oder sogar intelligenten Menschen, welche ihre Flausen nicht nur am Biertresen, sondern auch im Alltag umsetzen in verschiedene nützliche und unnütze Dinge. Zum Beispiel.
Solange die Linke keine solchen Programme entwirft, hilft alles Wehklagen über die zunehmende Schere zwischen Reich und Arm überhaupt nichts. Denn die Reichen, die ihren Jahreskalender aufteilen in eine Saison in Miami, eine in Cannes, eine in St. Moritz und eine in Melbourne, die tragen zur gesellschaftlichen Agenda überhaupt nichts bei, will sagen, sie beeinflussen sie halt auch nicht. Einmal abgesehen davon, dass solche Jahreskalender in immer breiteren Bevölkerungs­schichten Realität werden, wenn auch vielleicht noch nicht mit Miami, Cannes, St. Moritz und Melbourne, so aber doch mit Gran Canaria, Mallorca, den Seychellen, Thailand und Ischgl. Das ist eine Ausdrucksform des allgemeinen und allgemein steigenden Wohlstandes. Oder nochmals anders gesagt: Wenn halt die Linke nicht imstande ist, solche Programme zu entwerfen, so tut es recht pragmatisch die ökonomische Realität. Welche sich letztlich auch von den Debatten und Wehklagen über die Inflation und über andere schöne ökonomische Probleme nicht aus der Bahn werfen lässt.