"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ukraine Anfang Juni

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Vielleicht betreibe ich selber Leichenschändung, wenn ich mich noch einmal über den von seinen Anfängen bis heute niemals neuen und niemals Philosophen Bernard-Henry Lévy ärgere. Nach einem ersten Aufenthalt in der Ukraine, weitab von der Front, ließ er nun einen zweiten folgen, den er auch gleich zu einem Dokumentarfilm sozusagen aus seiner Feder ausgestaltet hat. Als Begleit- und Werbetext beschickte er unter anderem die italienischen Medien mit einer Folge von Artikeln, die ich mit, wie erwähnt, durchaus morbidem Interesse überflogen haben.
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11:24 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.06.2022 / 22:30

Dateizugriffe: 72

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 07.06.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Vielleicht betreibe ich selber Leichenschändung, wenn ich mich noch einmal über den von seinen Anfängen bis heute niemals neuen und niemals Philosophen Bernard-Henry Lévy ärgere. Nach einem ersten Aufenthalt in der Ukraine, weitab von der Front, ließ er nun einen zweiten folgen, den er auch gleich zu einem Dokumentarfilm sozusagen aus seiner Feder ausgestaltet hat. Als Begleit- und Werbetext beschickte er unter anderem die italienischen Medien mit einer Folge von Artikeln, die ich mit, wie erwähnt, durchaus morbidem Interesse überflogen haben.
Jeder Mensch braucht seinen täglichen Ärger, und jeder Mensch hat seine Lieblings-Täterfiguren, und der quasi neue und noch viel quasireligiöser Philosoph Bernard-Henry Lévy zählt zu den meinen, naja, ich will nicht übertreiben: Er zählt nicht zu meinen Lieblings-Ärgerfiguren, aber er zählt zu den immer wieder gern gesehenen Ärgerfiguren, er befriedigt mein Ärger-Bedürfnis so zuverlässig wie seinerzeit Angela Merkel jenes der Pegida. – Was ist übrigens aus diesen patriotischen Europäer:innen gegen die Islamisierung des Abendlandes geworden? Ziehen die immer noch am Morgen zu den Wohnsitzen anderer Europäer:innen, oder haben sie Blasen an Füßen und Händen? Hier oben auf den neutralen Berggipfeln haben wir schon länger nichts mehr gehört von diesen Wandervögeln, die mich schon immer verwirrt haben mit ihrem Abendland. Abendland und Morgenland, das sind doch Kategorien aus der Zeit von Goethe und Schiller, und mit Kultur haben die Pegida-Krakeeler sowenig zu tun wie Bernard-Henri Lévy mit Philosophie.

Also ließ uns Bernard-Henri Lévy wissen, dass Russland mit seiner Blockade der Getreide-Exporte aus der Ukraine nichts anderes betreibe als eine Wiederholung des Holodomor, also die Ermordung durch angeordnetes Verhungern von zwei bis drei Millionen Ukrainer:innen zu Beginn der dreißiger Jahre im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft. Diesmal handele es sich aber um den Holodomor an der Bevölkerung Afrikas, welche wegen der ausbleibenden Getreidelieferungen aus der Ukraine ebenfalls zu Millionen verhungern müsse. Einmal abgesehen davon, dass der ukrainische Präsident zwei Tage danach ein Transportverbot von weißrussischem Getreide über ukrainisches Territorium verhängte, über welches mit Bernard-Henri Lévy noch zu diskutieren wäre, wenn darüber überhaupt zu diskutieren wäre, ist über einen solchen, nicht nur über 90 Jahre hinweg, sondern insgesamt absurden Vergleich eben nicht zu diskutieren, sondern man muss einfach aufpassen, dass man kein Loch in die Schläfe bohrt, wenn man mit dem Finger dorthin tippt. Mit der gleichen Kelle hatte Bernard-Henry Lévy schon angerichtet, als er in einem Vorläufer-Artiel die wehrhafte Verteidigung der Asow-Stahlwerke in Mariupol mit der Schlacht von Stalingrad gleichsetzte. Eine andere Kelle verwendete er dagegen, als er die Aussagen eines US-amerikanischen Politikers am Weltwirtschaftsforum in Davos kritisierte und eine welthistorisch anmutende Einordnung von sich gab: dieser Politiker hätte im Fall der Ukraine als Metternich auftreten wollen, hätte sich aber als Chamberlain erwiesen. Er zeigte damit den eigenen Horizont mit dem Chefdiplomaten Metternich vom Wiener Kongress im Jahr 1815 und dem englischen Appeasemant-Premierminister Neville Chamberlain, dem Vorgänger von Churchill. Allerdings ist das Objekt dieser Übung, nämlich der amerikanische Politiker, etwas eigenartig: Bernard-Henri Lévy erhebt solch schwere Vorwürfe ausgerechnet gegen Henry Kissinger, von dem die Welt nicht einmal wusste, dass er überhaupt noch lebt.

Es ist ein Wunder, dass die italienische Zeitung Repubblica diesem eingeborenen Schwätzer eine Tribüne bietet; es hat wohl mit der umfassenden Hochachtung der Redaktion vor allem zu tun, was mit Kultur angeschrieben ist und noch viel mehr mit Philosophie. Das ist ja zunächst nicht von Übel, bloß sollte sich diese Redaktion mal mit etwas mehr als mit Etiketten, nämlich mit den Inhalten auseinander setzen – dieser Bernard-Henri Lévy ist wirklich nicht auszuhalten. Der Holodomor, das übertrifft ja noch sämtliche Übertreibungen, welche aus dem Selenski-Lager am Laufmeter produziert werden. Im Gegensatz zu Bernard-Henri Lévy mache ich dies dem Selenski allerdings nicht zum Vorwurf, denn der steckt in einem Krieg, der unter anderem mit dem Mittel der Propaganda geführt wird, wie eigentlich jeder Krieg. Übrigens hat die ukrainische Regierung letzthin eine Mitarbeiterin des Informations-, will sagen Propaganda-Ministeriums entlassen, weil sie allzu dick aufgetragen hat mit Lügen über russische Gräueltaten, Kriegsverbrechen und sonstige Charakterschwächen. Das schreibe ich Selenski gut, den ich ansonsten nicht besonders mag, und zwar nicht wegen seiner aktuellen Rolle, die er mit Bravour spielt, sondern weil diese Rolle und überhaupt der ganze Ausstoß des ukrainischen Informations-, will sagen Propaganda-Ministeriums von der Lügenpresse, wie die Pegida sagen würde, während ich selber die Formulierung: vom sozialdemokratischen Medienkonsens bevorzuge; also wird der ganze Ausstoß des ukrainischen Propaganda-Ministeriums vom sozialdemokratischen Medienkonsens eins zu eins übernommen und garniert mit allen Sorten von Zeugenberichten aus Krankenhäusern, Schulen, direkt, indirekt, quer-direkt oder auch überhaupt nicht betroffenen Personen. War die Berichterstattung zu Beginn des Krieges noch geprägt von der Perplexität über den russischen Überfall, so hat sie unterdessen die Qualität der Berichterstattung aus dem Ersten Weltkrieg erreicht.

Man darf in diesem Krieg durchaus parteiisch sein, und ich brauche hier nicht einmal zu sagen, für wen, aber das schließt eine sachliche Information zum Kriegsgeschehen an und für sich nicht aus. Es schließt auch nicht aus, dass man die Propaganda der ukrainischen Regierung als solche darstellt. Von der russischen Propaganda braucht man so etwas gar nicht zu sagen, die ist derart idiotisch, dass sie sich von alleine erledigt. Der antirussische Tenor der Berichterstattung hat unterdessen dagegen ein Ausmaß angenommen, das jede Vernunft sprengt. Ansätze dazu waren immer schon vorhanden, zum Beispiel in dem Meldungen über die Trollfarmen in und die Cyberattacken von Russland. Dass auch die US-Amerikaner einen Geheimdienst unterhalten, sogar die Italiener und zu guter Letzt sogar die neutrale Schweiz, welche selbstverständlich die ganze Klaviatur der Cyberkriminalität bespielen, nicht zuletzt, um sie überhaupt zu bekämpfen, aber mit Sicherheit auch, um in russischen Militär- und Zivilanlagen Spionage zu betreiben, davon habe ich bisher noch überhaupt nichts gelesen. Wirklich, propagandatechnisch leben wir im Jahr 1915. Vielleicht kommt die Branche bei Gelegenheit wieder mal zu etwas mehr Bewusstsein.

Zum Kriegsverlauf in der Ukraine kann ich keine vernünftigen Informationen beitragen. Selbstverständlich war ich überrascht, wie die ganze Welt auch, dass der russische Einmarsch offensichtlich vollkommen dilettantisch angelegt war und in keiner Art und Weise mit Widerstand von Seiten der ukrainischen Armee gerechnet hatte. Wenn die russische Cyberspionage aber so effizient ist, wie es die sozialdemokratischen Durchschnittsmedien immer wieder auflegen, so muss Russland doch gewusst haben, dass die Nato seit acht Jahren über 100'000 ukrainische Militärpersonen, vom Bodenpersonal bis zum Generalstab, intensiv trainiert hatte, wie dies bekanntlich die sozialdemokratische US-Presse schon vor zwei Monaten gemeldet hat, nachdem relativ rasch mal durchgesickert war, dass in letzter Minute Nato-Personal aus der Ukraine geflüchtet war bei Kriegsbeginn. Diese Ausbildung scheint ihre Früchte gezeitigt zu haben. Auf welchen strategischen Überlegungen der Rückzug Russlands aus der Region vor Kiew beruht, erschließt sich mir nicht; offenbar ging es auch hier in erster Linie um Lieferketten, die im Osten der Ukraine sicherer zu bedienen sind als dort. Trotzdem: Nach wie vor erscheint die Sowjetarmee vom Potenzial her weitaus stärker als die ukrainischen Streitkräfte, wenn einmal genug Mensch und Material herbeigeschafft ist. Einmal abgesehen davon, dass im Moment zwar niemand offen davon spricht, dass aber trotzdem die Drohung des Einsatzes einer taktischen Atomwaffe in der Luft schwebt. Mehr weiß ich nicht. Wie alle vernünftigen Menschen hoffe ich nach wie vor darauf, dass der Krieg möglichst schnell beendet wird, aber ich habe keine Ahnung davon, wie die Kriegsziele der Russen in der Zwischenzeit aussehen. Jene der Ukraine sind da deutlich einfacher.

Es sieht aber so aus, als würde die Late-Night-Horror-Show von Selenski weiter gehen, solange sich Typen wie Boris Johnson mit Kriegstreiberei aus seinem persönlichen Schlamassel in London herausredet. Wer hat noch nicht, wer will noch mal – ich möchte sagen, dass ganz am Anfang dieser Show die Solidaritätsbezeugung noch ungefähr das Gleichgewicht hielt mit der Selbstinszenierung. In der Zwischenzeit kann von Solidarität keine Rede mehr sein, wenn Selenski mit seinen Gästen durch das unterdessen wieder weitgehend ruhige Kiew schreitet. Aber so ist das nun mal.

Die Repubblica lässt aber nicht nur Bernard-Henri Lévy zu Wort kommen. In der Montagsausgabe findet sich zum Beispiel ein Artikel über den amerikanischen Ökonomen Stephen Roach, der eine Rezession ab dem nächsten Jahr für unausweichlich hält. Weshalb? Weil die US-amerikanische Regierung zuviel Geld an die Bevölkerung verteilt hat, zuerst, was deren Kaufkraft gestärkt hat, und im Moment seien die Lohnforderungen der Gewerkschaften katastrophal, weil das alles die Inflation anheize, was die amerikanische Notenbank viel zu spät erkannt habe. Dann zitiert er, neben den Inflationszahlen vom Ende der Carter- und dem Beginn der Reagan-Regierung, die ich an dieser Stelle bereits vor einer Woche vorgelesen habe, den damaligen Notenbankchef Volcker, welcher die Inflation durch eine Erhöhung der Leitzinsen auf bis zu 17 Prozent in den Griff gekriegt habe, was verbunden gewesen sei mit einer schmerzhaften, aber kurzen Rezession, nach welcher die Reaganomics dann voll in Gang gekommen seien. Man sieht schon, was da in den Ökonomen-Hirnen alles abläuft: Das Übel liegt nicht in der unglaublichen Vervielfachung der Finanzkapitalien,sondern in der Erhöhung der Kaufkraft der Bevölkerung. Und dies vierzig Jahre nach den Reaganomics, welche völlig andere Voraussetzungen hatten und auch schufen, unter anderem mit der Liberalisierung der Kapitalmärkte. Es ist einfach die verhockte neoliberale Denkschule, die hier wieder mal zum Ausbruch kommt.

In der gleichen Nummer findet sich noch eine Reportage über die Rohstoffkonzerne, die im letzten Jahr ihren Umsatz auf 800 Milliarden Dollar gesteigert haben. Aus neutraler Sicht einigermaßen pikant daran ist die Tatsache, dass diese Konzerne alle ihren Sitz in der Schweiz haben. So ist zum Beispiel die Rede von Glencore, die früher mal von Marc Rich gegründet worden war, der in den USA wegen Verstoßes gegen verschiedene Gesetze verurteilt wurde, fragt mich nicht mehr, welche, und dann vom fantastischen US-Präsidenten Bill Clinton begnadigt wurde, weil der ihm ich weiß nicht wieviele Millionen Dollar für die Partei oder für seine Stiftung geschmiert hatte. Heute ist sie bekannt wegen ihrer Schmiergeldzahlungen an verschiedene Potentaten der dritten Welt im Gegenzug für die Erteilung von kostengünstigen Konzessionen für die Ausbeutung von Rohstoffen. Im Jahr 2021 erzielte sie einen Gewinn von 5 Milliarden Dollar nach einem Verlust von 1.9 Milliarden Dollar im Vorjahr, der vor allem der Pandemie zugeschrieben wird. Der Betriebsgewinn stieg von 4.4 auf 14.5 Milliarden. Glencore macht übrigens in Zürich heute Reklame damit, dass sie auch in der Dritten Welt eine sozialverträgliche Unternehmenspolitik betreibe. Man sollte die Verantwortlichen in der Führungsspitze und in der PR-Abteilung allesamt zuerst in die Late-Night-Horror-Show von Wladimir Selenski und anschließend an die Front gegen die Russen schicken.

Kommentare
09.06.2022 / 18:13 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 9.6.. Vielen Dank !