"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Wahlen in Nigeria

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Das ehemalige Mitglied des Aufsichtsrates der Südafrikanischen Entwicklungsbank, aktuell Leiterin des Zentrums für Entwicklung und Unternehmertum an der Universität Witwatersrand, Johannesburg, Trägerin des Sir Antony Fisher Memorial Prize im Jahr 2012 und Bestandteil des World Economic Forum, Frau Professor Ann Bernstein, bezeichnete im Februar dieses Jahres den Plan für wirtschaftlichen Wiederaufbau und Erholung der südafrikanischen Regierung als Katas­trophe. «Es ist an der Zeit, das Kind zusammen mit dem Badewasser auszuschütten», schrieb sie in ihrem Blog.
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10:43 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.06.2022 / 15:43

Dateizugriffe: 81

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.06.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das ehemalige Mitglied des Aufsichtsrates der Südafrikanischen Entwicklungsbank, aktuell Leiterin des Zentrums für Entwicklung und Unternehmertum an der Universität Witwatersrand, Johannesburg, Trägerin des Sir Antony Fisher Memorial Prize im Jahr 2012 und Bestandteil des World Economic Forum, Frau Professor Ann Bernstein, bezeichnete im Februar dieses Jahres den Plan für wirtschaftlichen Wiederaufbau und Erholung der südafrikanischen Regierung als Katas­trophe. «Es ist an der Zeit, das Kind zusammen mit dem Badewasser auszuschütten», schrieb sie in ihrem Blog.
Am 13. März bezeichnete sie den Mangel an Glaubwürdigkeit der Regierung als Haupthindernis für die vorgeschlagenen Reformen. Nun veröffentlichte ihr Institut einen neuen Bericht, gemäß dem sich Südafrika kein bedingungsloses Grundeinkommen leisten kann. Vor etwa zwanzig Jahren stand man knapp vor der Einführung eines solchen Grundeinkommens, das aller­dings sehr knapp bemessen war, aber doch an alle Einwohnerinnen des Landes gegangen wäre. Für die Finanzierung war eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 7% vorgesehen, eine Steuer­maß­nahme, die man damals in zahlreichen Ländern unter anderem Europas sah, wo die Mehreinnahmen allerdings nicht der Finanzierung eines Grundeinkommen dienten, aber das ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall sind die Volkswirtschaften an solchen erheblichen, aber nicht ruinösen Steuererhöhungen durchaus nicht gescheitert. In Südafrika war es damals wohl vor allem der Druck der Politik, welcher die Einführung verhinderte; schließlich ging es darum, die Extravaganzen der Führung des African National Council zu finanzieren, die nach dem Amtsantrit von Thabo Mbeki immer buntere Blüten trieben und am Schluss in der Person von Jacob Zuma ihrem Höhepunkt zugeführt werden konnten. Jetzt hat sich die Lage unter Cyril Ramaphosa einigermaßen norma­lisiert, und jetzt ist es eben das Zentrum für Entwicklung und Unternehmertum, welches trotz extrem hohen Armutsraten im Land mit über 60% der Bevölkerung unter der Armutsschwelle vor einem Grundeinkommen warnt. Begründung: Die Staatsausgaben seien schon jetzt viel zu hoch, unter anderem mit Sozialausgaben, die das Dreifache jener in anderen Entwicklungsländern ausmachten. Ein Grundeinkommen würde wohl die Kaufkraft der Armen stärken, würde aber wegen der steigenden Steuerlast oder aber Staatsverschuldung das Wirtschaftswachstum ver­lang­samen und die wirtschaftliche Nachhaltigkeit schwächen. Aktuell fließen um die 44 Milliarden Rand in die Sozialprogramme; die Grundeinkommens-Befürworter:innen fordern für ihr Programm 200–300 Milliarden. Das sei mit einfachen Steuererhöhungen nicht zu schaffen, meint Frau Bernstein. Auf jeden Fall wäre es auch in diesem Land ungefähr ein Drittel des Brutto­sozial­pro­duktes, wie in den meisten anderen Staaten mit einer einigermaßen funktionstüchtigen Wirtschaft.

Ich bin allerdings zuversichtlich, dass es nicht die Warnung von Frau Professor Ann Bernstein braucht – die Partei African National Council ist noch nicht soweit gediehen, dass sie die Staatseinnahmen nicht als Reservoir für sich selber betrachten und ein Grundeinkommen tatsächlich in Erwägung ziehen würde. Dessen Finanzierung selbstverständlich machbar wäre, auch in Südafrika.

Ein erster Tropfen auf den heißen Stein wäre es zum Beispiel, noch vor jeglicher Steuererhöhung das Gupta-Firmenkonglomerat zu verstaatlichen, das Diebesgut jener Familie also, die seit Anfang des Jahrtausends enge Kontakte zu den südafrikanischen Präsidenten unterhielt und vor allem Jacob Zumas Politik mehr oder weniger vollumfänglich gekauft hatte. Da wären sicher mal um die 200 Milliarden Rand zu holen, die an laufenden Einnahmen um die 20 Milliarden einbringen würden. Die Gupta-Brothers Rajesh und Atul befinden sich im Moment in den Vereinigten Arabischen Emiraten, ein internationaler Haftbefehl wurde ausgestellt; das Auslieferungsverfahren dürfte aber eine ganze Weile in Anspruch nehmen, nicht zuletzt deshalb, weil die südafrikanischen Behörden mit aufreizender Langsamkeit vorgehen, was vielleicht ein langer Schatten der jahrelangen Bestechung der Regierung durch die Familie ist.

Auch sonst ist die südafrikanische Gegenwart von Korruption durchzogen wie geädertes Sied­fleisch. Bei der Vergabe einer Ausschreibung über 2 Milliarden Rand für den Sicherheitsdienst im öffentlichen Sektor in der Provinz Johannesburg kamen 17 Unternehmen zum Zug, die zum Teil keinerlei Erfahrung im Sicherheitsbereich haben oder über kein zertifiziertes Sicherheitspersonal verfügen. Auch innerhalb der regierenden ANC brechen alle paar Monate Streitereien aus. In einer Regionalpartei haben die Mitglieder die Führung vor Gericht gezogen, weil sie nach Ablauf ihrer Amtsdauer nicht zurückgetreten und Neuwahlen organisiert haben. Man weiß da offensichtlich, was man hat, wenn man in der Politik ist. Und so weiter.

Dann gibt es die andere Seite Südafrikas, und die sieht zum Beispiel so aus, als würde Südafrika zu einem führenden Standort in der Impfstoff-Forschung; jedenfalls stellt man gerade das größte For­schungslabor auf dem ganzen Kontinent fertig, in dem die Corona-Impfstoffe geprüft und ent­wic­kelt werden sollen. Auch sonst hat die südafrikanische Wissenschaft einen guten Ruf, und die Wirt­schaft gilt als stabil und zum Teil sehr hoch entwickelt. Ein wahrer Zaubersack, mit anderen Worten, ein Land, in dem zahlreiche Gegensätze zwischen Norden und Süden von einer einzigen Grenze zusammen gehalten werden.

Nächstes Jahr finden in Nigeria Präsidentschaftswahlen statt. Der regierende All Progressive's Congress hat Bola Ahmed Adekunie Tinubu zum Kandidaten erkoren, ein Politiker und Geschäftsmann, dem auch schon Korruption und Geldwäscherei vorgeworfen wurden, der aber in den entsprechenden Verfahren freigesprochen wurde; aus ein paar tausend Kilometern Distanz lässt sich nicht beurteilen, was an den Vorwürfen substantiiert und was Bestandteil von Intrigen war. Beides gehört zum politischen Spiel, übrigens nicht nur in Afrika, wie man weiß. Tinubu dürfte die Wahlen gewinnen und damit der Nachfolger werden von Muhammadu Buhari, der sich 2015 gegen den damals amtierenden Goodluck Jonathan durchgesetzt hatte und 2019 wiedergewählt wurde. Die Epoche der friedlichen Machtübergaben in Nigeria geht also weiter; begonnen hat sie erst vor 24 Jahren, und wir wissen, dass in anderen Ländern der Subsahara-Zone gerne mal das Militär die Macht übernimmt, was das Beispiel Nigerias erst recht zum Vorzeigeprojekt macht. Bola Tinubu ist ein Moslem aus dem christlichen Süden; hier gab es vor zwei Wochen Schlagzeilen, als eine christliche Kirche überfallen wurde, wobei 40 Menschen ums Leben kamen; bisher hatten sich die religiösen Zwischenfälle weitgehend auf den Norden des Landes beschränkt. Allerdings ist man weder bei diesem Angriff noch bei den Ereignissen im Norden wirklich sicher, was die echten Gründe für die Angriffe und für die Bildung von Guerilla-Gruppen sind, die dann jeweils unter religiösem Namen auftreten.

Tinubu versteht jedenfalls auch etwas von Erdöl-Geschäft, was für Nigeria ein Vorteil sein könnte. Seine wirtschaftliche Maxime lautet sehr westlich Vollbeschäftigung. Wie man so etwas in Nigeria anstellen könnte, ist nicht ganz klar, aber er begründet diese Priorität damit, dass es in einem Land wie Nigeria eben nicht in erster Linie um Geld gehe, sondern eben um Industrialisierung, das heißt um das ganze Netzwerk rund um die Beschäftigung, einschließlich verschiedener Denk- und Handlungsmuster im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Mit anderen Worten: Was bei uns ein Modewort für Ökonom:innen und Politiker:innen ist, hat in einem Entwicklungsland eine völlig andere Bedeutung, was übrigens auch die Grundeinkommens-Debatte betrifft: Für die Entwicklung der Strukturen reicht es nicht aus, nur gewisse Geldmengen unter die Leute zu bringen. Immerhin kann in dieser Debatte offen bleiben, ob die Strukturen tatsächlich in jedem Fall den mühsamen Weg über Niedriglohnsektoren und solchen Schmarren nehmen müssen; wenn wir uns die explosionsartige Verbreitung der Mobiltelefonie auf der ganzen Welt vergegenwärtigen, die man auf ihre Art auch als Leit-, wenn nicht -industrie, so doch -produkte unserer Epoche bezeichnen kann, dann ist auch eine alternative Entwicklung in der Organisation vorstellbar. Allerdings sind mir bis jetzt noch keine entsprechenden Ansätze unter die Augen gekommen; was man früher als Graswurzel-Ansätze pries, hat nach meinem Wissen keine vernünftigen Ergebnisse gezeitigt und wurde eben gerade mit der Mobiltelefonie richtiggehend untergepflügt.

Bei der ersten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich lagen die Gruppierungen von Emanuel Macron und Jean-Luc Mélenchon gleichauf. Aufgrund des Majorz-Wahlsystems, das nicht die Stimmanteile der Parteien berücksichtigt, gehen die meisten Fachleute davon aus, dass Macron in einer Woche Mélenchon überflügeln wird. Mit einer Mehrheit im Parlament kann der Präsident allerdings nicht rechnen; aufgrund seiner zentralen Position im System kann ihm dies aber einigermaßen egal sein, solange das Parlament mit wechselnden Mehrheiten ungefähr das beschließt, was er will. Was er dann wirklich will, ist mir nicht wirklich klar; bisher hat er mehr oder weniger das getan, was zu tun war oder auch nicht, wie im Fall der Erhöhung der Treib­stoff­preise, welche zum landesweiten Ausbruch der Gelbwesten-Proteste geführt hat. Aber diese Wogen haben sich zwischenzeitlich wieder gelegt, denke ich. Es gibt am Schluss halt auch eine Realität jenseits der Proteste. Und wenn Jean-Luc Mélenchon sagt, die Gelbwesten und auch Teile der Anhänger:innen des Front National seien «fâchés, pas fachos», also aufgebracht, aber keine Faschisten, so wird er zwar recht haben; aber eine politische und programmatische Konsequenz können weder er noch wir daraus ableiten. Das einzige, was wir im Moment mit Recht tun können, ist es, uns an die düsteren Prognosen für die Linke zu erinnern, welche die Zeitung «Le Monde Diplomatique» anfangs dieses Jahres gestellt hatte. Da steht sie ja wieder wie eine eins, wenn vielleicht auch nur vorübergehend, aber immerhin, und zu unser aller Überraschung unter der Führung eines angeblichen Linksextremisten, nachdem bisher die Linksallianzen immer unter kompromisswilligen Sozialdemokrat:innen zustande gekommen waren. Das ist neu; anderseits belegt auch dies meine Vermutung, dass der eigentliche Sozialdemokrat schon längstens im Elysée sitzt. Eine moderne Staatsführung kann sich gar nichts mehr anderes leisten als eine sozial­demo­kratisch ausgerichtete Politik.

Es ist, mit anderen Worten, unnütz, heute eine sozialdemokratische Politik zu fordern, ebenso wie es unnütz ist, eine antisoziale Politik zu bekämpfen, denn über die Rhetorik hinaus kann keine Politik heute mehr nicht sozialdemokratisch sein. Für die Zukunft müssen wir uns also etwas anderes einfallen lassen.