Kolumbien: Noch kein Frieden in Arauca

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Die an der Grenze zu Venezuela, im Nordwesten Kolumbiens gelegene Provinz Arauca ist besonders stark vom bewaffneten Konflikt in Kolumbien betroffen. Anfang dieses Jahres erklärte eine Abspaltung der FARC-Guerilla mehreren Organisationen der Zivilgesellschaft den Krieg. Sie ermordete mehrere Aktivist*innen und zündete eine Autobombe mitten im Zentrum der Gemeinde Saravena. Von dem Attentat besonders betroffen war die Menschenrechtsorganisation „Fundación Joel Sierra“. Zusätzlich werden hunderte Aktivist*innen vom Staat juristisch verfolgt. Wird sich daran unter dem zukünftigen linken Präsidenten Petro etwas ändern? Wir haben mit der Sprecherin der Menschenrechtsorganisation, Sonia López, über die Situation in Arauca gesprochen.
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09:36 min, 13 MB, mp3
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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: ONDA-Beiträge
Entstehung

AutorInnen: Radio onda
Radio: npla, Berlin im www
Produktionsdatum: 21.06.2022
Folgender Teil steht als Podcast nicht zur Verfügung
Durch Autobombe zerstörtes Gebäude in Saravena. Foto: Colombia I
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Skript
Ungeachtet der Wahlen in Kolumbien geht der bewaffnete Konflikt in mehreren Landesteilen weiter. Besonders betroffen ist die im Nordwesten Kolumbiens, an der Grenze zu Venezuela gelegene Provinz Arauca. Anfang des Jahres erklärte dort eine Abspaltung der FARC-Guerilla mehreren Organisationen der Zivilgesellschaft den Krieg. Sie ermordete mehrere Aktivist*innen und zündete eine Autobombe mitten im Zentrum der Gemeinde Saravena. Von dem Attentat besonders betroffen war die Menschenrechtsorganisation Fundación Joel Sierra. Deren Sprecherin Sonia López berichtet:

VO Sonia López 1:

Am 19. Januar zündeten sie eine Autobombe vor dem Gebäude, in dem unsere Menschenrechtsstiftung Joel Sierra und weitere soziale Organisationen ihre Büros haben. Das ist ziemlich schlimm - und auch besonders krass, denn in den vielen Jahrzehnten politischer Gewalt in Kolumbien wurde noch nie eine Autobombe vor einem Gebäude sozialer Organisationen gezündet, so wie das jetzt in Arauca passiert ist.

Sprecher:

Bis in die 80er Jahre war der kolumbianische Staat in Arauca kaum präsent. Handel und Austausch fanden eher mit Venezuela statt. Wie auch in einigen anderen kolumbianischen Provinzen übernahmen Guerillaorganisationen die staatlichen Funktionen. Aber auch die Zivilgesellschaft war in Arauca traditionell stark, eben weil der Staat abwesend war. Das änderte sich mit der Entdeckung und Ausbeutung der Ölfelder. Kolumbien ließ Straßen und Infrastruktur zur Erdölförderung errichten und vom Militär beschützen, die Interessen der Bevölkerung waren dabei zweitrangig. In einem Gespräch mit dem Portal Contagio Radio erklärt der Konfliktforscher Luis Eduardo Celis:

VO Luis Eduardo Celis:

In Arauca gibt es praktisch drei Staaten. Der kolumbianische Staat kam ab Mitte der 80er Jahre; ihm ging es hauptsächlich um das Erdöl. Und dann gibt es noch zwei informelle Staaten, die das Leben in den Gemeinden regeln. Ein Staat wird von der ELN gebildet und der andere von den FARC, die trotz des Friedensvertrages von 2016 bewaffnete Abspaltungen gebildet haben. Und am 2. Januar begann eine militärische Auseinandersetzung zwischen der ELN und den FARC um die Kontrolle über das Gebiet.

Bei den bewaffneten Kämpfen zwischen drei Abspaltungen der Farc, den sogenannten Disidencias, und der ebenfalls in Arauca aktiven Guerilla ELN werden auch soziale Organisationen zum Ziel von Angriffen. Das ist für Sonia López und die Fundación Joel Sierra kein Zufall. Denn auch von staatlichen Stellen und konservativen Politiker*innen werden sozial aktive Organisationen und Einzelpersonen häufig als Helfershelfer der ELN stigmatisiert. Dasselbe behaupten nun auch die Disidencias. Der Chef des Frente 28 der Disidencias, der sich Antonio Medina nennt, erklärte die sozialen Organisationen öffentlich zum "militärischen Ziel":

O-Ton Antonio Medina FARC

Der Plan ist, die Betriebe dieser Typen und ihre Anführer hochzujagen. Diese ganze Scheiße muss umgebracht werden!

Sprecher:

Kurz nach dieser Ankündigung wurde am 9. Januar eine Granate auf ein gemeindeeigenes Unternehmen geworfen; zehn Tage später detonierte die Autobombe, dabei starb ein Wachmann. Außerdem wurden bislang sechs soziale Aktivist*innen in Arauca ermordet. Darüber hinaus werden viele weitere Aktivist*innen vom Staat strafrechtlich verfolgt. Sonia López sieht das als Versuch, die zivilgesellschaftlichen Strukturen zu vernichten - nicht nur in Arauca:

VO Sonia López 3:

Wenn selbst hohe Beamte oder Militärführer die soziale Bewegung diffamieren und mit irgendeiner Guerilla in Verbindung bringen, dann ist das eine Kampfansage, stellt eine unmittelbare Gefahr für unser Leben dar und rechtfertigt Angriffe auf uns. Und mit denselben Argumenten wurden seit 2002 allein in Arauca Ermittlungen gegen über 500 Genoss*innen der sozialen Bewegung geführt. Mit genau derselben Stigmatisierung haben sie unsere Genoss*innen in Arauca und ganz Kolumbien ermordet. Und jetzt, mit denselben verantwortungslosen Anschuldigungen werden wir mit Hilfe dieser bewaffneten Gruppen ermordet, die als Disidencias bekannt sind. Aber sie verhalten sich eher wie Söldnerbanden im Dienst des Drogenhandels und im Dienst der Sicherheitskräfte; für diese machen sie die Drecksarbeit der Auslöschung der sozialen Bewegung.

Sprecher:

So ist es wenig verwunderlich, dass die Behörden nach dem Anschlag nicht ernsthaft ermittelt haben. Selbst die direkt betroffenen Organisationen wurden nicht befragt, staatsnahe Medien taten den Angriff schnell als "Kampf um Drogen" ab.

Sprecher:

Die Regierung kündigte die Entsendung von weiteren zwei Armeebataillonen in das schon stark militarisierte Gebiet an. Dabei kommt bereits jetzt in Arauca ein Soldat auf 27 Bewohner*innen, und auch das hat die Anschläge und Morde nicht verhindern können. López sieht die mächtige Erdölindustrie und die Grenze zu Venezuela als wahren Grund für die hohe Militärpräsenz in Arauca. Diese diene nicht dem Schutz der Bevölkerung, sondern dem Schutz der Interessen der transnationalen Unternehmen.

Sprecher:

Trotz der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Disidencias und der ELN, der staatlichen Verfolgung und der Angriffe auch auf ihre Organisation hat sich Sonia Lopez nicht aus Arauca vertreiben lassen. Allerdings lebt sie zu ihrem Schutz versteckt - so wie etwa hundert weiterer Aktivist*innen:

VO Sonia López 4:

Ich habe mein Haus hier in der Gemeinde Saravena verlassen und musste meine Kinder aus dem Departamento rausbringen. So wie viele andere Genoss*innen bleibe ich in Arauca, aber vorsorglich an einem anderen Ort, wegen der Gefahr für unser Leben. Wir wissen, dass unsere Häuser, oder die Häuser unserer Angehörigen, von bewaffneten Männern beschattet werden, die auf Motorrädern oder in Fahrzeugen mit getönten Scheiben rumfahren. Und deswegen müssen wir uns selbst schützen, weil wir definitiv nicht darauf vertrauen können, dass die staatlichen Stellen unser Leben und unsere Unversehrtheit schützen können.

Sprecher:

Aber daran könnte sich nun vielleicht etwas ändern. Bei den kolumbianischen Präsidentschaftswahlen Mitte Juni gewannen der linke Kandidat Gustavo Petro und seine zukünftige Vizepräsidentin Francia Márquez. Welche Hoffnungen setzt López darauf, dass Kolumbien in Zukunft erstmals einen linken Präsidenten hat?

VO Sonia López 5:

Wir glauben schon, dass eine demokratischere Regierung, wie sie mit Petro möglich wäre, die Angriffe auf die soziale Bewegung etwas verringern könnte. Aber trotzdem bleiben noch viele Fragen ungeklärt. Wenn Petro gewinnt, muss er es schaffen, an der Regierung zu bleiben und regieren zu können! Denn er wird Entscheidungen treffen müssen, die gegen die Interessen der kolumbianischen Elite gerichtet sind. Und das wird eine Menge Konflikte mit sich bringen. Diese Elite hat die paramilitärischen Strukturen und einen Großteil des Militärs auf ihrer Seite; deswegen glaube ich, dass Petro vor großen Herausforderungen steht, um sich an der Regierung halten zu können und einen sozialen Rechtsstaat zu bilden.

Ende März zog eine humanitäre Karawane durch Arauca und forderte die Aufnahme von Ermittlungen zu den Hintermännern der Anschläge, sowie ein Ende der Gewalt, die allein in diesem Jahr in Arauca bereits über 150 Todesopfer gefordert hat. Doch das reicht noch nicht. López fordert, dass die internationale Gemeinschaft angesichts der Ungerechtigkeiten in Kolumbien nicht länger wegschauen dürfe:

VO Sonia López 6:

Es gibt Kriege, die sichtbarer sind als andere. Was in der Ukraine passiert, ist natürlich sehr traurig und verabscheuungswürdig. Aber es gibt andere Völker auf der Erde, die seit Jahrzehnten im Krieg leben, die jeden Tag mit Angriffen, Tod und Vertreibung konfrontiert sind. Diese Kriege sind unsichtbar, aber wir sind auch Menschen, die ein Ziel im Leben haben, die ihr Land politisch verändern wollen, und deshalb brauchen wir internationale Solidarität. Die Leute sollen sich informieren um zu erfahren, was hier passiert: Sie sollen wissen, was die USA und Europa mit den Konflikten zu tun haben, mit denen wir in Kolumbien konfrontiert sind.