"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Verschwörerinnen verstehen

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Hin und wieder lese ich Berichte über die Verschränkungen zwischen Corona-Leugnern, Putin-Anhängerinnen, Verschwörungstheoretiker:innen und Rechtsextremist:innen und suche dabei immer nach so etwas wie Inhalten, ja, ich muss es so sagen: nach Fakten. Und zwar nicht nach alternativen Fakten, welche es nun mal nur in einem Parallel-Universum geben kann.
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10:47 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.07.2022 / 23:14

Dateizugriffe: 76

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 29.06.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Hin und wieder lese ich Berichte über die Verschränkungen zwischen Corona-Leugnern, Putin-Anhängerinnen, Verschwörungstheoretiker:innen und Rechtsextremist:innen und suche dabei immer nach so etwas wie Inhalten, ja, ich muss es so sagen: nach Fakten. Und zwar nicht nach alternativen Fakten, welche es nun mal nur in einem Parallel-Universum geben kann.
Ein Fakt, eine Tatsache ist und bleibt ein Fakt und eine Tatsache, und zwar, merkt auf: in der ganzen Wider­sprüchlichkeit, die ihn ausmacht; praktisch allen Verhältnissen wohnen tatsächlich widersprüchliche Eigenschaften inne, sie werden von gegensätzlichen Interessen betrieben und angestachelt und so weiter, aber das macht sie gerade aus, das ist eben die Tatsache, der Umstand, das Verhältnis, der Fakt, kurz gesagt: das Ding als Oberbegriff für all solche Dinge und Verhältnisse, und dazu gibt es keine Alternative. Der Begriff alternative Fakten ist eine der lustigsten Erfindungen der letzten Jahre, eine Propaganda-Bezeichnung für die Lüge, welche der orangene Präsident der USA als höchstes Kommunikationsprinzip eingesetzt hat, während seine Vorgänger und Nachfolger die Lüge nur punktuell und durchaus nicht als höchstes Prinzip betrieben haben und betreiben. Allerdings: Lügen tun sie alle, das stimmt natürlich, aber daran haben wir uns schon längstens gewöhnt. Mehr noch: Wir wissen, dass die richtige Lüge zum richtigen Zeitpunkt besser sein kann als die wahre Wahrheit, die dann zum Beispiel zu einer Massen­panik führen kann, was in einem solchen hypothetischen Fall auch nicht das Ziel der Wahrheit sein kann.

Also suche ich gerne bei den Verschwörer:innen nach so etwas wie, naja, sagen wir es kurz: nach Objektivität, nach wissenschaftlichen Belegen für ihre Aussagen, nicht zuletzt darum, weil sie selber nicht nur die Medien, sondern auch die Universitäten als Instrumente der Unwahrheit und der Unwissenschaftlichkeit ausgeben .Das heißt im Umkehrschluss, dass sie selber im Besitze der Wahrheit und der Wissenschaft sein müssen, und diese wahre Wissenschaft muss doch irgendwie zu erkennen sein. Die nicht besonders traurige Realität ist die, dass es bei den Verschwörer:innen keine Belege gibt, mindestens haben sie sie dort, wo ich hinkucke, mir bisher noch nicht enthüllt; die Jungs und Mädels bringen durchwegs Behauptungen, welche auf Vermutungen der absurden Art beruhen und die in ihren Meisterstücken auch bekannt sind, Stichwort Impfstoffe von Bill Gates oder Kinderschändereien und Blutorgien von Hillary Clinton im Keller einer New Yorker Pizzeria, die in den Rang von Fakten erhoben werden. Geschwurbelt oder geraunt wird dabei nicht, sondern geschrien, und zwar umso lauter, als Beweise fehlen. Das kann mir aber ebenfalls egal sein, bis auf die Frage, die sich beim Betrachten des Social-Media-Universums zwangsläufig stellt: Wie kommt es, dass es Menschen gibt, welche solchen Dreck im Ernst für wahr halten, zum einen, und zum zweiten diese Wahrheit ohne Prüfung und Hemmung in die Welt herausschreien? Haben wir dafür unsere Schulen eingerichtet und die Bildungspflicht für alle als wichtigste Errungenschaft moderner Gesellschaften etabliert, dass uns nun die Lese- und Schreibe-Fähigen all den Scheiß um die Ohren schreiben, den sie nie verstanden haben? Das ist ein Missverständnis, das die moderne Gesellschaft im eigenen Interesse, also in jenem der Modernität schnell und gründlich beheben sollte.

Skepsis und Misstrauen sind grundsätzlich ein wichtiger Bestandteil des Denkapparates, soviel wird man den Anhänger:innen von Verschwörungstheorien zugute halten. Und dass in der Bericht­erstattung in der Öffentlichkeit in der Regel eine mehr oder weniger deutlich erkennbare Tendenz vorherrscht, ist zunächst auch nicht gelogen; was mich angeht, so nenne ich diese Tendenz seit Jahr und Tag den sozialdemokratischen Medienkonsens; ich gehe mal davon aus, dass ich damit das gleiche Phänomen benenne wie die Verschwörungsvögel mit ihren Systemmedien. Allerdings beinhaltet der Medien-Konsens die Übereinkunft, dass auch hier durchaus gelogen wird, zum Beispiel durch Weglassung gewisser Tatsachen oder ganzer Berichterstattungen, dass man sich aber im Kern auf Tatsachen abstützt. Fälle wie jener, der am Sonntag in einem Leserbrief an die NZZ am Sonntag kritisiert wurde, sind eher selten, ich zitiere: «Im Artikel über die Atomkrise in Frankreich wurde eine Grafik abgedruckt, die grob irreführend war. Sie zeigt, dass die Schweiz im Winter 2020 aus den Nachbarländern Frankreich, Deutschland und Österreich sehr viel Strom importiert hat und suggeriert damit, dass die Schweiz auf große Stromimporte im Winter angewiesen ist. In der Grafik hat jedoch Italien gefehlt – wohin die Schweiz im Winter 2020 ausnahmsweise sogar ein bisschen mehr Strom exportiert hat, als aus den genannten drei Ländern importiert wurde (13 Twh gegenüber 12.5 Twh).» Diese peinliche Stimmungsmache für Strom aus Atomkraftwerken mit falschen Zahlen erklärt sich selbstverständlich aus der Funktion der NZZ und ihrer Sonntagsausgabe als Herold des Freien Unternehmertums, also gegen alles, was links und grün und Atomstromgegner:in ist. Aber wie gesagt: So etwas passiert in der Regel auch in der NZZ nicht, wenn es mal vorkommt, wird es mindestens in der Leserbriefspalte erwähnt, und es kommt auch niemandem in den Sinn, die NZZ am Sonntag deswegen als ausführendes Organ von Putin, des Weltjudentums, einer bolsche­wis­ti­schen Verschwörung oder gar der neoliberalen Bilderberber-Vereinigung anzuklagen, obwohl die Bilderberger vor etwa 50 Jahren so etwas wie ein Vorläufer des Weltwirtschaftsforums in Davos waren, zu dem sich dieser Herold ganz sicher sehr stark hingezogen fühlt. Nein, über Dinge wie Atomstrom kann man streiten beziehungsweise im vorliegenden Fall den Lapsus nachweisen, er liegt offen auf dem Tisch, und damit hat es sich gehabt.

Logisch, wird die Öffentlichkeit gesteuert, das erfassen die Verschwörungsschwurbler instinktiv, während sie einen anderen Aspekt völlig aus den Augen verlieren, nämlich dass die Öffentlichkeit selber die Medien steuert, mindestens in Teilen. Seit nicht mehr die ansehnlichen Inseraten­ein­nah­men den Journalismus finanzieren, sondern die Beachtungswerte in der Form von Klicks, hat sich die Medienlandschaft im Kern verändert. Auch wenn ein Bericht Informationen vermittelt, muss doch mindestens die Headline ein Headbanger, muss mindestens die Überschrift reißerisch sein und darf sich dabei vom Inhalt weitgehend emanzipieren. Am besten wäre es im aktuellen Medien-Umfeld, man könnte sämtliche Berichte mit Bildern und Schlagzeilen von jungen Kätzchen und Vergewaltigungen im Männerkloster verkaufen. Da befinden wir alle uns echt auf neuem Terrain, ganz abgesehen davon, dass die Nachrichtenproduktion und -vermittlung mit den modernen, allen zugänglichen Plattformen zum Kinderspiel geworden ist und dementsprechend auch als solches betrieben wird. Bis sich hier eine gewisse Struktur ergeben hat, dürfen alle Beteiligten aufs Geratewohl herum krakeelen, sogar jene, welche keinen Stuss produzieren. Auf jeden Fall zählt in diesem Umfeld eine Überzeugung schnell einmal mehr als Informationen, und weil das so ist, muss die Überzeugung auch allergisch reagieren auf Informationen, und da sind wir wieder beim Gebrüll der Verschwörer:innen, bei ihren Attacken auf alles, was nach Wissenschaft und Überlegung riecht.

Muss man Verständnis haben für diese Leute? Nein. Mindestens ich habe davon Dispens. Anderseits sollte man das Phänomen auch nicht überschätzen, vor allem, was seine politische Tragweite angeht: Man kann auf der Grundlage solcher Verschwörungsschübe zwar US-amerikanischer Präsident werden, aber die Präsidentschaft wird nicht lange währen, nach einer Amtszeit ist auch schon wieder Schluss. Wirklich störend daran ist nur, dass es die vernünftigen Menschen stört beim Entwickeln eines vernünftigen Diskurses über die Entwicklung der Gesellschaft.

Umgekehrt sind dies doch genau die Umgebungsbedingungen, in welchen dieser Diskurs stattfinden oder starten muss. Die Verschwurbler sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass die traditionelle politische Auseinandersetzung am Ende ihrer Laufbahn angelangt ist. Es erzählen ohnehin praktisch alle Akteure im Betrieb das gleiche, nur die ideologische Färbung unterscheidet sie voneinander; die Rückkopplung zur effektiven Politik dagegen ist kaum mehr nachweisbar. Es gibt selbst­verständ­lich einige leuchtende Ausnahmen davon, zum Beispiel euer ehemaliger Verkehrsminister Andi Bescheuert, dessen Fixierung auf den Verbrennungsmotor aber schon damals konterkariert wurde von übergeordneten Energie- und Klimazielen der Regierung, merke also: ein Vollpfosten macht noch kein ganzes Irrenhaus, inklusive Belegschaft und Patient:innen. Soweit mein Beitrag zur Welt der Bilder für heute.

Gleichzeitig läuft der politische Prozess weiter. In Ungarn hat die autoritär strukturierte Fidesz-Partei die Regionalwahlen gewonnen bei allerdings teilweise misslichen Wahlbeteiligungen, was nicht besonders für die Opposition spricht; in Italien dagegen gingen die Regionalwahlen an die Mitte-Links-Parteien, wobei die Spaltung der 5-Sterne-Partei von letzter Woche keine besonderen Auswirkungen zeigte; auch wenn die Kandidat:innen zum Teil nicht mehr mit dem Partei-Logo antraten. Auch hier zeigt sich, dass die Stunde von Lügnern, Clowns und Kabarettisten nicht länger dauert als sechzig politische Minuten.

In der Zwischenzeit beobachten wir, wie die großen politischen Ziele im Angesicht drohender Energieknappheit in einen eigenartig flüssigen Zustand übergehen. Nach der grünen Ministerin Baerbock, welche die Kriegs-Affinität wieder entdeckt hat, die der Partei während der Nato-Intervention in Serbien nicht nur Sympathien eingebracht hat, überlegt sich nun der grüne Minister Habeck, die Kohlekraftwerke länger in Betrieb zu halten. Auf der anderen Seite realisieren wir plötzlich, dass aus Nordafrika nicht nur libysches Erdöl kommt, sondern auch Erdgas in beachtlichen Mengen. Der Erdopampel empfängt Mohammed bin Salman, den Mörder des Journalisten Jamal Kashoggi, den er vor vier Jahren aus der Gesellschaft der Gläubigen ausgeschlossen hatte. Alles fließt und ist in ständiger Bewegung, wie schon in der Antike bekannt war, und so hoffen wir, dass sich das Geschehen auch weiterhin in eine letztlich gedeihliche Richtung entwickeln möge, auch wenn verschiedene Ereignisse daran Zweifel aufkommen lassen mögen. Übrigens ist mir beim jüngsten Entscheid des Obersten Gerichtes in den USA zum Schwangerschaftsabbruch wieder mal dieses schwarze Aushängeschild aufgefallen, Richter Clarence Thomas, und zwar wegen seiner Frau Virginia, von der im März bekannt wurde, dass sie zu jenen Personen zählte, welche Donald Trump bei seinem Versuch, gegen die Verfassung zu verstoßen, eifrig unterstützt hatte. Das ist wirklich eine saubere Familie eines höchsten Richters. Vielleicht gehört zu den Entwicklungen der Zeit irgendwann einmal auch, dass man in den Vereinigten Staaten echt unabhängige Richter ans oberste Gericht beruft. Bis dahin dürfte es aber noch etwas dauern.

Kommentare
05.07.2022 / 18:01 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 5.7.. Vielen Dank !