Atomenergie: unsicher, anfällig und schwankend | 29 der 56 Atom-Reaktoren in Frankreich abgeschaltet

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Entgegen der seit März hochfrequent verbreiteten Propaganda ist der Krieg in der Ukraine keineswegs ein Argument für die von vielen gewünschte Wiederbelebung der Atomenergie. Im Gegenteil: In der Ukraine zeigt sich besonders deutlich, wie anfällig Atomkraftwerke bei Angriffen mit Raketen und panzerbrechenden Waffen sind. Wenn es alle 25 Jahre zu einem Super-GAU kommt, kann auch keine Rede davon sein, daß Atomkraftwerke sicher seien. Nun zeigt sich aktuell, daß die Strom-Produktion von Atomkraftwerken keineswegs - wie in der Vergangenheit häufig behauptet - grundlasttauglich ist, sondern extremen Schwankungen unterliegt. Derzeit sind in Frankreich 29 der 56 Atom-Reaktoren - also über die Hälfte - abgeschaltet.
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Upload vom 26.07.2022 / 22:34

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Klassifizierung

Beitragsart: Nachricht
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: restrisiko
Entstehung

AutorInnen: Klaus Schramm
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 25.07.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Atomenergie: unsicher, anfällig und schwankend | 29 der 56 Atom-Reaktoren in Frankreich abgeschaltet

Entgegen der seit März hochfrequent verbreiteten Propaganda ist der Krieg in der Ukraine keineswegs ein Argument für die von vielen gewünschte Wiederbelebung der Atomenergie. Im Gegenteil: In der Ukraine zeigt sich besonders deutlich, wie anfällig Atomkraftwerke bei Angriffen mit Raketen und panzerbrechenden Waffen sind. Wenn es alle 25 Jahre zu einem Super-GAU kommt, kann auch keine Rede davon sein, daß Atomkraftwerke sicher seien. Nun zeigt sich aktuell, daß die Strom-Produktion von Atomkraftwerken keineswegs - wie in der Vergangenheit häufig behauptet - grundlasttauglich ist, sondern extremen Schwankungen unterliegt. Derzeit sind in Frankreich 29 der 56 Atom-Reaktoren - also über die Hälfte - abgeschaltet.

In Zeiten der Klima-Krise wird es immer häufiger zu langanhaltenden Hitzeperioden kommen, in denen der Pegel der Flüsse in Europa extrem absinkt und das Wasser für den Fischbestand kritische Temperaturen erreicht. Die gegenwärtige Hitze sorgt dafür, daß in Frankreich etliche Atomkraftwerke abgeschaltet werden mußten. In aller Regel wurden AKW an Flüssen errichtet, um zwei Drittel der erzeugten Energie in Form von Wärme ins Wasser abzugeben. Die sinnlos erzeugte Energie belastet das Ökosystem der Flüsse. Und obwohl die Grenzwerte für die Wasser-Temperatur der französischen Flüsse nun heraufgesetzt wurde, um ein Abschalten von Atomkraftwerken zu vermeiden, wurden auch diese Grenzwerte jetzt vielerorts überschritten.

Zwölf Atom-Reaktoren mußten in Frankreich jetzt wegen der Hitze abgeschaltet werden. Nur vier dürfen aufgrund der Ausnahmeregelung "vorübergehend" weiterhin Strom erzeugen - allerdings nur bei verminderter Leistung. Das wird wohl solange ausgereizt, bis das erste Ökosystem in einem französischen Fluß umkippt. Und es ist abzusehen, daß die sommerlichen Hitzegrade in den kommenden Jahren noch ansteigen werden.

Doch Fachleute warnen auch davor, daß es in Frankreich im kommenden Winter zu Strom-Engpässen kommt. Das Land ist wegen der seit Jahrzehnten politisch massiv blockierten Energiewende beim Strom zu rund 70 Prozent von der schwankenden Atomenergie abhängig. Besonders kritisch ist der hohe Anteil an Häusern in Frankreich, die mit Strom beheizt werden. Um den 1. Dezember herum werden voraussichtlich weitere zehn bis 15 Atom-Reaktoren wegen unaufschiebbarer Wartungsarbeiten ausfallen. Wenn die bereits laufenden Wartungsarbeiten sich hinziehen sollten, ist der winterliche Blackout in Frankreich kaum mehr abzuwenden. Jedenfalls wird Dank Atomenergie mehr Strom von Frankreich importiert werden müssen, als dies bereits in den vergangenen Jahren der Fall war.

Viele der französischen Atom-Reaktoren haben das Alter von 25 Jahren, für das sie ursprünglich ausgelegt wurden, längst deutlich überschritten. Die insgesamt 56 französischen Atom-Reaktoren sind im Schnitt 35 Jahre alt. Immer häufiger treten Probleme durch Riß-Bildung, Korrosion und Materialermüdung auf. So mußte nun auch das nordfranzösische AKW Gravelines mit seinen insgesamt sechs Reaktoren vom Netz genommen werden. Die Reaktoren gingen in den Jahren 1980 bis 1985 in Betrieb, sind also schon über 37 Jahre alt.

Nach offiziellen Aussagen wird das AKW wohl mindestens sechs Monate abgeschaltet bleiben, da massive Korrosions-Schäden nicht länger zu leugnen waren. So müssen etliche Stahlrohre im Primärkreislauf ausgebaut und ersetzt werden. Der französische Strom-Konzern und AKW-Betreiber EdF hat die benötigten Teile bei mehreren europäischen Stahlwerken in Auftrag gegeben. Schweißer müssen eigens geschult werden, damit sie die vorgesehenen Aufgaben erfüllen können.

Hinzu kommt, daß der Konzern EdF nach offiziellen Angaben mit über 60 Milliarden Euro verschuldet ist. Das einzige Neubau-Projekt seit einem Vierteljahrhundert, der sogenannte europäische Druckwasser-Reaktor, hat sich zu einem finanziellen Desaster entwickelt. Ursprünglich sollte das im nordfranzösischen Flamanville im Jahr 2006 begonnene AKW im Jahr 2012 in Betrieb gehen. Und statt der ursprünglich veranschlagten 3,2 Milliarden Euro verschlang das Projekt laut französischem Rechnungshof über 19 Milliarden Euro. Ein Termin für die Inbetriebnahme ist dennoch nicht in Sicht.

Nun hat sich der französische Präsident Emanuel Macron darauf eingelassen, dem Konzern EdF mit rund zehn Milliarden Euro unter die Arme zu greifen. Obwohl ein Staat im Staate gehört EdF formal zu 84 Prozent der öffentlichen Hand. So sollen nun die restlichen 16 Prozent der Anteile an EdF für rund zehn Milliarden Euro gekauft werden - dies wäre 53 Prozent über dem Kurs der Aktie an dem Tag, bevor die Regierung ihre Absicht zur vollständigen Verstaatlichung bekanntgab.

Doch allein um die völlig überalterten französischen Atomkraftwerke am Laufen zu halten, werden in den kommenden Jahren nach Aussage der europäischen Energie-Kommissarin Kadri Simson 45 bis 50 Milliarden Euro benötigt. Aus ihrer Rede am 30.11.21 (
https://ec.europa.eu/commission/commissi... )
geht hervor, daß das Greenwashing der Atomenergie per EU-Taxonomie vor allem der Laufzeitverlängerung der französischen Atomkraftwerke dienen soll. Sie sagte in dieser Rede, daß "ohne sofortige Investitionen etwa 90 Prozent der bestehenden Reaktoren" in den kommenden Jahren ausfallen werden. Und: "Eine sichere Verlängerung ihrer Lebensdauer erfordert zwischen 45 und 50 Milliarden Euro."

Die Phantastereien des französischen Präsidenten, in den kommenden Jahren sechs Atomkraftwerke irgend eines neuen Typs bauen zu wollen, entbehren nicht allein aus technischer Sicht jeder Grundlage - diese sechs Bau-Projekte würden mindestens weitere 60 Milliarden Euro erfordern. Und 60 Milliarden Euro ist zufällig derselbe Betrag, auf den sich die Schulden der EdF beziffern. Dessen ungeachtet verkündete der französische Präsident am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag: In Zeiten, in denen Europas Energiesicherheit auf dem Spiel stehe, "ist Atomenergie eine nachhaltige Lösung."