"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Fachkräftemangel

ID 117062
  Extern gespeichert!
AnhörenDownload
Von der Gewohnheit, die Wirtschaft nur in den zwei Gegensätzen Kapital und Arbeit anzusehen, sind wir alle seit geraumer Zeit abgekommen. Manchmal ist ein Blick auf einige Details, zum Beispiel des Arbeitsmarktes aber durchaus lustig, vor allem nach den Verwerfungen der Corona-Pandemie. Dem Heft 8 des Wirtschaftsdienstes – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik beziehungsweise dem dort publizierten Artikel «Ausländische Fachkräfte im Blickfeld» entnehme ich eine Fest­stel­lung, die auch schon andere gemacht haben: Der Flugverkehrssektor leidet unter einem akuten Fachkräftemangel; der Autor Erik Hauenstein nennt das Problem sogar strukturell.
Audio
10:52 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 18.08.2022 / 17:51

Dateizugriffe: 95

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 16.08.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Von der Gewohnheit, die Wirtschaft nur in den zwei Gegensätzen Kapital und Arbeit anzusehen, sind wir alle seit geraumer Zeit abgekommen. Manchmal ist ein Blick auf einige Details, zum Beispiel des Arbeitsmarktes aber durchaus lustig, vor allem nach den Verwerfungen der Corona-Pandemie. Dem Heft 8 des Wirtschaftsdienstes – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik beziehungsweise dem dort publizierten Artikel «Ausländische Fachkräfte im Blickfeld» entnehme ich eine Fest­stel­lung, die auch schon andere gemacht haben: Der Flugverkehrssektor leidet unter einem akuten Fachkräftemangel; der Autor Erik Hauenstein nennt das Problem sogar strukturell.
Die Technik- und Servicefachkräfte aus der Luftfahrtbranche hätten während der Pandemie anderswo attraktive Anstellungen gefunden, namentlich in der Logistik und im Onlinehandel. Und diese kommen nun nicht zurück. Deshalb setzt die Branche auf ausländische Fachkräfte, welche nicht nur die Personal­engpässe der Gegenwart lösen, sondern auch präventiv dem demografischen Wandel entge­gen wirken sollen; auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag fordert einen einfacheren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Hauenstein führt in diesem Zusammenhang die Zahlen der letzten Jahre zum Wanderungssaldo auf, also zum Zustrom ausländischer Staats­bür­ger:in­nen. Wenn man einmal von der knappen Million an ukrainischen Flüchtlingen absieht,die seit Kriegsbeginn in Euer Land geströmt sind, sieht es nämlich so aus, dass die Zuwanderung vor sieben Jahren einen Höhepunkt erreichte im Rahmen der Flücht­lings­krise, damals in oder aus Syrien, welche interessanterweise auch von einem relativen Höhepunkt der Einwanderung aus Afrika begleitet war. In diesem Jahr 2015 betrug das Saldo knapp 1.2 Millionen Personen. In den Folgejahren ging es wieder deutlich zurück auf etwa 600'000 im Jahr 2016 und dann auf gut 500'000, bis der Wert im Pandemiejahr 2020 auf 200'000 Personen sank. 2021 waren es wieder rund 400'000. Das entspricht ungefähr dem Wert aus dem Jahr 2012.

Eine Entwicklung sticht besonders ins Auge: Nach soliden Personalimporten aus der Europäischen Union nahm der entsprechende Saldo zwischen 2015 auf 2017 wieder deutlich ab, von über 300'000 auf noch 90'000 Menschen, und verzeichnete seither keinen weiteren Anstieg mehr. Für Auffrischung auf dem Arbeitsmarkt sorgten also Zuzüger:innen aus Asien und aus europäischen Nicht-EU-Staaten.

Den Arbeitsmarkt insgesamt beurteilt Hauenstein positiv mit einer niedrigen Arbeitslosigkeit, eben gepaart mit Fachkräftemangel; die Zahl der Erwerbstätigen nimmt zu. Dann fasst er die Situation noch detaillierter nach Herkunftsländern ins Auge und unterteilt die Zuwanderung in vier Gruppen, nämlich die EU-Ost, vier südeuropäische Staaten, den Westbalkan und die Türkei. Das lasse ich hier außen vor, da ich in Bezug auf das Thema des Artikels, eben den Fachkräftemangel, durchaus keine Relevanz außerhalb der Ideologie sehe, und verlasse dieses Theaters mit der Feststellung, dass meine an dieser Stelle zum zweiten August geäußerte Meinung erstens nicht widerlegt wird und zweitens wohl die Meinung der Mehrheit aller Arbeitsmarkt-Ökonom:innen widerspiegelt: Die Arbeitskraft ist plötzlich wieder als gesellschaftlicher Vektor ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Welche Konsequenzen die Öffentlichkeit daraus zieht, muss sich noch zeigen; strukturell sehe ich in dieser Erkenntnis vor allem einen herben Schlag für die Nationalist:innen aus der völkischen Ecke, von denen ich bisher noch keinen praktischen Aufruf zur kompletten Ver­deut­schung des deutschen Teils der Weltwirtschaft gehört habe – weil dies sogar für völkische Natio­nalist:innen allzu verwegen, sprich wirtschaftlich selbstmörderisch wäre. Umgekehrt braucht man jetzt nicht gerade in großen Völkerverständigungsjubel auszubrechen; die Zeiten für Verbrüderung und Verschwesterung waren nämlich auch schon besser. Aber egal.

Mangel an Facharbeitskräften heißt auf jeden Fall, dass sich die Wirtschaft wieder mal in einer Abänderung befindet, von der man schon wieder nicht sagen kann, ob es sich um die Pubertät oder die Menopause welchen kapitalistischen Entwicklungsschrittes es sich gerade handelt. Für die Bevölkerung ist im Moment aber positiv, dass sich diese Weiterentwicklung ausnahmsweise eben mal wieder auf menschliche Attribute abstützt und nicht auf die Säuberung aller produktiven Vorgänge vom Störfaktor Arbeitskraft. Damit entsteht mitten in den permanenten wissen­schaft­li­chen und technologischen Revolutionen wieder mal eine Plattform für normale Leute.

Wozu die Wissenschaft alles fähig ist, zeigt sie oft im Krieg, und so, wie es aussieht, ist gerade der Krieg in der Ukraine ein anschauliches Theater für die neueste Technologie des Westens. Irgendwo habe ich mal einen Bericht gelesen über panzerbrechende Munition des schwedischen Herstellers Saab, welche sich dem feindlichen Panzer annähert, anschließend das Modell eruiert und die Baupläne aus dem Internet abruft, all dies natürlich innerhalb von Millisekunden, und dann stürzt sie sich von oben auf die schwächste Stelle des Panzerfahrzeuges, nämlich den Schützenturm oder die Einstiegsluke, schraubt diese Einstiegsluke auf und dringt dann in die Fahrerkabine ein, um dort zu explodieren. Wobei mir dieses Explodieren schon fast anarchisch erscheint. Die heutige intelligente Munition, stelle ich mir vor, untersucht nicht nur die Modelle, sondern auch die Menschen, welche diesem Modell innewohnen, und je nach Strafregisterauszug, in der Volksrepublik China wären es wohl Sozialpunkte, tötet oder verletzt sie die Besatzung in der ihr angemessenen Art und Weise. So müssen meiner Ansicht nach auch die intelligenten Gewehrkugeln der Zukunft aussehen: In die Spitze der Munition eingebaut ist eine Kamera, welche das Gesicht des Gegners oder den ganzen Gegner mit den gesammelten Daten von Facebook und Instagram abgleicht, und bei mehr als 10'000 Follower:innen macht die Munition kehrt oder erschießt jemand anderen. Eine solche Gewehrkugel könnte man übrigens dann im Sinne der Schonung von Ressourcen auch wiederverwenden. – Einen Vorgeschmack darauf hat man schon bei den FA-35-Kampfjets, mit denen die Vereinigten Staaten jetzt die ganze Welt rüstungsmässig überziehen: Die dürfen, wie dies auch bei neuen Automobilen seit ein paar Jahren der Fall ist, nur noch vom Hersteller gewartet werden, und auch im Kriegsfall überprüft immer die Software des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums, ob die abgefeuerte Rakete das angepeilte Objekt auch wirklich treffen darf. Schließlich könnte es ja sein, dass es sich um einen Militärgegenstand eines Verbündeten des USA handelt oder um einen Großkunden der US-amerikanischen Wirtschaft. Die stehen dann auf einer Negativliste, welche das Außen- und das Wirtschaftsministerium jeweils dem Verteidigungsministerium übermitteln, welche diese Liste dann in die Geschossleitzentrale von Lockheed-Martin weiterreicht.

Auch das reale Leben schreibt weiterhin einen Scherz am anderen. Wenn man sich am Rande anhört, was der deutsche Wirtschaftsminister zum 9-Euro-Ticket äußert, das unter seinem Partei­freund und Verkehrsminister Wissing ausprobiert wurde, ist der Spaß fast grenzenlos. Weniger Vergnügen bereitet Euch in Erfurt wohl im Moment gerade die Tatsache, dass der Bahnverkehr in Eurer Region ordentlich am Taumeln ist. Trotzdem gibt es auch hier Grund zu Gelächter: «Das Bahnunternehmen Abellio wurde erst heute morgen um 5 Uhr über die längeren Bauarbeiten informiert», lese ich in einem Bericht der Thüringer Allgemeinen vom Montag, und auch wenn man weiß, dass es sich bei diesem privaten Unternehmen des öffentlichen Personen-Regionalverkehrs um eine Tochter der niederländischen Staatsbahn handelt, so ist der Standard des Informations­aus­tau­sches zwischen den Betreiber- und den Unterhaltsunternehmen im Bahnverkehr doch so richtig zum Schreien komisch. Oder traurig, was in jedem Theater auf das selbe rauskommt. Ich würde gerne sagen, dass das Desaster seinen Lauf nimmt, aber das stimmt nicht: Ihr steckt da mitten drin in diesem Desaster, und Ihr müsstet dringend einen Ausweg darauf finden, einen Weg in Richtung 9-Euro-Ticket, das allerdings nicht realisierbar ist, wenn keine Gleise, keine Fahrzeuge, kein Personal und keine Kommunikation zur Verfügung stehen. Und insgesamt natürlich dann, diese Angabe ohne Gewähr und nur für den Wirtschaftsminister: kein Budget.

«Es ist heiß, lass uns ein paar Feuer anzünden», möchte man angesichts der Temperaturen in diesem Sommer sagen, wenn man sieht, wie unverdrossen die Bevölkerung Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren fährt und wie gestört Flugreisen an alle Billigdestinationen unternimmt. Ich sage dies nur pro forma, damit mir nicht später jemand vorwirft, ich hätte es schon wieder unterlassen, darauf hinzuweisen. Dabei weiß ich ja, dass die weitgehende Verlagerung der Personen-Mobilität zum öffentlichen Verkehr eine viel gigantischere Investition erfordert als die lächerlichen Summen, die es zur Behebung von ein paar Engpässen braucht. Wenn ich die Schweiz mit einem gewiss anständig ausgebauten Netz an öffentlicher Verkehrsinfrastruktur nehme, sehe ich, dass zur Bewältigung der aktuellen Personenkilometer mindestens eine Verfünffachung der Kapazitäten notwendig wäre. Heißt: fünfmal so viele Schienenstränge, fünfmal so viele Fahrzeuge und so weiter. Selbstverständlich sind nicht alle im Moment abgespulten Personenkilometer dringend notwendige Fahrten, da ließe sich etwas einsparen; umgekehrt besteht die Freiheit auf jeden Fall in der Freiheit der Mobilität, was ja auch den Triumphzug des Automobils erklärt; dieses hat die Individuen tatsächlich aus restriktiven sozialen Organisationsstrukturen befreit, viel stärker als die Eisenbahn. Es war das Automobil, das die Dörfer aufgehoben hat, das zum Absterben der Dorfkneipen, Dorfmetzger, Dorfbäckereien geführt hat, wobei diese in den letzten Jahren zum Teil wieder entstanden sind, und zwar wiederum wegen des Automobils, welche bisher vergessene Ortschaften wieder erobert hat. Die historische Aufgabe ist es oder wäre es zumindest, diesen Mobilitätstrend eben auf umweltschonende Art und Weise voranzutreiben. Durch die Verfünffachung der Kapazitäten in der Schweiz und durch die Verhundertfachung in Deutschland. Und, damit ich das auch noch gesagt habe: Durch die Vertausendfachung in Frankreich.

Ach je, die Hitze steigt auch mir in den Kopf, wie ich feststelle. Ebenfalls festzustellen habe ich, dass ich mir vom unterdessen allzu offensichtlichen Klimawandel nicht sämtliche Lebensfreude abwürgen lassen darf. Irgendwie muss man ein Gleichgewicht finden zwischen dem möglichst normalen Betrieb seines persönlichen Lebens und dem Versuch, zusammen mit den anderen Menschen auf dem Planeten die notwendigen Maßnahmen – na, nicht gerade zur Rettung desselben, das wäre wohl etwas übertrieben, denn der Planet rettet sich ganz von alleine, die Frage ist nur, welche Funktion die Menschlein in diesem großen Spiel dann noch haben, und genau darum geht es: man muss die notwendigen Maßnahmen zur Sicherung eines anständigen Lebens der gesamten Spezies ergreifen.

Diese Maßnahmen braucht man übrigens nicht mehr zu studieren und zu diskutieren. Man braucht sie nur umzusetzen, allerdings leider gegen den politischen Widerstand einer ganzen Reihe von Menschen an verantwortungsvollen Positionen, zum Beispiel der deutsche Wirtschaftsminister. Aber er ist beileibe nicht der einzige, der sich aus Kalkül dagegen sperrt, das Offensichtliche und Notwendige in die Wege zu leiten.

Kommentare
23.08.2022 / 18:05 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar
am 23.8.. Vielen Dank !