"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Reiso im September 2022

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Vor zwanzig Jahren beschäftigte ich mich zum ersten Mal mit dem bedingungslosen Grundein­kommen, als mir ein Kollege seine Lizentiatsarbeit zu diesem Thema zum Lesen gab. Seither habe ich verschiedene Bücher dazu gelesen und selber ein paar Artikel verfasst. Meine Überzeugung hat sich damit weiter entwickelt, und zwar dergestalt, dass ich ein solches Grundeinkommen heute als absolute Selbst-verständlichkeit ansehe, mindestens in den entwickelten Gesellschaften.
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10:29 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 21.09.2022 / 09:32

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 20.09.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Vor zwanzig Jahren beschäftigte ich mich zum ersten Mal mit dem bedingungslosen Grundein­kommen, als mir ein Kollege seine Lizentiatsarbeit zu diesem Thema zum Lesen gab. Seither habe ich verschiedene Bücher dazu gelesen und selber ein paar Artikel verfasst. Meine Überzeugung hat sich damit weiter entwickelt, und zwar dergestalt, dass ich ein solches Grundeinkommen heute als absolute Selbst-verständlichkeit ansehe, mindestens in den entwickelten Gesellschaften.
Im Gegen­satz zum Grundeinkommen wird mindestens die Grundsicherung schon längstens von niemandem mehr bestritten; aber die Grundsicherung ist immer geknüpft an Bedingungen und meistens Sank­tionen, was in entwickelten Gesellschaften ein absoluter Anachronismus ist. Wenn ich wieder mal daran erinnern darf: Wir müssen nicht mehr jeden Euro im Haushalt zwei Mal umdrehen, bevor wir ihn ausgeben, auch nicht im Sozialbereich; wir sind reich, geschätzte Hörerinnen und Hörer; zwar nicht alle im Millionen- und Milliarden-Euro-Bereich, aber wir sind reich und können uns die Güter des täglichen Bedarfs im Überfluss leisten, inklusive Kulturgüter wie Bier, Wein und Schnaps. Daran ändert auch der aktuelle Ausschlag der Energiepreise nichts. Wir sind reich, und wir sollten vor allem nicht so tun, als würde es etwas bringen, wenn wir die Konsumausgaben an irgendeine Art der zuvor geleisteten Arbeitsanstrengungen binden. Dieses Zeitalter ist vorbei. Was ja nicht heißt, dass es keine Arbeit mehr gibt oder geben soll; bloß sieht diese Arbeit heute völlig anders aus als eben noch vor 20 Jahren, sie nähert sich in der Praxis dem bekannten Marxschen Satz an, dass alle nach ihren Fähigkeiten tätig sein werden. Ist wohl noch nicht allgemeine Praxis, aber doch absehbare Zukunft. Das wichtigste Argument für ein Grundeinkommen ist aber grund­sätzlicher Natur: Die im Grundgesetz verankerte Verpflichtung zur Ausschüttung der von der Politik festgelegten Summe an jede Frau, jeden Mann und jedes Kind, bedingungslos und pünktlich zum Monatsersten, ist der finanzielle Ausdruck der republikanisch-demokratischen Verfassung der Individuen. Katja Kipping hat das Grundeinkommen immer eine Demokratiepauschale genannt, und mit diesem Bezug zu den Grundwerten der Demokratie liegt sie goldrichtig. Auch historisch gesehen: Im antiken Griechenland und auch in späteren Formen der Demokratie war nur stimm- und wahlberechtigt, wer nachgewiesenermaßen über Vermögen, was damals gleichbedeutend war mit Einkommen, verfügte. Dies garantierte die persönliche Unabhängigkeit von anderen, was natürlich in der Praxis eine Schimäre ist, aber trotzdem. Jetzt spielen wir das genau gleich durch und sichern die persönliche Unabhängigkeit der Menschen durch die Ausschüttung des Grundeinkommens, unabhängig von irgendwelchen anderen Bedingungen als der Existenz und der Wohnsitzbestätigung.

Trotzdem veranstalten Politikerinnen und Politiker immer ein Affentheater um das Grund­ein­kommen, als ob mit seiner Einführung die ganze Welt einstürzen oder auch nur die Volks­wirtschaft marginal beschädigt würde. Auch die Gewerkschaften versteifen sich seit Jahren darauf, einen Konflikt zu beschwören zwischen der Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen einerseits, der Einführung eines Grundeinkommens anderseits. Das, was man früher die ökonomistische Linke nannte, begleitet die Gewerkschaften munter in dieser Debatte, aber auch anerkannte Sozialwissenschaftler wie Christoph Butterwegge, der das Grundeinkommen zugunsten einer gesockelten Grundsicherung im Rahmen der Sozialversicherungen ablehnt. Ich verstehe das nicht, aber ich muss auch nicht alles verstehen. Heute geht es mir nämlich um etwas anderes, nämlich darum, dass ich mich im Lauf der Zeit auch mit Sozialarbeit und Sozialwissenschaften beschäftigte, weil die Frage nach der Armutsbekämpfung mit zum Grundeinkommens-Konzept gehört, zu Unrecht zwar, wie ich meine, denn die Armut kann man auf tausend Arten bekämpfen, wie es im Moment ja auch geschieht, während das Grundeinkommen eben ein tragendes Element einer Demokratie ist. Trotzdem – ein Blick in die Themen, welche die praktische Sozialarbeit im Moment beschäftigt, lohnt sich auf jeden Fall, und ich verwende dazu das Inhaltsverzeichnis der Revue d'information Social et Santé de Suisse romande, also das Publikationsorgan der sozial- und gesundheitspolitischen Fachverbände in der Westschweiz.

Die Septemberausgabe dieses Jahres beinhaltet zunächst die Besprechung eines Dokumentarfilms über Eltern, welche behinderte Kinder großgezogen haben und sich im Alter Sorgen darüber machen, was mit ihrem Kind geschieht, wenn sie sterben. Es folgt die Erörterung von Kriterien darüber, welche Autonomie Junge und Jugendliche haben sollen bei Entscheidungen über ihre Gesundheit; dazu werden interaktive Anleitungen vorgestellt. Ein Artikel untersucht die Bedeutung von tragenden Netzwerken für Kinder und Junge mit Lern- und Entwicklungsstörungen. Präsentiert wird eine Studie, welche die Unterstützungsaktivitäten durch Privatpersonen für Flüchtlingen aus Syrien vergleicht mit solchen aus der Ukraine. Nicht fehlen darf im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Debatten eine Abhandlung zur Intimität von Jugendlichen und auch Erwachsenen ausserhalb der bestehenden heterosexuellen Normen.

Aus dem Alltag der Sozialarbeit stammt der Artikel über Auswirkungen einer Überschuldung auf die Verfassung der Betroffenen; Lösungsansätze werden präsentiert. Danach geht es um die medizinische und sozialpsychologische Unterstützung von Personen mit Demenz im Sterbeprozess. Und schon sind wir beim nächsten Themenfeld: Alleinerziehende Väter, Umgang mit Stereotypen und staatlichen Vorschriften. Es folgt wieder ein praktischer Bericht über die Ausbildung zu Ausbildner:innen von Personen mit intellektuellen Defiziten.

Eine Gruppe von Beiträgen befasst sich mit weichen therapeutischen Instrumenten, nämlich erstens mit Zuhör-Gruppen als wichtigem Ort zur Integration und für soziale Beziehungen, zweitens mit Kunsttherapie als Instrument des psychischen Heilungsprozesses und drittens mit Tae-Kwon-Do als therapeutisches Instrument für Menschen mit psychischen Problemen oder Drogenabhängigkeit.

Für meinen Begriff etwas aus dem Zusammenhang fällt die Untersuchung des Verhaltens junger Automobilist:innen am Steuerrad; ich habe den Text nicht gelesen, kann mir aber lebhaft etwas darunter vorstellen, und zwar nicht nur im Raser-Bereich, sondern auch bei den Unterschieden zwischen jungen Männern und jungen Frauen und im Zusammenhang mit dem Automobil als Penisersatz zum einen, machtvollem Symbol der Freiheit zum anderen. Das finde ich sowieso wunderbar und habe ich schon immer wunderbar gefunden: Artikel, die ich gar nicht zu lesen brauche, weil ich sie mir selber im Kopf zusammenbasteln kann. Unter uns gesagt, mir geht es sogar bei den meisten Büchern und Filmen so, dass ich sie beurteilen kann, ohne sie gelesen oder gesehen habe.

Zum Schluss geht es um die Unsichtbarkeit von alten Frauen in der Gesellschaft. Zu diesem Thema habe ich spontan weder eine Vorstellung noch eine Meinung. Während ich einerseits geneigt bin, anzuerkennen, dass man sich mit dieser immer größer werdenden Gruppe kaum beschäftigt, nicht zuletzt deswegen, weil ich in den öffentlichen Verkehrsmitteln oft Zeuge der Kommunikation unter solchen Menschen werde, die bei mir vor allem den Reflex auslösen, hoffentlich werde ich selber nicht einmal so reden, muss ich auf der anderen Seite der Vermutung Raum geben, dass es eine ähnlich große Gruppe von alten Männern gibt, die in der gleichen Lage sind. Im Beitrag in der REISO spricht man von Frauen, die in der öffentlichen Wahrnehmung kein Recht auf eine Meinung, auf Sex und auf ein schönes Leben haben. Korrekter wäre vermutlich, dass diese Gruppe zu schönen Teilen zusammengesetzt ist aus Individuen, welche keine Meinung haben, weil sie nie auf die Idee gekommen sind, eine solche zu haben – hier sind wir übrigens beim Gegenteil des Social-Media-Phänomens, dass sehr viele Menschen meinen, eine eigene Meinung zu haben, die doch in Tat und Wahrheit nur eine Kopie einer anderswo vorgefertigten Meinung ist, aber möglicherweise ist genau dies der Grund, weshalb eine Meinung eine Meinung heißt, im Gegensatz zu einer Einsicht. Beim Sex im Alter verzichte ich hier vorsichtshalber auf jede Aussage, weil nämlich die Diskussion über dieses Thema ein Umfeld an Vorstellungen voraussetzt, das meines Wissens gar noch nicht existiert. Vielleicht sollte ich besser sagen: das eben gerade daran ist zu entstehen, zum Beispiel anhand von Filmen wie jenem, den ich vor einer Woche erwähnt habe mit der schönen Schauspielerin Emma Thompson. Eins aber ist gewiss: Auch hier beschränkt sich das Problem nicht auf die Frauen, obwohl die öffentliche Vorstellung von einigen Parade-Hengsten im Greisenalter bestimmt wird wie Julio Iglesias oder meinetwegen Silvio Berlusconi als Karikatur eines solchen Parade-Hengstes; in der Praxis handelt es sich um eine zwar sichtbare, aber verschwindend kleine Minderheit. Dagegen sind die Männer in heterosexuellen Paarbeziehungen in der Regel nach wie vor ein paar Jahre älter als die Frauen, was zusammen mit der längeren Lebenserwartung der Frauen dazu führt, dass sich hier tatsächlich eine Kohorte ausbildet im Umfang von, sagen wir mal einem Viertel der Menschen im Pensionsalter, welche in diesem Fall Gegenstand der erwähnten Abhandlung in der REISO wären.

Kein Recht auf eine Meinung, auf Sex und auf ein schönes Leben – vor allem der letzte Titel dünkt mich etwas hart. Was soll denn das heißen, ein schönes Leben im Alter? Das Alter ist eh geprägt vom zunehmenden Versagen der Systeme, welche den Menschen in seiner aktiven Zeit zusammengehalten und betrieben haben, was soll da überhaupt schön sein, mal unabhängig vom Geschlecht? – Aber ja, ich weiß es wohl, es gibt nach wie vor eine Fülle von Möglichkeiten des Genusses, vom Alterssex bis zur Patisserie zum Kaffee, nachmittags um drei Uhr, selbst­ver­ständlich, vor allem dann, wenn man seinen Frieden damit macht, dass man älter wird, also an Kraft und Ausdauer verliert. Dann geht das ganz wunderbar, im besten Fall kompensiert das Individuum diese Einbußen mit einer Zunahme an Einsichten und Gelassenheit, was auch nicht zu unterschätzen ist. Aber wiederum: Das beschlägt nicht einseitig die alten Frauen, davon sind auch die alten Männer betroffen, egal, ob weiß oder bunt.

Nun ja, der Artikel spricht, weise genug, nicht vom Recht auf eine Meinung, auf Sex und auf ein schönes Leben der alten Frauen als solchem, sondern von der öffentlichen Wahrnehmung dieser Bevölkerungsgruppe. Vermutlich geht es darum, auf die Rückkoppelung zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und dem Selbstverständnis der betroffenen Individuen einzuwirken, in dem Sinne, dass sie sich vielleicht doch noch trauen, endlich mal ihren ersten Banküberfall durchzuführen. Oder so ähnlich. Und insgesamt sieht man am Themenspektrum der Septemberausgabe der REISO, dass es eine Welt außerhalb des politischen Gerangels um Finanzierung im Sozialbereich und auch um Grundeinkommens-Debatten gibt, eine Welt, in welcher hunderte, ja tausende von kompetenten Menschen sich um Verbesserungen rund um das Wohlergehen der Menschen bemühen, und damit wohl auch der Menschheit als solcher.

Kommentare
23.09.2022 / 18:08 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
in sonar am 23.9..
Vielen Dank !