"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ein paar institutionelle Bemerkungen

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Der Nationalismus spielte bei der Entstehung der modernen Staaten eine zentrale Rolle, darüber kann kein Zweifel bestehen. Die einheitliche, landesweit gültige Gesetzgebung, die Institutionen zu ihrer Durchsetzung, aber auch die Dynamik zwischen verschiedenen und unterschiedlichen Regionen und Interessen fanden in diesem Prozess eine mehr oder weniger taugliche Gestalt.
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11:27 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 11.10.2022 / 20:54

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Kontakt: redaktion(at)radio-frei.de
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 11.10.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Nationalismus spielte bei der Entstehung der modernen Staaten eine zentrale Rolle, darüber kann kein Zweifel bestehen. Die einheitliche, landesweit gültige Gesetzgebung, die Institutionen zu ihrer Durchsetzung, aber auch die Dynamik zwischen verschiedenen und unterschiedlichen Regionen und Interessen fanden in diesem Prozess eine mehr oder weniger taugliche Gestalt. Die Industrialisierung fand im Rahmen der Nationalstaaten statt und war noch lange gekoppelt mit den militärischen Instrumenten zur Sicherung von Rohstoffen, zum Teil auch von Absatzmärkten im Rahmen von Kolonialismus und Imperialismus. Mit der Zeit untergrub die Industrialisierung aber die Grundlagen der nationalen Wirtschaft und schuf die globale Wirtschaft, in welcher wir uns heute bewegen. Nach wie vor wird um Rohstoffe und Absatzmärkte gekämpft, in der Regel nur indirekt mit militärischen Mitteln; abgesehen von allem anderen sind die Akteure unrettbar miteinander verschlungen, was eine richtig deftige Krise eigentlich verhindern sollte. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Die entwickelten Gesellschaften orientieren sich aber nach wie vor an nationalistischen Konzepten. Offenbar ist es sehr schmerzhaft, anerkannte gemeinsame Strukturen für die verschiedenen und unterschiedlichen Länder zu schaffen. Sie arbeiten zwar zusammen im Rahmen globaler und multilateraler Organisationen, aber die Schaffung staatlicher Standards, wie man sie für Industrie und Handwerk kennt, zum Beispiel mit der Durchsetzung des Kilogramms als Standard-Gewichtsmaß anstelle zum Beispiel von Unzen oder von Metern und Kilometern für Entfernungen und Ausmaße anstelle von Ellen oder Inches, die Schaffung solcher Standards für die modernen staatlichen Einrichtungen lässt auf sich warten. In Europa ist es die EU, welche die Plattform für die Standardisierung darstellt. Sie ist insofern schon rein grundsätzlich zu loben; dass sie ebenso grundsätzlich kritisiert wird, gehört zum Spiel, vor allem dort, wo die Kritik berechtigt ist, also vermutlich bei der Schwerfälligkeit und der Bürokratie und bei einer gewissen Abgehobenheit und Distanz von der Wirklichkeit in den Mitgliedländern. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sich diese Probleme in den letzten Jahren mit zunehmender Erfahrung abgeschwächt haben, dass also die nationalen Interessensgeometrien zunehmend von der EU-Politik berücksichtigt beziehungs­weise ungefähr so gegeneinander abgewogen werden, dass die betroffenen Gruppen nicht nur mit dem Zustand, sondern auch mit den Entscheidungsmechanismen zu leben gelernt haben.

Leider findet dies auf institutioneller Ebene in den Mitgliedländern kaum einen Ausdruck. Dies finde ich vor allem dort absurd, wo es um den Alltag geht, also zum Beispiel im Vertragsrecht. Für den Erwerb einer Dose Bier braucht es nun mal in Frankreich keine andere gesetzliche Grundlage als in Deutschland oder in Polen oder in Portugal. Es ist mir schon klar, dass eine Vereinheitlichung des ohnehin schon Einheitlichen nicht ein technokratischer Akt sein kann, sondern in der Überzeugung, im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sein muss; aber weshalb entsteht nicht bei Gelegenheit mal eine Bewegung, welche nicht nur genau dies zum Programm hat, also die Schaffung nicht eines Binnenmarktes in der Europäischen Union, sondern die Schaffung eines einheitlichen Rechts- und Lebensraumes? Die Unterschiede und regionalen Feinheiten würden dadurch mit Sicherheit nicht unterdrückt, sondern erst recht zur Blüte gebracht.

Es ist schon klar, dass nach wie vor erhebliche Unterschiede bestehen in zentralen Bereichen wie der Kaufkraft oder der Einrichtung des Sozialstaates. Der Sozialstaat seinerseits hängt markant davon ab, ob die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Steuern bezahlen und ob die Unternehmen ihren Steuersitz im Land haben oder in der Schweiz. Mit anderen Worten: Eine faktische Angleichung ist zunächst nur denkbar unter Staaten, welche funktionieren, im Gegensatz zum Beispiel zu Italien oder Griechenland, welche als Staaten nicht beziehungsweise gerade so knapp funktionieren, man könnte sagen: sie dysfunktionieren. Das heißt, falls man sich tatsächlich an die Vereinheitlichung zentraler Institutionen machen wollte, dass man sich möglicherweise zunächst auf eine ausgewählte Gruppe an Staaten konzentrieren müsste, welche dazu überhaupt in der Lage sind, sagen wir mal die skandinavischen Staaten und jene im Baltikum, Portugal, Spanien, Frankreich, die Benelux-Staaten, Deutschland und nach genaueren rechtsstaatlichen Abklärungen auch Polen, die Tschechei, die Slowakei, Slowenien und Kroatien. Das wären immerhin schon mal 19 Stück, also ein gewaltiges Gebilde, das im Falle eines Erfolges die übrigen Länder über kurz oder lang in seinen Bannkreis schlagen würde.

Noch vor dem Kaufkraft-Ausgleich eine Vereinheitlichung mindestens von Zivil- und Strafrecht – das wäre doch eine schöne Perspektive. Sie wäre verbunden mit einer gründlichen Revision der Gerichtsbarkeit, welche meines Wissens in allen Ländern seit Jahren überlastet ist und mit einer Strukturreform auf bessere Grundlagen gestellt werden könnte. Die sozialstaatlichen Mechanismen anzugleichen dürfte nicht so einfach sein, obwohl gerade sie dringend eine Modernisierung benötigen täten, aber bis hier vor allem die ideologischen Hürden genommen beziehungsweise jene filigranen Gebilde zerstört werden können, welche die Nationalstaaten im Zusammenwirken der Sozialpartner eingerichtet haben, braucht es wohl noch einiges mehr an Zeit.

Die wirtschaftlich-produktiven Grundlagen, nicht für eine Vereinheitlichung, sondern für ein allgemeines gutes Leben in Wohlstand und relativer Freiheit für jede Frau und jeden Mann sind in unseren Gesellschaften längstens vorhanden. Eine Auswirkung davon ist es unter anderem, dass sich die Bevölkerung nicht mehr um solche Fragen herum polarisieren muss. Die soziale oder sozialdemokratische Fragestellung existiert nicht mehr, beziehungsweise sie existiert nur noch als Theatervorführung für die Öffentlichkeit, als schönes Thema im Zirkus der Politik. Das soll man bekanntlich auch nicht unterschätzen, aber allzu viel Gedankenenergie sollte man darauf nicht mehr verschwenden. Selbstverständlich muss die nach wie vor zum Teil existierende Armut bekämpft werden, am liebsten mit Maßnahmen, welche sie zum Verschwinden bringen, aber weil dies den direkt Betroffenen nicht direkt hilft, halt auch mit den entsprechenden Mitteln zur Direkthilfe, das ist völlig klar; aber grundsätzlich sind wir im Kopfe frei, uns mit den erfreulicheren Dingen zu beschäftigen, welche uns eine grundsätzlich freie Zukunft in Aussicht stellt. Damit meine ich selbstverständlich ordentlich viel mehr als die Vereinheitlichung der staatlichen Institutionen im Rahmen der Europäischen Institution; diese Vereinheitlichung gehört eher zu den Rahmen­bedin­gun­gen. Aber solange man sich immer noch mit Fragen von Nationalismus und Identität herum schlägt, wird eben viel Energie absorbiert, die man gescheiter in gescheite Projekte investieren täte. Ich erlaube mir, stellvertretend für andere, deutlich gescheitere Vorschläge hier wieder einmal auf meinen alten Vorschlag zu verweisen, im Norden von Erfurt eine zwei bis drei Meter hohe Mauer, vielmehr einen Damm zu errichten, einerseits als Denkmal eben für neu gewonnene Freiheiten, anderseits als Bauwerk, das man mit zahlreichen nützlichen Nutzungen ausstatten kann, von der Rutschbahn über verschiedene Freizeitaktivitäten bis hin zu einer ganzen Reihe von Restaurations- und Kulturbetrieben. – Damit will ich nun wiederum keineswegs von jener Kulturinitiative ablenken, die Ihr ja tatsächlich schon an die Hand genommen habt mit dem KulturQuartier Schauspielhaus. Dafür auch an dieser Stelle wieder einmal meine allerherzlichste Gratulation; dieses Projekt zielt in absolut jeder Hinsicht in jene Richtung, von der ich dauernd spreche, wenn ich mich mit einer freien Zukunft beschäftige. Es können selbstverständlich auch andere Projekte sein, vielmehr: es werden selbstverständlich viel mehr Projekte dazu kommen, auch kommerzielle, es ist gar nichts dagegen einzuwenden, wenn aus der freien Zukunft ein richtiger Wirtschaftszweig entsteht mit ordentlich bezahlten Arbeitsverhältnissen und papipapo; vielleicht kommt auch das Kulturquartier mal in eine wirtschaftliche Lage, wo es über mehr Geld verfügt als gerade jetzt in der Gründungszeit.

Was ich bei diesen Überlegungen immer unterstelle, ist ein funktionierender, moderner Produktionsapparat. Wir befinden uns in einem Zeitalter gewaltiger Innovation auf derart zahlreichen Gebieten, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten daraus nicht im Ansatz zu schildern sind, derart umfassend ist das Ganze.

Trotzdem: Kreativität ist gefragt. Ansonsten sieht man im öffentlichen Bewusstsein und im politischen Leben zunehmend die Auflösung der traditionellen sozialdemokratischen Polarisierung beziehungsweise der sozialdemokratischen Versöhnung von Kapital und Proletariat, von großem Geld und breiter Bevölkerung; wo diese Fragmentierung hin führt, kann ich durchaus nicht sagen, weil dafür in meiner Reichweite keine vernünftigen Untersuchungen vorliegen. Eine Tendenz ist klar erkennbar, sie ist auch logisch, weil sie die Tendenz des geringsten Hirnschmalzes ist: Man greift zurück auf die herkömmlichen Themen und Denkmuster, also zum Beispiel auf die alten Schlager aus dem Klassenkampf, der übrigens schon vor der Zeit immer eine internationalistische Komponente enthielt, die in der Praxis allerdings oft eine Farce war, wenn man sich nur an die sozialistische Internationale der sozialdemokratischen Parteien erinnert. Auch dem Nationalismus kann man wieder frönen, vor allem in einer mit Konsumgütern chinesischer Herkunft ausgestatteten Umgebung. Es ist vieles möglich.

Ein Element aber wird die Beschäftigung mit der Zukunft vorderhand markant polarisieren, nämlich die Migration beziehungsweise die Abwehrreaktionen dagegen. Die Fremdenfeindlichkeit nimmt oft nicht dort zu, wo es den Menschen dreckig geht – das schafft eher Solidarität. Sie entwickelt sich dort am besten, wo die Menschen etwas zu verlieren haben auf der einen Seite, wo auf der anderen Seite die sozusagen wahren internen politischen Kämpfe bereits ausgefochten sind. Nicht nur in Italien haben sich in den letzten Jahrzehnten Regierungen verschiedener Herkunft und sämtlicher politischer Ausrichtungen als unfähig erwiesen, irgendeine Politik zu betreiben, welche nur schon mit den programmatischen Ankündigungen etwas zu tun hat. Da ist es nicht so ganz unerklärlich, dass sich auch die fortschrittlichen Staaten Skandinaviens eine fremdenfeindliche Komponente leisten.

Eine allgemein verständliche politische Reaktion auf den Migrationsdruck, der nun mal einfach besteht – wie sollte er angesichts der Diskrepanzen zwischen Nord und Süd und vor allem zwischen entwickelten und funktionierenden Staaten und nicht entwickelten und dysfunktionalen Staaten auch nicht bestehen –, habe ich schon verschiedentlich skizziert. Sie besteht zum einen in einer anständigen Integrationspolitik, die nicht in die Bildung von Ghettos führt, sondern eben zur richtigen Integration, mit einem Horizont von einer bis zwei Generationen. Zum anderen müssen die Länder Europas beziehungsweise die Europäische Union einen Außengürtel anlegen, welcher einen Teil des Migrationsdrucks abfängt, das heißt, sie müssen die Staaten am Südrand des Mittelmeers, vor allem die Maghreb-Staaten fördern auf allen Ebenen, zuerst wirtschaftlich, dann aber auch institutionell. Man sollte diese Frage so denken wie eine EU-Süderweiterung. Ob eine solche dann in der Praxis stattfinden kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab; aber die Bereitstellung von Wohlstand und guten wirtschaftlichen Aussichten ist nirgendwo derart aussichtsreich, weil die Bevölkerung danach lechzt, wie in Nordafrika.