„Es könnte der größte Schlag gegen Fundamentalismus und Despotie im Nahen und mittleren Osten sein“ - Interview mit Mohammad Nikfar (Chefredakteur Radio Zamaneh)

ID 118302
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Mohammad Reza Nikfar ist Chefredakteur beim persischsprachigen" Radio Zamaneh" („Leben“ bzw. „heutige Zeit“) in Amsterdam. In dieser Funktion landet jeden Tag eine enorme Fülle an Informationen von Bürgerjournalist*innen aus dem Iran auf seinem Schreibtisch. Außerdem ist er Doktor der Philosophie und Dozent für Politische Theorie am „Institute for Social Sciences and Humanities (Iran Academia)" in Den Haag. Wir haben uns detailliert über die Situation im iran unterhalten.
Das Interview wurde am 26.10. aufgezeichnet.
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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Politik/Info
Serie: Aktuell bei radioblau
Entstehung

AutorInnen: Balduin Bux
Radio: RadioBlau, Leipzig im www
Produktionsdatum: 28.10.2022
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2. Teil
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26:05 min, 36 MB, mp3
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3. Teil
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Skript
TEIL1

BB: Wie schätzt ihr die aktuellen Demonstrationen ein, sind das noch Proteste oder ist das schon eine Revolution?

MN: Wissen sie, erst am Ende eines umwälzenden Prozesses, können wir urteilen ob er als eine Revolution zu bezeichnen sei. Aber es gibt aber immer einige Zeichen die zeigen dass wir in Richtung einer Revolution gehen. Wir haben es mit einer verbreiteten Bewegung zu tun, die tiefe Wurzeln hat. Ihre Motive und Lösungen, die Lösungen ihrer Probleme, entspringen dem Rahmen der vorhandenen Ordnung. Deswegen können wir vom Beginn einer Revolution sprechen. Wir wissen aber, von der Theorie und Praxis der Revolution in der modernen Zeit, dass der Anfang einer Revolution nicht gleichbedeutend ist mit einer revolutionären Situation. Die entscheidende Phase ist da wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Ich glaube aber dass die, die da oben sind, noch ihre Macht beibehalten können. Deswegen ist das ein langer Prozess.

BB: Das ist ein sehr spannender Punkt, wenn ich darf würde ich an einer anderen Stelle die Frage nach der Stärke der Konterrevolution stellen. Wie würden Sie die Zusammensetzung der protestierenden Bevölkerung einschätzen, in sozialer, kultureller und auch ökonomischer Hinsicht? Damit verknüpft auch die Frage: Macht es überhaupt Sinn nach solchen strukturellen Eigenschaften zu fragen oder hat der Aufstand sich so verallgemeinert das nun, bis auf Ausnahme der regimetreuen Bevölkerung, "alle" teilnehmen?

MN: Die iranische Gesellschaft ist geprägt von verschiedenen Arten der Differenz. Sie ist vor allem eine Klassengesellschaft. Die Oberschicht genießt die Privilegien ihrer Verbindungen mit dem Regime. Deswegen können wir sagen: Wir haben es mit einem „politischen Kapitalismus“ zu tun. Was im heutigen Iran politisch ist drückt sich durch eine Frontstellung aus. Für oder gegen eine politische Theologie. Die Diskriminierung im Iran hat verschiedene Dimensionen; klassenbezogene, religiöse, sexuelle, kulturelle und regionale. Die Bewegung ist wie die Bewegung gegen die Apartheid. Sie ist ein Panorama der Szene. Im Westen, wenn man vom Iran spricht, spricht man mit ganz flachen Begriffen: ein Volk und ein fundamentalistischen Regime. Das ist kein genaues Bild. Wir müssen genauer auf die Differenzen sehen. Wenn wir die Differenzen sehen, dann können wir die Logik der Bewegung besser verstehen.

BB: Was meinen sie mit der „Logik der Bewegung“?

MN: Wir haben es mit einer Transformation zu tun. Diese Transformation hat wahrscheinlich verschiedene Phasen. Wir befinden uns jetzt in der ersten Phase. Das hat angefangen mit den Studenten und den jungen Schichten, der neuen Generation. Die nächste Phase hat eine bessere Verbindung zwischen der jetzigen Bewegung, dem Kampf der Arbeiterklasse und dem Aufstand der Peripherie. Wenn die Bewegung diese tiefen Wurzeln hervorbringen kann und Kraft von dieser tiefen Wurzel erhält, dann gehen wir in die zweite Phase. In dieser Phase ist das graue Spektrum entscheidend, das zwischen dem Regime und den aktiven Jugendlichen und Aktivisten liegt. Dort werden wir eine Art der Polarisierung sehen. Für oder gegen die Bewegung. Vielleicht sehen wir in dieser Phase eine Spaltung innerhalb des Regimes. Dann gehen wir in die nächste Phase. Diese Bewegung, diese Revolution ist viel komplizierter als die Revolution von 1979.

BB: Die Proteste gehen nun ja seit über 6 Wochen weiter und das unter großen Anstrengungen und Verlusten. Ich spreche von Ereignissen wie dem blutigen Freitag von Zahedan. Solche Massker scheinen zum Repertoire der Aufstandsbekämpfung zu gehören. Was kann eine Zivilgesellschaft denn gegen so viel Brutalität ausrichten?

MN: Die Situation kann noch gefährlicher werden. Der Unterdrückungsapparat ist noch nicht mit ganzer Kraft auf der Straße. Der Wille zum Widerstand gegen das Regime wächst. Trotzdem dürfen wir die Reaktionen des Regimes nicht unterschätzen. Bis jetzt sind mehr als 250 Leute, registriert, getötet worden. Darunter ungefähr 30 Kinder. Gerade jetzt, gerade heute, passiert viel mehr, besonders in Saqqez, eine Stadt in Kurdistan, die Geburtsstadt von Mahsa Amini. Auf jeden Fall haben wir eine lange harte Zeit vor uns.

BB: Es bleibt zu hoffen das so viele Menschen wie möglich unbeschadet durch diese Zeiten kommen. Wir wollen kurz über die Repressionsmöglichkeiten des Regimes zu sprechen. Besonders auch über die Gefängnisse, diese sind berüchtigt, wie zum Beispiel das Evin Gefängnis. Wie groß ist denn die Angst vor Masseninhaftierungen bis hin zu Massenhinrichtungen, wenn die Weltöffentlichkeit denn nicht mehr auf den Iran blicken sollte?

MN:Wissen sie, die moderne politische Geschichte Irans ist eng verbunden mit der Geschichte seiner Gefängnisse. „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ war einer der wichtigsten Motoren der Anti-Schah-Revolution von 1979. Ein Gefängnis wie Evin in Teheran hat eine kontinuierliche Geschichte. Das Gefängnis verbindet Khomeini mit dem Schah. Wir wissen noch nicht wie viele Menschen verhaftet wurden. Wir wissen aber dass die Zellen überfüllt sind. Von manchen Gefangenen fehlt jede Spur. Das heißt wir wissen nicht in welchem Folterhaus sie zur Zeit sind. Es gibt die Gefahr einer Massenhinrichtung. Nach dem islamischen Strafgesetzbuch ist jemand der gegen den islamischen Staat aufsteht gegen Gott aufgestanden. Nach dem Gesetz muss er getötet werden. Die Gefahr ist da.

BB: Was sind denn Möglichkeiten um die Personen in den Gefängnissen zu schützen? Ich hatte nur vom Aufstand der politischen Gefangenen in Evin gelesen. Viele Menschen sind dann vor das Gefängnis gegangen. Sind das adäquate Möglichkeiten um zu zeigen: „Wir sind hier und gucken da drauf?“

MN: Es ist so, es gibt eine Welle des Widerstands, organisiert von der Seite der Familien der politischen Gefangenen, um über die Lage der Gefangenen zu informieren. Fast jeden Tag gibt es Proteste und Versammlungen vor den Gefängnissen. „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ muss zu einem Hauptziel der Bewegung werden. Deswegen brauchen wir die Unterstützung der internationalen Menschenrechtsorganisationen. Viele potentielle Leader der Bewegung sitzen in den Gefängnissen. Wir haben festgestellt dass das Regime eine Liste vorbereitet hat, für die Aktivisten, Arbeiter, Lehrer und Lehrerinnen, Studenten, Journalisten; eine lange Liste. Sie haben den Großteil der Aktivisten verhaftet und jeden Tag erfahren wir neue Namen. Von manchen Aktivisten haben wir keine Ahnung wo sie zur Zeit sind. Sind sie verhaftet, sind sie nicht verhaftet? Das ist eine seltsame Situation.

TEIL 2

BB: Das klingt schrecklich so viel Ungewissheit zu haben. Informationen sind extrem wichtig um durch solche unübersichtlichen Situationen zu navigieren. Als Chefredakteur gehen ja jeden Tag viele Informationen über ihren Schreibtisch. Gab es in den letzten Tagen eine Meldung oder ein Ereignis dass Sie besonders berührt hat?

MN: Viele. Viele. Viele Ereignisse. Das heißt jeden Tag sind wir mit neuen Nachrichten konfrontiert. Das ist so: neue Meldungen über die Ermordeten, neue Meldungen über die verhafteten Personen und wir kennen viele dieser Verhafteten persönlich. Es sind unsere Freunde oder wir kennen die Person als Schriftsteller, als Künstler oder als gute Journalisten. Und wenn wir die Videos, oder die Bilder, anschauen ist das seltsam. Ich kenne diese Ecke. Ich war einmal da. Das ist so ein emotionaler Druck. Du bist nicht da aber Du bist ständig dort. Das ist die Situation von vielen iranischen Journalist*innen im Ausland.

BB: Sie haben die Situation von Journalist*innen angesprochen. Wie gefährlich ist den aktuell die Situation für Medienschaffende im Iran? Journalist*innen wie Elaheh Mohammadi und Nilufar Hammedi sind zwei von mindestens 41 inhaftierten Journalist*innen im Iran die inhaftiert sind. Können Sie etwas zur Lage von Medienschaffenden sagen?

MN: Es sind mehr als diese Liste. Jede Liste die fertig ist, ist schon veraltet. Wissen sie, die Bewegung läuft zur Zeit gleichzeitig in der realen und der virtuellen Welt. Das Regime versucht den Zugang zur virtuellen Welt zu sperren: sie blockieren das Internet und versuchen all diejenigen zu verhaften, die die Welt informieren. Das ist die Situation. Ich kenne viele Aktivisten und Journalisten die nicht in ihrem Zuhause oder bei ihren Eltern schlafen. Sie sind jeden Tag woanders. Das Regime versucht sie zu verhaften oder - und das ist interessant - ihre Mittel zur Berichterstattung wie Laptops oder Smartphones zu beschlagnahmen.

BB: Sehr spannend. Sie haben als Radio Zamaneh eine längere Tradition was die Berichterstattung aus dem Iran angeht. So haben Sie auch über die Proteste von 2009 berichtet. Wie hat sich ihre Arbeit seitdem verändert?

MN: Damals war es einfacher. Es ist besser die Situationen erst zu vergleichen. In vielen Hinsichten gibt es Gemeinsamkeiten. Damals war die Spaltung zwischen den Reformisten und den Hardlinern bestimmend für den Anfang und den Verlauf der Bewegung. Am Ende der sogenannten grünen Bewegung distanzierten sich viele junge Leute vom Reformflügel …

BB:.. also vom Lager von Mussawi. Diese Bewegung hatte sich um die Forderung nach einer fairen Wahl und ihrer Stimme für Mussawi organisiert…

MN: Ja genau! Die Stimme für Mussawi. Das Ziel war am Anfang eine gerechte Wahl, gegen die Korruption und die Bevölkerung war fast sicher das Moussavi der Gewinner der Wahl sei. Als das Regime Ahmadinedschad zum Sieger erklärte kam es zu einer Art Explosion. Die Jugendlichen hatten aktiv an dieser Bewegung teilgenommen. Am Ende wurden viele von ihnen enttäuscht. Und diese Enttäuschung von jedem Spiel im Rahmen der vorhandenen Ordnung, ist der Anfang der jetzigen Bewegung. Die jetzige Bewegung ist nicht für eine Fraktion oder eine Persönlichkeit innerhalb des Regimes. Sie ist gegen das ganze Regime. Das unterscheidet die Szenerie von damals. Damals waren die Verhältnisse ziemlich klar. Das Zentrum war Teheran und die großen Städte. Die Ziele waren klar. Jetzt ist es komplizierter. Wir haben es mit einer Bewegung zu tun die in die Richtung einer sozialen Revolution geht. Mindestens können wir sagen dass sie tiefe soziale Wurzeln hat. Damals war es mehr oder weniger eine politische Bewegung.

BB: Das hat bestimmt Folgen für die Zusammensetzung der Proteste, über die wir eingangs gesprochen haben. Wo liegt denn der Zusammenhang zwischen den jetzigen Protesten und den Protestwellen von 2017,2018-19 und 2021? Wo liegen Gemeinsamkeiten und wo vielleicht auch Unterschiede?

MN: Diese Protestwellen bringen offensichtlich arme Schichten in die Szene, nämlich die Protestwellen von 2017, 2018 und 2019. Was sie miteinander und mit der jetzigen Bewegung verbindet ist eine Kette von Protesten und Streiks der Arbeiter und Bauern, der Lehr- und der Gesundheitskräfte. Wir hatten ununterbrochen Demonstrationen im kleinen Format, oder auch Streiks. Im kleinen Format, aber wir hatten jede Woche etwas zu berichten. Über Demonstrationen von Arbeitern und Bauern, von Lehrern und Lehrerinnen, von den Krankenschwestern. Was wir sehen ist sehr interessant: ein quantitatives Wachstum von Problemen. Und andererseits: der Willen des Volkes zum Widerstand ist nun in eine neue Qualität umgeschlagen. Sehr interessant ist das der Anfang der neuen Phase ganz klar dem Rahmen der vorhandenen Ordnung entspringt. Es geht um die Frauenemanzipation. Von den letzten Protesten konnten wir sagen: sie wurden von ökonomischen Problemen verursacht. Die Demonstranten hatten ökonomische Forderungen. Wirtschaftliche Forderungen können auch innerhalb der vorhandenen Ordnung eine Lösung finden. Es geht jetzt aber um die Frauenemanzipation. Das ist ein Problem das jenseits der vorhandenen Ordnung liegt. Deswegen sehen wir das als ein Zeichen der Revolution.

BB: Vor diesem Hintergrund nun die Frage nach den Erfahrungen die Menschen mit dem System gemacht haben. Welche Rolle spielen denn junge Menschen die noch zu jung waren um 2009 an den Protesten teilzunehmen und jetzt die letzten 15-20 Jahre sozialisiert wurden?

MN: Wissen Sie, viele Beobachter interpretieren die Ereignisse im Iran mit Begriffen wie „Generation Z“. Sie sehen nur einen Aspekt der Realität, besser gesagt: ihre Oberfläche. Das Konzept der Generation braucht eine soziologische Präzisierung. Wenn wir dieses Konzept Generation als ein soziologisches nutzen, können wir die Ereignisse besser verstehen und von der Oberfläche weggehen und die Wurzel betrachten. Der Iran hat 84 millionen Einwohner. Ungefähr zwischen 4 und 4,5 millionen Studentinnen und Studenten. Das heißt für alle 20 Personen haben wir 1 Studenten. Diese junge Generation hat keine Perspektive. Wenn sie Absolventen sind, finden sie keinen Job. Viele denken an Migration. Viele finden einen Job aber sie können das Haus der Eltern nicht verlassen, weil sie kein Zimmer mieten können. Viele Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang von „middle class poor“. Diese arme Mittelklasse verbindet die Mittelklasse mit den armen Schichten. Das Potenzial ist da um eine Front zu bilden. Ich sage ausdrücklich das Potential, weil die Leute nicht gut organisiert sind. Sie können nicht durch ihre Organisationen miteinander diskutieren und eine Lösung für die Führerschaft der Bewegung finden. Die Bewegung ist geprägt von Spontanität. Es ist noch nicht klar in welche Richtung diese Spontanität geht. In manchen Städten sind die Aktivsten besser organisiert weil die Bevölkerung erfahren ist. Zum Beispiel in Kurdistan. In Kurdistan ist der Widerstand besser organisiert als im Vergleich zu anderen Städten. In Tehran, in den großen Universtitäten gibt es eine Tradition, eine ununterbrochene Tradition des Widerstandes. Aber in kleineren Städten und neueren Universitäten ist diese Tradition nicht vorhanden. Wir sehen aber in diesen Wochen eine Art Trainings- oder Lernprozess. Die Städte, Universitäten und Zentren lernen voneinander. Wir sehen eine Art Resonanz. Das ist so: an einer Stelle erklingt etwas, an einer anderen Stelle erklingt es dann noch stärker und stärker und stärker. Das ist ein sehr interessantes Phänomen, und wegen diesem Phänomen sprechen wir wahrscheinlich vom Anfang einer Revolution. Ja.

BB: Welche Rolle spielen Frauen und Männer die nun über 60 Jahre alt sind und die sogenannte islamische Revolution von 1979 noch miterlebt haben? Welche Rolle spielt die Aufarbeitung der damaligen Menschenrechtsverletzungen bzw. die Verarbeitung der Traumata für die Charakteristika der aktuellen Proteste?

MN: Das spielt eine sehr große Rolle. Wir müssen noch warten. Viele beurteilen nur die Oberfläche der Ereignisse in den Straßen. Sie sehen dort fast nur junge Leute: Studenten, Schüler, junge Frauen. Die bringen diese Emotionen mit nach Hause. Und von der älteren Generation lernen sie über die Geschichte. Diese Emotionen werden gemischt mit den Erfahrungen der älteren Generation und wir sehen dass die ältere Generation allmählich eine wichtigere Rolle spielt. Zum Beispiel letzte Woche. Die Schüler haben eine wichtige Rolle in den Straßen gespielt. Danach haben wir die Unterstützung von der Seite der Lehrkräfte gesehen. Der Streik der Lehrer. Unsere Beobachtungen und Berichte die wir aus dem Iran erhalten, zeigen alle dass diese Verbindung von bspw. Lehrern und Schülern oder Professoren und Studenten immer enger wird. Wir sehen den Anfang einer Bewegung von Seiten der Arbeiterklasse in Tabriz und im Süden; die Ölarbeiter organisieren sich. In Kurdistan beobachten wir die aktive Teilnahme der älteren Generation an den Protesten. An mehreren Tagen wurden die Geschäfte geschlossen. Heute zum Beispiel sind viele Geschäfte aus Protest geschlossen. Das ist ein Zeichen der Verbindung von allen Generationen. Ein Teil der älteren Generation ist natürlich enttäuscht von der Revolution gegen das Schah Regime. Nach der Revolution hatten wir acht Jahre Krieg. Diese Generation ist müde, das müssen wir verstehen. Aber wir sehen dass diese Müdigkeit allmählich überwunden wurde. Es gibt gute Anzeichen dafür dass diese Bewegung etwas neues mitbringt. Auf jeden Fall fühlen sich die Alten offen gegenüber den jungen Aktivisten.


TEIL 3
BB: Sie haben vorhin die Geschlossenheit der kurdischen Gebiete angesprochen. Wie wichtig sind die kurdischen Gebiete als Impulsgeber für die gesamten Proteste, gerade vor dem Hintergrund des Slogans „Frauen, Leben, Freiheit“ der als „Jin, Jiyan, Azadi“ von der kurdischen Bewegung schon länger benutzt wird?

MN: Unmittelbar nach der islamischen Revolution, konnten wir Kurdistan als Zentrum des Widerstandes gegen das neue Regime sehen. Wir hatten die Peshmerga Bewegung und eine kulturelle Bewegung in Kurdistan. Die Bewegung in Kurdistan ist geprägt von einer linken Kultur. In dieser linken Kultur war die Frauenemanzipation immer schon sehr wichtig. Wir sehen viele Frauen bei den Peshmerga-Organisationen. Die Städte haben eine lange Tradition von Bildung, NGOs und kulturellen Organisationen. In den letzten 20 Jahren kamen viele Umweltorganisationen dazu. Die Leute haben sich relativ gut organisiert im Vergleich zu anderen Orten. Und diese Identität als Kurde ist sehr wichtig. Die Kurden gehören mehrheitlich nicht zur schiitischen Richtung des Islams, sie sind Sunniten. Die Diskriminierung, diese Art von Apartheid in Kurdistan, war und ist sehr stark. Diese Situation macht Kurdistan zum Herz des Widerstandes.

BB: Vielen Dank für diese Einschätzung. Um nochmal einen Schritt zurückzugehen und über die Bedingungen der Proteste zu sprechen. Wie groß ist der Kontrast zwischen den Möglichkeiten der globalisierten Kommunikation und den, nunja, realen Möglichkeiten des Lebens in der islamischen Republik?

MN: Sehr groß. Das Internet ist das einzige richtige Fenster zur Außenwelt. Es gibt keine freie Presse und die ausländischen Nachrichtenagenturen haben kein Büro in Tehran. Deswegen ist das Internet sehr, sehr wichtig für uns. Die sogenannten Bürgerjournalisten bilden die wichtigste Informationsquelle für uns. Wenn wir vergleichen was vorhanden ist und was ist notwendig verstehen wir den Kontrast, dessen was du gesagt hast, besser.

BB: Als Radio Zamaneh haben Sie auch über die Proteste von 2009 berichtet. Wie hat sich ihre Arbeit denn seitdem verändert?

MN: Damals war die Benutzung vom Internet im Iran in ihrer ersten Phase. Damals gab es fast keine Smartphones, die erste Generation aber gab es bei den Jungen Leuten. Sie konnten Fotos schießen und uns diese Fotos per Email schicken. Das war der Anfang der sogenannten Blogger Bewegung. Es gibt internationale Studien die zeigen wie groß diese Bewegung war, besonders im Iran und im Vergleich zu anderen Ländern. Viele junge Leute, viele Studentinnen und Studenten waren Blogger. Diese Blogger haben über die Bewegung berichtet. Das war das Material für unsere Berichterstattung. Jetzt ist die Sache komplizierter, fast alle Leute haben Smartphones, sie schießen Fotos und sie schicken Videos und Audios. Wir haben es mit einer Menge an Informationen zu tun. Und das macht die Sache nicht einfacher. Das macht die Sache komplizierter. Fact checking! Die Flut dieser Informationen ist in mancher Hinsicht gefährlich. Wieso gefährlich? Weil die Realität ist nicht nur das was du als Bild oder Video siehst. Wir müssen immer aufpassen. Wir sagen zu uns immer: „Das ist ein Aspekt der Realität“. Die Realität ist immer mehr als das was du in den Bildern und Videos siehst. Deswegen brauchen wir eine kritische Reflexion. Wir müssen jede Art von Übetreibung vermeiden und was wir brauchen ist ein analytischer Kopf. Erst dann können wir das Material besser nutzen. Im Vergleich zu damals ist unsere Arbeit also komplizierter und härter geworden.

BB: Wenn ich an der Stelle noch nachfragen darf. Wie kann ich mir das vorstellen: wie verifizieren Sie Nachrichten und was tun Sie vielleicht auch um Informant*innen zu schützen?

MN: Bei uns sind einige gut ausgebildete Kollegen. Sie haben ein Training dafür erhalten. Es gibt verschiedene Methoden. Sie sichten die Nachrichten und Videos und gleichen es mit anderen Informationen ab. Zum Beispiel haben wir ein Video und die Leute behaupten es ist aus Shiraz aus dieser und jener Straße. Also beobachten wir das Video genau: die Straße, die Schilder. Danach versuchen wir diese Straße in Shiraz zu finden, über Google Maps oder über andere Möglichkeiten. Erst dann wenn wir sicher sind dass es diese Straße ist, und die Schilder zeigen dass es sich um diese eine Ecke handelt, dann müssen wir das Video mit anderen Videos und Nachrichten vergleichen. Wenn wir 2-3 sichere Punkte haben können wir dieses Video als Informationsquelle benutzen. Ein einziges Bild können wir nicht verwenden. Das ist eine harte Arbeit. Wir berichten jeden Tag. Wir haben einen langen Report über die Ereignisse von gestern Abend zum Beispiel heute um neun Uhr veröffetlicht. Die ganze Nacht haben 2-3 Leute daran gearbeitet. Diese Arbeit hat aber schon vorgestern angefangen. Das heißt ein Report, ein Gesamtbild, von einem einzigen Tag braucht die Arbeit von 6-7 Leuten die 24 Stunden arbeiten.

BB: Danke für den Einblick. Wie eingangs angedeutet, wollen wir auch auf die Stärke des Regimes bzw. die Stärke der Konterrevolution eingehen. Wie schätzen Sie die Größe und die Macht des Blocks der regimetreuen Bevölkerung im Iran ein? Damit verbunden: welche Rolle spielen Strukuren der Islamischen Republik, wie die Bassidji, für die Organisation von Loyalität und Gehorsam?

MN: Ganz kurz gesagt: zahlenmäßig sind sie nicht zu unterschätzen. Denken sie an eine Mischung von Privilegien und religiösen Gefühlen. Sie genießen einen Status und sie denken an sich selbst als Gottesdiener. Staatsdiener und Gottesdiener, dieses doppelte Gefühl macht sie stärker. In Deutschland kennen sie dieses Phänomen aus dem Faschismus. Der Widerstand der Regimetreuen wird, im Vergleich zu den Funktionären und Anhängern des Schah-Regimes, viel größer sein. Deswegen liegt eine lange harte Zeit vor uns.

BB: Ich finde das ist eine wichtige Betrachtungsweise. Der islamische Staat als Beutegemeinschaft. Sie haben das im Vergleich zum Nationalsozialismus in Deutschland angesprochen, da ging es ja auch um die Plünderung Europas und das Aufteilen der Beute.

MN: Ja genau.

BB: Sie meinten eingangs dass eine neue Phase der Revolution nur entstehen kann wenn sich Teile der Bevölkerung vom Regime ablösen. Haben die Proteste einen Einfluss auf die regimetreuen Milieus? Werden diese Milieus eher in ihrer Zustimmung zum Staat bestärkt oder gibt es auch dort Menschen die ihre Probleme mit der Situation haben?

MN: Wir haben die Erfahrung von anderen Ländern, zum Beispiel Chile und auch anderen Ländern die diese Transformation irgendwie erfahren haben. In der ersten Phase der Bewegung sehen wir dass es unter den Funktionären des Regimes einige Leute gibt die sagen: „Okay, wir müssen zuhören was diese Leute die protestieren sagen, vielleicht brauchen wir eine Art Reform“. In diesen Wochen haben einige angefangen die vorhandene Politik, die jetzige Sozialpolitik, des Regimes zu kritisieren und zu sagen: „Wir brauchen Verbesserung. Unsere Strategie, besonders den Frauen gegenüber, war falsch.“ Manche Professoren, regimetreue Professoren, manche Journalisten, Politiker, Abgeordnete sagen das. Wir nehmen das nicht ernst. Wir betrachten dass als Theater. Das ist die erste Phase. Wenn wir übergehen in die zweite Phase, diese intensivere Phase wenn die Bewegung sich intensiviert hat, werden die Leute des Regimes ihre Lage als gefährdeter wahrnehmen. Sie denken an ihre Zukunft. Die Spaltung wird größer und größer. Einige sagen wir müssen eine harte Linie verfolgen, einige sagen: „Nein das geht nicht. Das macht die Lage schlimmer. Was wir brauchen ist eine Art Reform.“ Dann sehen wir die Polarisierung in der grauen Stufe. Also dem Teil der Bevölkerung der sich bisher nicht entschieden hat. Einige gehen zu den Reformern. Andere gehen gegen das ganze Regime. In der nächsten Phase wird diese Spaltung größer. Das ist der wichtigste Punkt. Der jetzige Leader des Regimes, Khomenei, ist 83/84 Jahre alt. Wir wissen dass es innerhalb des Regimes eine heiße Diskussion über Nachfolger gibt. Diese Verbindung zwischen der Nachfolgeschaft des Führers und der Krise macht die Lage sehr interessant. Deswegen ist die Lage sehr kompliziert, es gibt viele verschiedene Faktoren.

BB: Und der Ausgang scheint bisher unklar zu sein …

MN: Ja.

BB: Wenn ich Sie um einen Ausblick bemühen darf. Welche Hoffnung haben Sie denn in der „heutigen Zeit“ für die Zukunft des Irans?

MN: Besser gesagt: Furcht und Hoffnung. Zittern und Hoffnung. Beides. Das wird nicht einfach sein. Es könnte der größte Schlag gegen Fundamentalismus und Despotie im Nahen und mittleren Osten sein. Es geht um die Frauenemanzipation, eine nie dagewesene Revolution gegen jegliche Art der Diskriminierung. Ob die neue Revolution alle ihre Aufgaben erfüllen kann ist noch nicht klar. Klar ist aber was zu tun ist. Was zu tun ist: eine freie und gerechte Gesellschaft aufzubauen.